horus NR: 3 / 2014 - Medien im Wandel

Inhaltsverzeichnis

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Liebe Leserinnen und Leser, liebe Mitglieder,

Natürlich! Seit Erfindung der Keilschrift hat sich im Austausch von Informationen vieles verändert. Und damit meine ich nicht nur das Gewicht der Informationsträger. Was wir heute an Wissen dank unseres Smartphones in der Hosentasche herumtragen, dafür hätte damals ein Steinbruch nicht ausgereicht.

Aber eines ist auch klar: Nachdem wir uns entschieden hatten, Informationen nicht mehr nur verbal auszutauschen und zu überliefern, gibt es große Teile der Menschheit, die dadurch von Wissen ausgeschlossen sind. Im Mittelalter war nur der Klerus in der Lage zu lesen, das Entziffern der Majainschriften war nur herausgehobenen Personen möglich und dass blinde Menschen eine autonome Schriftsprache haben, ist auch erst 200 Jahre alt; Louis Braille sei Dank!

Und gedruckte Medien sind in der heutigen Zeit nur eine Form der Kommunikation und Information: Fernsehen, DVDs, E-Mails, das World Wide Web, Facebook, Twitter, Wikipedia, usw., usw.

Die Digitalisierung der Welt hat sicherlich für blinde und sehbehinderte Menschen eine Revolution bedeutet. Autonome Kommunikation und Information sind durch elektronische Hilfsmittel nun möglich. Vorbei die Zeiten, wo ich bei Klausuren darauf achten musste, dass beim Schreiben mit der Schreibmaschine das Farbband nicht ausging. Schreiben, korrigieren und das Geschriebene Anderer, die die Brailleschrift nicht beherrschen, dennoch auf der Braillezeile lesen zu können, ist heute eine Selbstverständlichkeit.

Aber die Digitalisierung ist nicht nur ein Segen. Die permanenten und zum Teil rasanten technischen Veränderungen sind für alle, die sich mit der Bereitstellung von Informationen für blinde und sehbehinderte Menschen befassen, eine große Herausforderung, damit sie nicht, wie in der Vergangenheit, zu den Ausgeschlossenen gehören.

Wie dieser Wandel zu bewältigen ist, dazu werden Sie in diesem horus Einiges lesen können und auch über das Abkommen von Marrakesch, einem besonderen Meilenstein für blinde und sehbehinderte Menschen. Ein Tor für eine Fülle von Medien hat sich geöffnet.

Bei der Frage nach der Zugänglichkeit von Medien sollte man aber nicht vergessen, dass es immer noch vor allem auf den Inhalt der Informationen ankommt. Davon hoffen wir, Ihnen viel im horus zu bieten; egal mit welchen Medien Sie diese Ausgabe konsumieren.

Ihr

Claus Duncker


Inhaltsübersicht

Inhaltsübersicht

horus 3/2014, Jg. 76

"Medien im Wandel"

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In eigener Sache

Schwerpunkt: "Medien im Wandel"

  • Dominique Pleimling_ Social Reading - Lesen im digitalen Zeitalter
  • Simon Kuhlmann: Eine Geschichte mit Medien im Wandel der Zeit
  • Andrea Katemann: Mediale Versorgung
  • Wolfgang Angermann: Der Vertrag von Marrakesch
  • Wilhelm Gerike: Im Blindflug
  • Nils Prause: Der Teufel steckt im Detail
  • Thorsten Büchner: "Hunger nach zugänglicher Literatur"
  • Die Blindenbibliotheken stehen vor Herausforderungen
  • Heinz Mehrlich: Neue Medien, Herausforderung und Chancen für Sehbehinderte

Bildung und Wissenschaft

  • Dr. Heinz Willi Bach: Blinde Menschen im Erwerbsleben (Teil I)
  • Dino Capovilla: So einfach funktioniert Inklusion nicht
  • Dr. Imke Troltenier: Unterstützung für blinde und sehbehinderte Menschen beim (Wieder-)Einstieg in Ausbildung, Beruf und Existenzgründung
  • Marburg erhält Kompetenzzentrum für Blindenpädagogik

Recht

  • "Österreich auf dem richtigen Weg
  • Dr. Michael Richter: "Mit etwas gutem Willen"

Bücher

  • Sabine Hahn: Hörtipp
  • "Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser"
  • Dr. Imke Troltenier: Kurt Jacobs: Respektvolle Begegnungen
  • Savo Ivanic: Buchtipps aus der blista

Panorama

  • Schnupperstudium "Studieren mit Behinderung/chronischer Krankhett" an der TU Dortmund
  • Theresia Degner wiedergewählt
  • Woche des Sehens: Kostenlose Materialpakete bestellen
  • Bahn muss barrierefrei über Verspätung und Zugausfall informieren

Barrierefreiheit und Mobilität

  • Jochen Schäfer: Inklusiv, informativ, interaktiv - SLANG Radio ist für alle da
  • Mobilität mit dem Führhund

Berichte und Schilderungen

  • Andrea Weitzel: Zeitenwende - vom Leben nach der blista

Aus der Arbeit des DVBS

  • Uwe Boysen: Einige Gedanken zur Zukunft des DVBS
  • Christina Muth: Rückschau und Ausblicke
  • Facebook-Auftritt DVBS
  • Terminvorschau
  • Chorwoche 2015

Aus der blista

  • Prüfungen an der Carl-Strehl-Schule der Deutschen Blindenstudienanstalt
  • "RehaFair"-blista-EDV-Ausstellung 2014

Impressum


Impressum

Impressum

Herausgeber: Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V. (DVBS) und Deutsche Blindenstudienanstalt e.V. (blista)

Redaktion: DVBS (Uwe Boysen, Andrea Katemann und Christina Muth) und blista (Isabella Brawata, Thorsten Büchner, Rudi Ullrich und Marika Winkel)

Koordination: Christina Muth, Geschäftsstelle des DVBS, Frauenbergstraße 8, 35039 Marburg, Telefon: 06421 94888-13, Fax: 06421 94888-10, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, Internet: www.dvbs-online.de

Beiträge und Bildmaterial schicken Sie bitte ausschließlich an die Geschäftsstelle des DVBS, Redaktion. Wenn Ihre Einsendungen bereits in anderen Zeitschriften veröffentlicht wurden oder für eine Veröffentlichung vorgesehen sind, so geben Sie dies bitte an. Nachdruck - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung der Redaktion.

Verantwortlich im Sinne des Presserechts (V. i. S. d. P.): Uwe Boysen (DVBS) und Rudi Ullrich (blista)

Erscheinungsweise: Der "horus" erscheint alle drei Monate in Blindenschrift, in Schwarzschrift und auf einer CD-ROM, die die DAISY-Aufsprache, eine HTML-Version und die Braille-, RTF- und PDF-Dateien enthält.

Jahresbezugspreis: 22 Euro (zuzüglich Versandkosten) für die Schwarzschriftausgabe, 35 Euro für alle übrigen Ausgaben. Die Kündigungsfrist beträgt sechs Wochen zum Ende eines Kalenderjahres. Für Mitglieder des DVBS ist der Bezug im Jahresbeitrag enthalten.

