10 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention:
Inklusion ist Heterogenität plus Solidarität

„Die UN-Behindertenrechtskonvention ist ein gutes Druckmittel, wenn es um die Durchsetzung legitimer Interessen behinderter Menschen geht“, sagt der blinde Rechtsreferendar Stephan E. „Unter Berufung auf die UN-BRK konnte beispielsweise die geplante Abschaffung des Scan-Service für seheingeschränkte Menschen an der Uni Göttingen rückgängig gemacht werden.“

Am 26. März 2009 ist die UN-Behindertenrechtskonvention in der Bundesrepublik in Kraft getreten. Dieses völkerrechtliche Übereinkommen birgt das Potential für gravierende Veränderungen nicht nur im Leben behinderter Menschen, sondern auch in der Entwicklung einer Gesellschaft, die behinderte Menschen selbstverständlich akzeptiert und als vollgültige Mitglieder behandelt.

Die Organisationen behinderter Menschen haben die Erarbeitung der UN-Konvention initiiert und maßgeblich an der Redaktionsarbeit mitgewirkt. Entstanden ist ein Dokument, das die Sicht der Menschen widerspiegelt, um deren Rechte es geht – hier ist ein Wendepunkt in der Wahrnehmung von Behinderung markiert.

Behinderung wird nicht mehr unter ausschließlich sozialpolitischen oder gar medizinischen Gesichtspunkten gesehen, sondern verstanden als Wechselwirkung von Beeinträchtigungen mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren. Folglich geht es der UN-BRK nicht darum, einen etwaigen Betreuungsaufwand abzudecken, sondern sie definiert Rechte und Ansprüche behinderter Menschen, zeigt damit gesellschaftlichen Reformbedarf auf und verpflichtet die Staaten zu konkretem Handeln.

Stephan E. betont: „Teilhabe ist ein toller Begriff, doch wichtig ist das Ergebnis. Ich will wie jeder andere meine Sachen machen, egal ob integriert, inkludiert … das Ergebnis zählt. Ein Defizit muss man ein Defizit nennen dürfen, ohne es zu beschönigen.“

Die Ratifizierung im Bundestag, die diese Konvention als innerstaatliches Recht in Kraft gesetzt hat, steht in einem merkwürdigen Kontrast zu ihrer Bedeutung: der Tagesordnungspunkt ist nach 22 Uhr eben nicht mehr verhandelt worden, da die Reden lediglich zu Protokoll gegeben wurden, bevor die 50 noch anwesenden Abgeordneten das Gesetz einstimmig beschlossen. Man könnte fragen, ob sie verstanden hatten, was sie verabschiedeten.

Wenn die Regelungen der UN-BRK angemessen verwirklicht werden sollen, hat das weitreichende gesellschaftliche Implikationen. Die Hilfe- und Versorgungsstruktur für behinderte Menschen in der Bundesrepublik entsprach bis zum 26. März 2009 dem alten fürsorgerischen oder gar medizinischen Verständnis von Behinderung; es geht um eine umfassende Reform. Ob die Aktionspläne, die seither erstellt, und die Maßnahmen, die ergriffen worden sind, diesem Anspruch gerecht werden können, hängt auch von der Bereitschaft ab, in eine solche Reform zu investieren.

Stephan E. ist da skeptisch: „Die Sozialbehörden auf Kommunal- und Landkreisebene müssen schneller werden. Sozialgerichtsverfahren dauern zu lange, daran scheitern mache Arbeitsplätze.“

Und der blinde Personalentwickler Markus E. ergänzt: „Es gibt viele gesetzliche Bestimmungen, welche den Weg der Inklusion stärken sollen, die aber nicht eingehalten werden.

Somit erfordert die UN-BRK letztlich nicht nur Maßnahmen des Bundes, sondern auch der Länder und Kommunen, und solche Maßnahmen kosten Geld. Wie Inklusion unter den Bedingungen der Schuldenbremse funktionieren soll, ist eine Frage, die selten gestellt wird, obwohl sie dringend geklärt werden müsste.

Einer der wichtigen Bereiche, in denen die Teilhabe behinderter Menschen sich verwirklicht oder eben nicht, ist das Arbeitsleben. Die UN-BRK erkennt das Recht von Menschen mit Behinderungen auf die Möglichkeit an, „den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, integrativen und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommen wird“.

Ob sich aus einer Möglichkeit auch eine reale Einlösung ergeben kann, darüber entscheiden die Gegebenheiten des Arbeitsmarktes – der aber ist selber exklusiv und darauf zugeschnitten, dass der Konkurrenzfähigste sich durchsetzt, dessen Arbeitsleistung am rentabelsten zu verwerten ist. Was Inklusion in einem Bereich bedeuten kann, der nicht so sehr juristisch als vielmehr marktwirtschaftlich bestimmt wird, ist eine ebenfalls nicht geklärte Frage.

Unbestreitbar ist, dass Teilhabe am Arbeitsleben für behinderte Menschen überhaupt nur möglich ist, wenn Barrierefreiheit gegeben ist. Die Umsetzung von Barrierefreiheit in der Bundesrepublik aber erfolgt nur punktuell und ohne flächendeckende Verbindlichkeit. Gesetzliche Vorgaben gibt es überwiegend im öffentlichen Sektor. Das macht es behinderten Menschen nicht leichter, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.

Die stark sehbehinderte Lehramtsreferendarin Isabel K. hat es so erlebt: „In den letzten Jahren wurde meine Teilhabe innerhalb meines Lehramtsstudiums an der Universität Hannover sehr eingeschränkt, da mir trotz belegter Blindheit kein ausreichender Nachteilsausgleich zugestanden wurde, sodass ich beispielsweise keine technischen Hilfsmittel in Klausuren verwenden durfte und diese auch nicht als mündliche Prüfungen ablegen konnte.“

Und Personalentwickler Markus E. ergänzt: „Immer mehr digitale Anwendungen sind nicht barrierefrei zugänglich, und das bei einem öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber. Das macht unsere unterschriebene Inklusionsvereinbarung zum zahnlosen Papiertiger.“

Auch werden etwa die Möglichkeiten behinderter Menschen, sich beruflich weiterzubilden, von vornherein dadurch begrenzt, dass es nur wenige barrierefreie Bildungsangebote gibt. Berufsfachliche Angebote berücksichtigen nur selten die Bedürfnisse behinderter Menschen, während das barrierefreie Angebot inhaltlich weitgehend auf behinderungsspezifische Themen ausgerichtet ist. Hier versucht das Projekt „Inklusive berufliche Bildung ohne Barrieren“ (kurz: iBoB) Abhilfe zu schaffen. Es wird durchgeführt vom Deutschen Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V. (DVBS) und berücksichtigt die Bedarfe sehbeeinträchtigter Menschen.

Hier wurden Kriterien erarbeitet, anhand derer Bildungsveranstaltungen und Lehrmaterialien nachprüfbar barrierefrei gestaltet werden können. Ein erstes Ergebnis ist eine Weiterbildungsplattform (https://weiterbildung.dvbs-online.de), auf der mittlerweile 15 Anbieter mit 139 barrierefreien Bildungsangeboten für blinde und sehbehinderte Menschen vertreten sind.