Bankkonten des DVBS: Sparkasse Marburg-Biedenkopf IBAN: DE42 5335 0000 0000 0002 80 (BIC: HELADEF1MAR) - Postbank Frankfurt (für Überweisungen aus dem nicht-europäischen Ausland), IBAN: DE95 5001 0060 0149 9496 07 (BIC: PBNKDEFFXXX)

Verlag: Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V., Marburg, ISSN 0724-7389, Jahrgang 76

Punktschriftdruck: Deutsche Blindenstudienanstalt e. V., Marburg

Digitalisierung und Aufsprache: Geschäftsstelle des DVBS, Marburg

Schwarzschrift-Druck: Druckerei Schröder, 35081 Wetter/Hessen

Die Herausgabe der Zeitschrift "horus" wird vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband aus Mitteln der "Glücksspirale" unterstützt.

Titelbild: Medien im WandelFoto: Margret Gerike/DVBS

Nächste Ausgabe (horus 4/2014): Schwerpunktthema: Der Umgang mit Hilfe, Erscheinungstermin: 24. November 2014, Anzeigenannahmeschluss: 24. Oktober 2014, Redaktionsschluss: 30. September 2014


In eigener Sache

In eigener Sache

Jubiläumsjahr 2016

Noch ist das Jahr 2014 "in vollem Gange", doch die Zeit lässt sich nicht aufhalten, und das Jubiläumsjahr 2016 rückt näher. In diesem Jahr feiern blista und DVBS ihr 100-jähriges Bestehen, und schon jetzt laufen die Planungen. Gemeinsam mit dem DBSV wird die blista vom 1. bis 3. Juli 2016 das Louis Braille Festival nach Marburg holen: Drei Tage lang wird im Jubiläumsjahr mit blinden, sehbehinderten und sehenden Menschen in der Universitätsstadt an der Lahn gefeiert. Für März sind Aktionen des DVBS geplant, und im September richten die Jubilare einen gemeinsamen Festakt in Marburg aus. Über Veranstaltungen und alle weiteren Planungen, die für das Jubiläumsjahr geplant sind, wird natürlich in den kommenden horus-Ausgaben berichtet.

Der Umgang mit Hilfe

Am 24. November 2014 erscheint die nächste horus-Ausgabe mit dem Schwerpunktthema "Der Umgang mit Hilfe". Waren auch Sie als blinder oder sehbehinderter Mensch schon einmal in der Situation, Hilfe zu benötigen? Vielleicht können Sie über besonders gute Hilfsangebote berichten - oder gab es Augenblicke, die sie rückblickend schmunzeln lassen? Wie gehen Sie mit dem Thema Hilfe im Alltag um? Wenn Sie einen Beitrag zum nächsten Heft beisteuern möchten, können Sie Ihre Texte gerne wie gewohnt per E-Mail an die horus-Redaktion schicken: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!. Redaktionsschluss ist der 30. September 2014.

Berichte für den Schwerpunkt können bis zu 10.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) lang sein, allgemeine Berichte bis zu 4.000 Zeichen. Kürzere Meldungen sollten eine Länge von 2.000 Zeichen nicht überschreiten.


Schwerpunkt: Medien im Wandel

Social Reading - Lesen im digitalen Zeitalter

Das Lesen von Büchern ist eine einsame Beschäftigung. Es erfordert Muße, Ruhe und Zeit, was sich auch an den Metaphern zeigt, die gemeinhin mit Lesen in Verbindung gebracht werden: Ich kann in einem Buch versinken, mich darin vertiefen, in die Geschichte eintauchen. Doch der solitäre Lesevorgang wird zunehmend durch Möglichkeiten der Interaktion und Kommunikation aufgebrochen, wie sie das Internet bereitstellt.

Zwei Entwicklungen, die nicht nur die Buchbranche, sondern alle Medienunternehmen erfasst haben, kulminieren bei diesem Vorgang des vernetzten Lesens: die Digitalisierung von Medieninhalten, in diesem Fall Bücher, und die Entstehung des social web, das es allen Internet-Nutzerinnen und -Nutzern ermöglicht, content zu schaffen und diesen mit anderen zu teilen, zusammenzuarbeiten und in Netzwerken zu kommunizieren. Digitale Texte können öffentlich gelesen, kommentiert und diskutiert werden; das Lesen von Büchern wird zu einem sozialen Prozess, für den sich mittlerweile der Begriff social reading durchgesetzt hat. Unter social reading wird im Folgenden verstanden: Ein online geführter, intensiver und dauerhafter Austausch über Texte. Diese knappe Definition ermöglicht es, den Begriff von ähnlich gelagerten Phänomenen abzugrenzen, während er für zukünftige technische Innovationen offen bleibt.[1]

Social reading in seiner heutigen Ausgestaltung hat verschiedene analoge und digitale Verwandte: Die zwei wichtigsten sind book clubs und Online-Communities. Ganz ohne Internet und unter Ausschluss einer breiten Öffentlichkeit wird Literatur in Lesekreisen verhandelt - vor allem in den USA haben diese book clubs eine nicht zu unterschätzende Wirkung für die Rezeption von Texten. Hier trifft sich eine bestimmte Gruppe von Menschen, um über ein Buch, das im besten Fall alle Teilnehmer gelesen haben, zu diskutieren.[2] Diese Gespräche werden in den seltensten Fällen dokumentiert und weiterverbreitet, sie werden - ebenso wenig wie die beiläufigen Gespräche über Bücher beim Abendessen, auf einer Zugfahrt und in unzähligen weiteren Alltagssituationen - nicht Teil eines breiteren Diskurses.

Im Internet finden Gespräche über Bücher überall dort statt, wo Menschen miteinander in Kontakt treten: in Foren, Blogs, sozialen Netzwerken und Ähnlichem. Der Austausch ist hier zumeist unstrukturierter als in Lesekreisen und geht selten über ein bloßes Bewerten des Gelesenen hinaus. Er steht aber im Gegensatz zu diesen meistens einer breiteren Gruppe von Menschen offen, die zudem ohne Rücksicht auf Raum (also lokal ungebunden) und Zeit (es gibt keine konkreten Termine und Treffen) kommunizieren können. Auch bleiben die Äußerungen der Beteiligten erhalten, sie werden sozusagen im Netz gespeichert - wobei die mangelnde Struktur diese theoretische Dauerhaftigkeit beziehungsweise Persistenz wieder weitestgehend negiert.

Lesen in der virtuellen Gemeinschaft

Social reading in der oben genannten Definition findet vielmehr in thematisch fokussierten Foren und Communities statt. Diese eröffnen den Nutzern die Möglichkeit, auch tiefer gehend und über längere Zeit hinweg über einen oder mehrere Texte zu sprechen. Durch die spezifische Foren- beziehungsweise Ordnerstruktur sind diese Einlassungen auch später noch nachzuvollziehen und damit in persistenter Form vorhanden.

In diesen speziellen Leser-Communities können die Nutzer darüber hinaus ihr individuelles Leseverhalten dokumentieren, ihre Markierungen, Annotationen und Zitate teilen und das Gelesene bewerten. Mit zehn Millionen Mitgliedern und 360 Millionen katalogisierten Büchern ist die amerikanische Seite "goodreads.com" die größte Plattform für social reading. Neben den oben genannten Funktionen wird Goodreads auch intensiv für Gespräche über Bücher genutzt: So finden sich alleine zum siebten Band von "Harry Potter" knapp 350 verschiedene Themen, die von den Leserinnen und Lesern zur Diskussion gestellt werden, und über 2.200 topics, in denen auf besagtes Buch Bezug genommen wird. Die Beteiligung liegt zwischen einem und 500 Kommentaren zu dem jeweiligen Punkt, die Bandbreite der Themen umfasst vom Austausch über den Plot, die Verfilmung, die Autorin Joanne K. Rowling, Songs zu Harry Potter bis hin zur sexuellen Orientierung des Zauberers Dumbledore und dem Online-Portal "pottermore.com" jedes vorstellbare Detail.

Auch die deutsche Community Lovely Books bietet vergleichbare Funktionen an und bringt Buchliebhaber miteinander ins Gespräch. Diese Services sind für den Nutzer zwar kostenlos, aber dahinter stecken natürlich ausgefeilte Geschäftsmodelle: Verlage können Anzeigen schalten, um für ihre Novitäten zu werben, und darüber hinaus auch Aktionen buchen, die zumeist mit dem gemeinsamen Lesen und Diskutieren eines bestimmten Buches verbunden sind. In sogenannten Testleserunden tauschen sich Mitglieder der Community, die ausgewählt beziehungsweise ausgelost wurden und ein Gratisexemplar des Buches durch den Verlag erhalten haben, über das Werk aus und schreiben abschließend eine Rezension. Der Verlag erhofft sich dadurch ein gewisses mediales Grundrauschen, einen buzz, und bestenfalls die virale Verbreitung möglichst positiver Äußerungen über sein Buch. Die simple Kopierbarkeit von Inhalten ermöglicht es den Lesern, ihre Meinungen auf verschiedenen Portalen zu veröffentlichen und auf Amazon, Facebook, Twitter, in ihren Blogs und anderswo zu posten - diese Netzwerkeffekte macht sich der Verlag zunutze, die Community dient hierbei sozusagen als Katalysator.

Im Idealfall bringt dies für alle Beteiligten Vorteile mit sich, indem der Leser Gleichgesinnte findet und sich mit diesen austauscht, der Verlag einen kommunikativen Raum für das zu bewerbende Buch öffnet und der Betreiber der Community (im Falle von Lovely Books die Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck, zu der unter anderem der Rowohlt und der S. Fischer Verlag gehören) für das Vermitteln der Leser, die Bereitstellung der Plattform und die Moderation der Testleserunden durch einen Community-Manager entlohnt wird.

Weitere Formen der Monetarisierung sind denkbar: E-Books können mit unterschiedlichen Preismodellen verkauft werden - als ganz normale Textvariante, mit einer eingebauten "Standleitung" zum Autor, der Fragen beantwortet,[3] oder mit exklusiven Leserunden, bei denen der Autor mittels eines Videostreams zu einem bestimmten Termin sozusagen aus dem E-Book heraus mit dem Leser oder einem book club kommuniziert.

Die beschriebenen Netzwerke übertragen das analoge Phänomen der Lesekreise und book clubs in die digitale Welt mit ihren sämtlichen Möglichkeiten, allen voran die Unabhängigkeit von zeitlichen und räumlichen Begrenzungen. Ein wirklich neuartiges Lesen und Sprechen über das Gelesene stellen sie allerdings nicht dar.

Bücher in Browsern

Spannender sind innovative Formen des social reading, die den Lesevorgang mit der Diskussion über Literatur verschmelzen. Das Berliner Start-up-Unternehmen Readmill antwortet auf die Frage "Why make a book digital and not make it shareable?" mit einer interaktiven Leseoberfläche als App, die das einfache Markieren von bestimmten Textpassagen erlaubt. Diese Markierungen sind für alle anderen Nutzer der Plattform sichtbar, sie können wahlweise ein- und ausgeblendet und natürlich auch in sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter geteilt werden. Im Unterschied zu den oben genannten Communities ist hier also ein synchroner Austausch über das Gelesene möglich - direkt nach dem Lesen eines Satzes oder eines bestimmten Abschnitts können Anmerkungen verfasst oder die Notizen anderer Leser kommentiert werden. Theoretisch ermöglicht Readmill also Diskussionen anhand konkreter Textstellen, das gemeinsame diskursive Durchdringen von Literatur auf Wort- und Satzebene. In der Praxis sind diese intensiven Gespräche aber noch die Ausnahme.

Wie ein Ausschöpfen der aus den technischen Gegebenheiten resultierenden kommunikativen Möglichkeiten aussehen könnte, hat Bob Stein - Gründer des New Yorker Institute for the Future of the Book - anhand von Doris Lessings Buch "The Golden Notebook" demonstriert: Der komplette Text ist im Browser abrufbar und wurde von November 2008 bis Februar 2009 von sieben Journalistinnen, Kritikerinnen und Autorinnen gemeinsam gelesen.[4] Die Anmerkungen der Leserinnen wurden dabei neben den einzelnen Seiten angezeigt und beziehen sich direkt auf diese. Es entspannen sich Diskussionen zum gerade Gelesenen, die bis zu 20 Kommentare pro Seite umfassen und beispielsweise Lessings Darstellung von Männer-Stereotypen thematisieren. Konkrete Textstellen werden diskursiv erfahrbar und die neu entstehenden Texte, sogenannte Paratexte,[5] treten mit dem eigentlichen literarischen Text in eine dauerhafte Verbindung - sie sind auch heute noch online. Für den geneigten Leser verändern sie die Rezeption, regen zum weiteren Nachdenken, zur Zustimmung oder zur Ablehnung an. Sie erweitern, um mit dem Philosophen Paul Ricœur zu sprechen, die Welt des Textes und die des Lesers gleichermaßen.

Auch der Autor des diskutierten Werkes kann sich über die Reaktionen auf seinen Text informieren oder sich sogar aktiv an dem Gespräch beteiligen - hier eröffnet social reading eine direkte Verbindung zwischen Verfasser und Leser. All diese neu entstehenden Paratexte bereichern das Buch, sie zeigen vielfältige Interpretationen auf, dokumentieren seine individuell-subjektive Rezeption, geben dem Autor (oder auch dem Lektor) auch nach Erscheinen des Buches eine Stimme.

Die Frage nach der Qualität dieser Diskussionen und dem Grad der Beteiligung ist müßig, das Internet ist keine eigenständige Sphäre, die anderen Regeln folgt als die "Offline-Welt" (vielmehr verschwimmen die Grenzen zwischen ihnen). Ebenso wie sich im "echten Leben" nur relativ wenige Menschen in Literaturkreisen intensiv mit Büchern auseinandersetzen, wird dies auch im Virtuellen nur eine Minderheit von Lesern tun. Durch die Unabhängigkeit von Zeit und Raum eröffnet das Internet aber gerade für sie die Möglichkeit, Gleichgesinnte zu finden und mit diesen zu kommunizieren. Da dieser Austausch zumeist öffentlich stattfindet, kann die "schweigende Mehrheit" bei Bedarf und ad hoc Diskussionen zu bestimmten Büchern verfolgen.

Gläserner Leser

Doch nicht alles ist schön in dieser neuen Bücherwelt. Große Verlage und Buchhändler beobachten die Leser ebenfalls mit Interesse und verstehen social reading auf eine etwas andere Weise. Während man gemütlich mit dem E-Book-Reader ein Buch liest, schauen einem diese Unternehmen über die Schulter - und zeichnen alles auf: "Your E-Book Is Reading You", wie das "Wall Street Journal" treffenderweise schrieb.[6] Die Daten geben ein genaues Abbild des individuellen Leseverhaltens wieder und lassen in der Summe bestimmte Trends und Tendenzen erkennen: Wie lange braucht der durchschnittliche Leser für "Shades of Grey", welche Kapitel überspringt er in "Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?", welche Begriffe sucht er besonders häufig im Spanien-Reiseführer?

Mit diesen und weiteren Informationen entstehen ganze Leserbiografien, Landkarten literarischer Vorlieben und Abneigungen, die alle einem Zweck dienen: der besseren Kenntnis des Kunden, einer genaueren Vorstellung der anvisierten Zielgruppen und damit schlussendlich passgenaueren Angeboten und Werbung, die den Umsatz ankurbeln sollen. Big data ist hier das Schlagwort, der gläserne Leser die Voraussetzung. Die Erkenntnis, dass lange Sachbücher selten zu Ende gelesen werden, hat bereits zu neuen Produkten wie etwa den nook snaps geführt - in Deutschland verlegen unter anderem Suhrkamp (Edition Suhrkamp Digital) oder Campus (Keynote) Mini-E-Books zu verschiedenen aktuellen Themen wie Fukushima, der Occupy-Bewegung oder der Euro-Krise.

Inwieweit die entstehenden Datenberge aber wirklich die Buchwelt umkrempeln, ist schwer abzusehen. Gerade Amazon, der Buchhandelsgigant, der zunehmend auch als Verlag agiert, könnte über die Häufung bestimmter Suchbegriffe oder markierter Stellen ein verstärktes Interesse an bestimmten Themen registrieren und Bücher dazu lancieren - vor allem im Sachbuch- und Ratgeberbereich liegt dies im Bereich des Vorstellbaren. Dies geht einher mit dem Phänomen der mass customization, die es dem Nutzer ermöglicht, Bücher online zu kreieren und zu bestellen - hierzulande beispielsweise vom Münchner Verlag Gräfe & Unzer oder auch von Dr. Oetker realisiert, die individualisierte Kochbücher drucken.[7]

Die Möglichkeiten für die Belletristik sind allerdings eingeschränkt: Dass ein literarischer Autor sein Buch überarbeitet, weil im sechsten Kapitel 67,9 Prozent der Leser einige Seiten überspringen, scheint eher unwahrscheinlich. In Bezug auf Klassiker kündigte Jonathan Galassi, Verleger von Farrar, Straus & Giroux, bereits an: "We"re not going to shorten "War and Peace" because someone didn"t finish it."[8]

Spannender als die entstehenden Möglichkeiten für Schriftsteller sind eher die neuen Geschäftsmodelle der Datensammler, die mit dem stark wachsenden Segment der ohne Verlag publizierenden Autoren, self publisher genannt, Geld verdienen wollen. So erfährt der interessierte Autor/Verleger bei Hiptype, dem amerikanischen Anbieter von data-driven publishing, dass der durchschnittliche Bestseller 375 Seiten umfasst, eine weibliche Hauptfigur hat, ein romantisches Sujet behandelt und 3,99 US-Dollar kostet.[9] Für individuelle Datenanalysen berechnet Hiptype ab 20 US-Dollar im Monat.

Die Leser bekommen einen Ausschnitt der gesammelten Daten zu sehen. Die beliebtesten Markierungen von Nutzern des Amazon-Lesegeräts Kindle werden bei Amazon in anonymisierter Form angezeigt. So kann man besonders wichtige oder eindrückliche (sofern man der Schwarmintelligenz vertraut) Zitate finden und sich diese auch während der Lektüre auf seinem E-Reader anzeigen lassen. Diese Option stellt aber ein bloßes Gimmick dar und dient nicht der Diskussion und dem Austausch wie etwa bei Readmill, vielmehr trägt das "frisch gekaufte Buch (…) schon die Spuren früherer Leser, so wie schlecht behandelte Bände aus der Bibliothek".[10] 19 der 25 häufigsten Markierungen stammen dabei aus der "Tribute von Panem"-Trilogie, während die Bibel das Buch mit den meisten virtuellen Unterstreichungen ist.[11]

Auch der kanadische Amazon-Konkurrent Kobo bietet ähnliche Möglichkeiten, legt aber einen stärkeren Schwerpunkt auf Vernetzung und Interaktion mit seinen Angeboten Reading Life und Kobo Pulse. Darüber hinaus wird das Lesen durch Spielelemente angereichert (gamification): Für durchlesene Nächte, möglichst viele abgeschlossene Lektüren oder auch das Lesen zur Frühstückszeit wird man mit virtuellen Abzeichen belohnt und kann sich so mit seinen Freunden messen.[12]

Die Erfahrungen mit sozialen Netzwerken, die immer stärkere Nutzung von Cloud-Diensten (Datenspeicherung im Internet) und die soziale Anreicherung von Google-Suchergebnissen lassen einen Proteststurm gegen die Nutzung der gesammelten Daten durch Buchhändler und Verleger unwahrscheinlich erscheinen. Wenn ohnehin schon private Fotos in Facebook auftauchen, die Sicherung wichtiger Dokumente in Dropbox[13] geschieht, Bankgeschäfte online getätigt werden und cookies persönliche Bewegungsprofile im Internet aufzeichnen, wird die Überwachung des eigenen Leseverhaltens eher keinen allzu großen Unmut hervorrufen.

Vielmehr rückt vor allem ein anderes Element, das den Konsum von E-Books reguliert, immer mehr in den Mittelpunkt der Kritik: der Kopierschutz. Eigentlich soll das sogenannte Digital Rights Management (DRM) die illegale Verbreitung von virtuellen Gütern mittels Tauschbörsen und ähnlichen Angeboten verhindern - unerwünschte Nebeneffekte sind aber die erschwerte Nutzung durch technisch weniger versierte Nutzer und auch die Einschränkung von Community-basierten Social-reading-Angeboten. Offene Plattformen wie Readmill können nur mit einem E-Book ohne DRM sinnvoll genutzt werden - kopiergeschützte Bücher sind hingegen in ihrem jeweiligen Apple-, Amazon- oder Adobe-Ökosystem gefangen. Hier steht ein Austarierungsprozess zwischen der berechtigten Sorge der Rechteinhaber vor Piraterie und den Interessen der Leser erst am Anfang.[14]

Social Reading in Wissenschaft und Bildung

Communities wie Lovely Books und Goodreads, Plattformen und dazugehörende Lese-Apps wie Readmill und die eher subkutan verlaufende Protokollierung von Millionen weltweiter Lesevorgänge: Egal wie social reading auch immer ausgestaltet ist, sowohl die freiwillig veröffentlichten als auch die von Unternehmen aufgezeichneten Daten bieten Wissenschaftlern reiches Material. Mit kommunikationssoziologischem Blick kann das Rezeptionsverhalten einer großen Anzahl von Lesern untersucht werden, Literaturwissenschaftlern bieten sich neue Einblicke in Leser-Leser- und Autor-Leser-Interaktionen und - eine langfristige Archivierung und Kompatibilität der Daten vorausgesetzt - auch für Historiker und Kulturwissenschaftler eröffnen sich vielfältige Möglichkeiten.

Ähnlich den mittelalterlichen Marginalien und den mit Bleistift an den Rand geschriebenen Notizen können in der Rückschau intellektuelle Biografien einzelner Personen oder Personengruppen gezeichnet werden. Insgesamt gesehen erlaubt social reading nie dagewesene Einblicke in Leseprozesse - und das sogar unter Umgehung von bisherigen methodischen Schwierigkeiten. Klassischerweise wird das Leseverhalten mit Fragebögen ermittelt, wobei aber neben den oft kleinen Stichprobengrößen auch das Problem der sozialen Erwünschtheit auftritt, die Antworten also verfälscht werden, um den Befragten in einem möglichst positiven Licht zu zeigen. Vor allem bei den mehr oder weniger kontinuierlichen und zumeist unbemerkten Datensammlungen durch Amazon und Co. sind beide Probleme der empirischen Forschung weitestgehend ausgeschlossen. Die Anonymisierung der Daten muss hierbei natürlich unter allen Umständen gewährt sein.

Auch im Bildungsbereich besitzt social reading großes Potenzial. Schülerinnen und Schüler sowie Studierende können Texte auch jenseits von Klassen- und Seminarräumen diskutieren, wahlweise mit oder ohne Einbindung des Lehrers/Dozenten. Die Möglichkeit, bestimmte Textstellen in den Marginalien zu diskutieren und die Markierungen und Notizen der Lerngruppe anzeigen zu lassen, führt unter Umständen zu fokussierterem Arbeiten.[15] Der interkulturelle Austausch kann durch geeignete Plattformen mit mehrsprachigen Texten von social reading profitieren und neue Einblicke in die unterschiedlichen Rezeptionstraditionen ermöglichen.

Zukunft des Lesens

Angesichts der zunehmenden Digitalisierung unseres Lebens stellt sich allerdings eine viel globalere Frage: Ist die Zeit des Lesens vorbei, wie etwa Nicholas Carr mutmaßt? Sie wäre dann ein äußerst kurzes Intermezzo in der Geschichte der Menschheit gewesen - von der "Leserevolution" im ausgehenden 18. Jahrhundert, die das individuelle, leise Lesen unterschiedlichster Texte einläutete, bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts - und uns stünde die Wiederkehr der Vergangenheit bevor, in der nur eine ausgewählte Minderheit diese Kulturtechnik beherrschte. Die Hochphase der Literatur, der Belletristik, wäre dann - Leser und Autoren stehen schließlich in einer Wechselbeziehung - ebenfalls vorbei: "Bücher und Bücherlesen (steuern) auf ihren kulturellen Lebensabend zu."[16] Auch die Thesen des Hirnforschers Manfred Spitzer gehen in eine ähnliche Richtung und warnen vor der drohenden "digitalen Demenz".[17]

Interessanterweise legt gerade der Erfolg von social reading eine optimistischere Zukunftsperspektive für das Lesen nahe: Schließlich müssen die Bücher, über die gerade in Chats, Foren, Sozialen Netzwerken oder Plattformen gesprochen wird, auch irgendwann gelesen worden sein (Bücher übrigens, die - wie ein Blick auf die Bestsellerliste verrät - nicht unbedingt immer dünner werden). Im Zeitalter der Digitalisierung wird Lesen wieder sozialer und nähert sich damit der Situation vor der Leserevolution nur insofern an, als dass Texte wieder zunehmend gemeinschaftlich rezipiert werden - damals durch das Vorlesen in Gruppen, heute durch "Bücher mit Internetanschluss". Social reading greift also in die Vergangenheit zurück und verbindet sie mit dem noch recht jungen Phänomen des stillen Lesens. Statt eines Kulturpessimismus - der in ähnlicher Form übrigens auch jene oben erwähnte Leserevolution begleitete und vor den negativen Auswirkungen massenhafter Lektüre warnte - wäre ein offener Umgang mit den neuen Möglichkeiten, aber auch den Herausforderungen für die Kulturtechnik des Lesens gewinnbringender und im Sinne einer wachsenden Kompetenz im Umgang mit digitalen Medien förderlicher.

Gerade die oben erwähnte gelungene Verbindung von Offline und Online bringt die Potenziale von social reading auf den Punkt. Die individuelle, stille Lektüre von Büchern verbindet sich mit den reichen Interaktionsmöglichkeiten des Internets und schafft so kommunikative Räume für den Text. Diese wirken wiederum zurück auf den Leser, den Autor und vielleicht auch auf die Gespräche in book clubs und Lesekreisen. Um mit der amerikanischen Schriftstellerin Toni Morrison zu sprechen: "Reading is solitary, but that"s not its only life. It should have a talking life, a discourse that follows."[18]

Fußnoten

1. Vgl. Bob Stein, A Taxonomy of Social Reading: a proposal, online: http://futureofthebook.org/social-reading (6.9.2012).

2. Ein entfernter Vorläufer dieser Lesekreise waren Lesegesellschaften und -kabinette, die sich im 18. Jahrhundert herausbildeten, um einem rasant gewachsenen Kreis von Lesern Zugang zu günstiger Literatur zu ermöglichen und aufklärerische Ideen zu verbreiten. Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts war die Hochzeit der Lesegemeinschaften schon wieder vorüber: günstigere Bücher und Periodika, Leihbüchereien und auch Verbote forderten ihren Tribut.

3. Siehe etwa die Leser-Autor-Interaktion bei Sascha Lobos "Strohfeuer"; vgl. Marcel Weiss, Knappes Gut bei E-Books. Sascha Lobos Buchfrage, 11.10.2010, online: www.neunetz.com/2010/10/11/knappes-gut-bei-e-books-sascha-lobos-buchfrage/ (6.9.2012).

4. Vgl. online: http://thegoldennotebook.org (6.9.2012).

5. Vgl. Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt/M. 2001.

6. Alexandra Alter, Your E-Book Is Reading You, 19.12.2012, online: http://online.wsj.com/article/SB10001424052702304870304577490950051438304.html (6.9.2012).

7. Vgl. online: www.küchengötter.de; www.oetker-select.de (10.9.2012).

8. Zit. nach: A. Alter (Anm. 6).

9. Vgl. online: www.hiptype.com/infographic (6.9.2012).

10. Jörg Häntzschel, Was einen anspringt. Amazon liest mit, 28.10.2010, online: www.sueddeutsche.de/kultur/amazon-liest-mit-was-einen-anspringt-1.1017099 (6.9.2012).

11. Vgl. online: https://kindle.amazon.com/most_ popular; https://kindle.amazon.com/most_popular/books_by_popular_highlights_all_time (6.9.2012).

12. Kobo bietet auch eine besonders umfangreiche Erfassung der eigenen Lesebiografie mittels diverser farbenfroh designter Statistiken und Diagramme an. Vgl. Charlie Sorrel, Kobo update adds social features, nerd-friendly stats, 10.12.2010, online: www.wired.com/gadgetlab/2010/12/kobo-update-adds-social-features-nerd-friendly-stats/ (6.9.2012).

13. Ein Webdienst, der die Synchronisation von Dateien zwischen verschiedenen Rechnern und Nutzern sowie eine Online-Datensicherung ermöglicht.

14. In letzter Zeit ist ein Wandel hin zu offenen E-Book-Formaten festzustellen, eine Entwicklung, die an die Musikindustrie Anfang der 2000er Jahre erinnert. Vgl. Cylus Farivar, Tor Books to release only DRM-free e-books, 25.4.2012, online: http://arstechnica.com/business/2012/04/tor-books-to-release-only-drm-free-e-books/ (6.9.2012).

15. Vgl. Jennifer Pearson et al., Co-Reading: Investigating Collaborative Group Reading, in: Proceedings of the 12th ACM/IEEE-CS Joint Conference on Digital Libraries, New York 2012, S. 325-334; Les Nelson et al., Impact on Performance and Process by a Social Annotation System: A Social Reading Experiment, in: Dylan D. Schmorrow/Ivy V. Estabrooke/Marc Grootjen (eds.), Foundations of Augmented Cognition. Neuroergonomics and Operational Neuroscience, Heidelberg 2009, S. 270-278.

16. Nicholas Carr, Wer bin ich, wenn ich online bin … und was macht mein Gehirn so lange? Wie das Internet unser Denken verändert, München 2010, S. 177.

17. Vgl. Manfred Spitzer, Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen, München 2012.

18. In Oprah Winfreys Sendung "Oprah"s Book Club" vom 6. März 1998.

Der Text ist erschienen in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Nr. 41-42 vom 8. Oktober 2012. S. 21-27, Bundeszentrale für politische Bildung.

Zum Autor

Dominique Pleimling ist Cheflektor im Eichborn-Verlag. Zuvor war er Sachbuchlektor bei Bastei Lübbe. Der Germanist hatte vor seinem Einstieg bei Bastei Lübbe bereits mehrere Jahre im Frankfurter Eichborn Verlag als Pressereferent gearbeitet. In den letzten Jahren forschte und lehrte er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Mainzer Institut für Buchwissenschaft zu den Themen Digitalisierung und Veränderungen des Leseverhaltens.


Eine Geschichte mit Medien im Wandel der Zeit

Vor 30 Jahren änderte sich die Fernsehlandschaft in Deutschland durch die Einführung des Privatfernsehens, in unserem Wohnzimmer änderte sich jedoch zunächst nichts. Erst vier Jahre später - ja, es muss 1988 gewesen sein - konnten wir, wenn wir unsere elektrisch drehbare Dachantenne auf "halb sechs" drehten, ganz passabel RTL plus empfangen. Dort lief noch nicht rund um die Uhr Programm und als Lückenfüller wurde einfach das Radioprogramm von RTL übertragen. Das brachte meine Schwester (acht) und mich (zehn), die wir große Fans von Radio Luxemburg waren, auf die Idee, doch mal das Radio und den Fernseher, der das Radioprogramm übertrug, gleichzeitig laufen zu lassen. Vielleicht erwarteten wir eine Art Supersound, aber auf keinen Fall das, was wir nun hörten: Es gab ein Echo. Der Fernseher hinkte dem Radio um etwa eine Sekunde hinterher. Das konnte ich mir nicht erklären. Ich fragte meinen allwissenden Vater, aber der wusste auch keine Antwort. Daher schrieb ich einen Brief an RTL plus, und zwar in Blindenschrift, der einzigen Schrift, die ich beherrschte. Es vergingen einige Tage, dann ging das Telefon. Eine Dame von RTL plus war dran. Man habe einen Brief von mir erhalten, den man aber nicht lesen könne. Ich solle doch nochmal mündlich vorbringen, was ich wollte. Das tat ich und bekam daraufhin eine einleuchtende Erklärung für die Sache mit dem Echo geliefert: Das Radiosignal wurde von Luxemburg aus an einen Satelliten im Weltraum geschickt und von dort auf die Erde zurückgestrahlt. Die Zeit, die das Signal von der Erde in den Weltraum und wieder zurück brauchte, betrug etwa eine Sekunde.

So weit die wahre Geschichte. Verschieben wir jetzt die zeitliche Komponente um ein kleines Stück. Hätte ich meinen Brief nur ca. ein Jahr später geschrieben, hätte ich das in Schwarzschrift getan, auf Schreibmaschine. Dann hätten ihn die Leute bei RTL plus lesen können, dafür ich selbst aber nicht mehr, genauso wenig wie die dann wohl schriftlich erfolgte Antwort.

Machen wir nun einen größeren Zeitsprung. 1996 - ich lebte die Woche über schulbildungsbedingt nicht bei meinen Eltern mit Dachantenne, über die man mittlerweile in einer miserablen Qualität auch Sat.1 empfangen konnte, sondern bei einer Familie mit analogem Satellitenfernsehen - bekam ich meine erste Computerausstattung. Sie bestand aus Notebook, Braillezeile, Sprachausgabebox, Scanner, Blinden- und Schwarzschriftdrucker. Jetzt konnte ich einen Brief schreiben, selbstständig kontrollieren und in Schwarzschrift ausdrucken, so dass der sehende Empfänger in der Lage war, ihn zu lesen. Die Antwort konnte ich dann zwar nicht unmittelbar lesen, aber hatte die Möglichkeit, sie mir über den Scanner zugänglich zu machen.

Und heute? Heute gibt es, außer im Kabel, kein analoges Fernsehen mehr in Deutschland und auch Radioprogramme werden in absehbarer Zeit nur noch digital ausgestrahlt. Dann kann ich meinen Weltempfänger wegwerfen, den ich 1988, also im Jahr meines Blindenschriftbriefes an RTL plus, zu Weihnachten bekommen habe und der mir immer noch als Radiowecker dient. Ließe ich diesen Weltempfänger und meinen sprechenden digitalen Satellitenreceiver gleichzeitig mit demselben Sender laufen und fiele mir dabei erstmalig ein Echo auf, so würde ich wahrscheinlich ins Internet gehen und das Phänomen googeln. Ich könnte meine Frage aber auch in einer E-Mail formulieren. Hierbei ist die Schriftbarriere endgültig gefallen. Sender und Empfänger haben eine Nachricht ohne merklichen Umweg gleich in der Schrift vorliegen, die sie beherrschen. Das kann Schwarzschrift sein oder Braille, aber auch gesprochene Sprache, also gar keine Schrift.

Ausblick

Schon heute gibt es Spracheingabeprogramme. Wird es irgendwann Standard sein, dass wir unsere Mails nicht mehr tippen, sondern einsprechen? Und werden wir uns die Antworten dann nur noch von der Sprachausgabe vorlesen lassen? Die Diskussion darüber, was das für die Brailleschrift bedeutet, überlasse ich anderen, nur so viel: Ich bin froh, dass ich sie habe, weil ich nur mit ihr in der Lage bin, komfortabel die Rechtschreibung zu kontrollieren. Außerdem kann ich mich auf Gelesenes besser konzentrieren als auf Gehörtes.

Zum Autor

Der 1978 geborene Simon Kuhlmann machte sein Abitur 1999 integrativ am Conrad-von-Soest-Gymnasium in Soest und studierte im Anschluss Sonderpädagogik mit Musik auf Lehramt an der Universität Dortmund. Nach Erlangung des Ersten Staatsexamens orientierte er sich jedoch um und arbeitet heute als Verwaltungsfachangestellter. In seiner Freizeit widmet er sich der Musik und dem Schreiben und moderiert seit mehreren Jahren die Mailinglisten "Stimmgabel" und "Poet" bei www.blindzeln.org.


Mediale Versorgung

Rückblick, Einblick und Ausblick

Die "gute, alte Zeit"

"Such dir ein Buch aus", sagte meine Mutter oft als Kind zu mir, wenn der Geburtstag oder das Weihnachtsfest nahten und ich mir wieder einmal "ein gutes Buch" gewünscht hatte. Ich erhielt die Listen mit Kinder- und Jugendliteratur - Neuerscheinungen, die in den Braille-Druckereien übertragen worden waren - und begann genüsslich zu "stöbern". Als Kind denkt man kaum darüber nach, dass einem zum Lesen nur eine sehr geringe Auswahl an neu erschienenen Büchern zur Verfügung steht, die in Brailleschrift übertragen werden. Doch je älter ich wurde, desto schmerzlicher wurde mir bewusst, wie viel Lesenswertes allein schon im Radio in Magazin- und Literatursendungen vorgestellt wird.

Als ich mit dem Studium begann, verbesserte sich die Zugänglichkeit zu Texten schlagartig. Nie werde ich meine Freude darüber vergessen, als ich in eine Buchhandlung ging, einen Roman kaufte, den ich für ein Germanistikseminar lesen sollte, die Verkäuferin die beinahe übliche Frage stellte: "Soll ich das Buch als Geschenk verpacken?", und ich voller Stolz antwortete: "Nein, das ist für mich!" Ich hatte ein Vorlesesystem erhalten, das es mir (zwar durchaus mit Zeitaufwand, aber immerhin) ermöglichte, Bücher eigenständig zu scannen und sie mir über eine Sprachausgabe vorlesen zu lassen oder sie an meiner Braillezeile selbst zu lesen.

Institutionen stehen vor Herausforderungen

Heute beschwert man sich beinahe darüber, wenn man ein Buch mal selbständig einscannen muss. Man fragt sich immer zuerst, ob es nicht vielleicht schon in einer elektronischen Form vorhanden ist. Durch Vorlesesysteme, den E-Book-Markt und durch zum Teil anders sozialisierte Nutzer, die einen schnellen, unabhängigen und aktuellen Zugang zu Informationen bevorzugen, hat sich die Rolle derjenigen Institutionen verändert, die früher ausschließlich und in wichtiger Funktion für die Bereitstellung von Information und Unterhaltung für blinde und sehbehinderte Menschen "zuständig" waren. Alle Braille-Druckereien spüren den Rückgang der Bücher, die gekauft werden, durchaus deutlich. Zwar gibt es Kunden, die Bücher ausleihen oder auch kaufen, doch ist hier zum Teil intensive Beratung notwendig.

Auch im Hörbuchbereich hat sich die Situation grundlegend verändert. Produzierte man in den 80er Jahren Hörbücher, wenn überhaupt, vor allem als Nischenprodukt für Kinder, so werden heute in vielen Verlagen mit unterschiedlichen Ausrichtungen Hörbücher für sämtliche Alters- und Nutzergruppen kommerziell hergestellt. Blindenhörbüchereien dürfen urheberrechtlich gesehen ein Werk nur dann neu auflesen, wenn es noch nicht in barrierefreier Form verfügbar ist. Vor einiger Zeit konnte man immer noch argumentieren, dass viele "Kaufhörbücher" gekürzt seien, doch gerade ändert sich der Markt. Aufgrund der technischen Situation, dank derer es kein Problem mehr ist, einen Roman wie "Der Mann ohne Eigenschaften" von Robert Musil tatsächlich auf eine MP3-CD zu packen, lassen sich auch lange Hörbücher durchaus besser vermarkten.

Wie also, muss man sich als im Blinden- und Sehbehindertenbereich angesiedelte Medieninstitution fragen, geht man damit um, wenn auch blinde und sehbehinderte Menschen vielfältige Zugangsmöglichkeiten zu Informationen haben und eine Abhängigkeit von diesen Spezial-Medienproduzenten wie in früheren Zeiten nicht mehr gegeben ist? Woher weiß man, welcher Informationszugang in fünf Jahren aktuell sein wird?

Medieninstitutionen stellen sich den Herausforderungen

Allein die Frage "Was möchte mein Kunde von mir produziert haben?" ist erst innerhalb der letzten zehn Jahre verstärkt in den Vordergrund getreten. Produzierte man früher ein Buch für den erwachsenen blinden Kunden immer in Kurzschrift als Papierausgabe, in Vollschrift nur dann, wenn es sich um ein Buch für junge Leser handelte, so werden heute einerseits auch für erwachsene Bücher in Vollschrift erstellt, zum einen für späterblindete Menschen und außerdem erlernt nicht mehr jeder blinde Mensch die Kurzschrift automatisch so, dass er sie flüssig lesen könnte. Andererseits hat man aber vor allem den sehbehinderten Kunden zu bedienen (denn rein statistisch geht die Zahl der blinden Menschen zurück), der natürlich keine Blindenschrift kann, aber mit dem reinen Hörbuch unter Umständen auch nicht glücklich ist.

Wenn ein Kunde bei den Braille-Druckereien nur wenige Bücher kaufen möchte, muss man andere Dinge produzieren, die der "Massenmarkt" so einfach nicht hergibt. So wünscht ein Kunde vielleicht recht aufwändige oder auch mal sehr schnell hergestellte taktile Abbildungen und Pläne, die dann wiederum in Blindenschrift beschriftet sein sollten. Genauso kann es wichtig sein, die Beschriftungen auf Arzneimittelverpackungen auch für blinde Menschen gut lesbar zu machen. Außerdem werden Sach- und Fachbücher mit hohem Aufwand und Schwierigkeitsgrad produziert. So muss man sich generell in der Schulbuchproduktion, egal ob elektronisch oder in Blindenschrift, sehr viele Gedanken über Bildbeschreibungen und eng an Bildmaterial geknüpfte Aufgabenstellungen machen. Außerdem gibt es verstärkt den Wunsch, elektronisches Material zur Verfügung zu stellen, das für die sehbehinderten Kunden an ihre individuellen Bedürfnisse anpassbar ist. Ein elektronisches Schulbuch wird ein blinder oder sehbehinderter Kunde momentan noch nicht in barrierefreier Qualität über einen konventionellen Verlag erhalten. Kunden aus unterschiedlichen Bereichen und Berufsfeldern fragen nach der Erstellung von barrierefrei zugänglichen elektronischen Dokumenten, die durchaus in einem Zustand geliefert werden, in dem viel Nacharbeit nötig ist, um sie tatsächlich barrierefrei und ordentlich lesbar an die Kunden zurückzugeben.

Eine weitere Herausforderung ist das schnelle Produzieren von zwar vergleichsweise einfachen Inhalten, die aber für eine rasche Produktion in einem schlechten Datenformat zur Verfügung stehen. Will man ein Werk eilig in eine barrierefreie Form bringen, so ist man eigentlich darauf angewiesen, dass die Ausgangsdaten fehlerfrei sind, man diese im günstigsten Fall nicht umkonvertieren muss in ein überhaupt bearbeitbares Format, dass in ihnen die Absätze stimmen, dass keine falschen Trennstriche o.ä. mehr vorhanden sind. Doch leider sind manche elektronischen Daten, die man erhält, alles andere als optimal für eine Umsetzung in ein barrierefreies Format geeignet. Die Aufgabe besteht dann darin, ein Werk in ein bearbeitbares Format umzuwandeln, umzuarbeiten, zu strukturieren und trotzdem noch möglichst schnell und fehlerfrei umzusetzen.

Neue Medien, neue Fragen

Zwar muss man sich Bücher in elektronischen Formaten nicht mehr über den Zeitaufwand des Scannens erschließen, doch gibt es vor dem Lesebeginn durchaus einige Fragen zu klären. Zumindest muss man wissen, dass E-Books in unterschiedlichen Formaten verkauft bzw. über die sogenannte "Onleihe" vieler Stadtbüchereien ausgeliehen werden können, welche Formate mit welchem Leseprogramm überhaupt oder eben noch am besten zugänglich sind, und natürlich wäre da auch noch die Frage zu klären, bei welchem Onlineshop man überhaupt einkaufen kann, sind doch nicht alle Online-Buch-Bestellmöglichkeiten gleichermaßen barrierefrei zu bedienen.

Betrachtet man den "E-Book-Markt", so hat man einerseits inzwischen die große Chance, Millionen von Büchern beispielsweise über die barrierefreie Kindle-App zu lesen, über die Amazon seine E-Books ausliefert. Der Kindle-Reader steht momentan in deutscher Sprache noch nicht barrierefrei zur Verfügung, ist aber in Planung. Auch Bücher im sogenannten Epub-Format lassen sich über verschiedene Programme nutzen. Verkürzt gesagt, handelt es sich hier um ein Format, das ähnliche Strukturierungsmöglichkeiten wie das für blinde und sehbehinderte Menschen inzwischen gängige DAISY-Format bietet. Nach wie vor ist auch auf dem E-Book-Markt das altbekannte und von blinden und sehbehinderten Personen nicht immer geliebte PDF-Format durchaus verbreitet. Momentan weiß niemand, welches der genannten Formate sich irgendwann einmal endgültig durchsetzen wird, oder ob es zwei Formate sein werden, über die die größten Anbieter dann versuchen werden, ihre Marktstellung zu behaupten. Das sich aus vielen internationalen Institutionen und Bibliotheken zusammensetzende DAISY-Konsortium setzt verstärkt auf Epub, somit wäre es theoretisch denkbar, dass auch die Blindeninstitutionen in nicht ganz ferner Zukunft ihre Literatur im Epub-Format produzieren werden.

Es stellen sich bei E-Books noch viele Fragen, die sich mit Problemstellungen decken, die man ansonsten eher aus dem Bereich der Erstellung von barrierefreien Homepages kennt. Wie zugänglich nämlich ein E-Book ist, hängt einerseits von dem E-Book selbst und andererseits von der genutzten Lese-App ab. Sind beispielsweise in einem Epub-E-Book die Überschriften innerhalb des Textes selbst nicht als Überschriften für den Screenreader erkennbar ausgezeichnet, so wird man innerhalb des Buches nicht gut navigieren können, egal wie gut die Funktionalität der jeweils genutzten Lese-App ist. Andererseits kann ein Buch sinnvoll barrierefrei gemacht sein, doch wenn die jeweilige App nicht mit einem Screenreader bedienbar ist, wird man das gut gemachte Buch nicht lesen können. Weiterhin können elektronische Bücher selbst als eine Art kleines Leseprogramm gestaltet sein, das Spiele, Animationen, Rätsel, Auswahlmöglichkeiten zum Fortgang von Handlungen o.ä. enthält. Ein Autor kann einem Leser an bestimmten Stellen unterschiedliche Plots anbieten. Der Leser erhält Auswahlmöglichkeiten zur aktiven Beteiligung während des Lesens, die das Leseverhalten möglicherweise verändern. Natürlich lassen sich beispielsweise in ein Schulbuch Rate- oder sonstige Spielmöglichkeiten am Computer oder mit der App einbauen, die zwar allgemein zu einem neuen Zugang zu dem gelesenen führen, jedoch für blinde und sehbehinderte Menschen eine erhebliche Herausforderung darstellen.

Viele der genannten Möglichkeiten befinden sich zwar momentan noch im Experimentierstadium, da die deutschen Verlage noch sehr zurückhaltend mit zu vielen Neuerungen sind. Sie tun sich schwer damit, abzuschätzen, wie ihre Kunden reagieren werden. Doch je mehr potentiell zur Verfügung stehende Möglichkeiten von großen, marktführenden Anbietern dem Kunden auf geschickte Weise dargeboten werden, desto mehr werden sich vermutlich auch alle anderen gezwungen sehen, sich mit einem "innovativen" E-Book auseinanderzusetzen.

Fazit

Die Medienwelt ist im Wandel und mit ihr die Blindeninstitutionen, die für die mediale Versorgung ihrer Kunden zuständig sind. Man wird sich in den nächsten Jahren immer wieder mit neuen Herausforderungen konfrontiert sehen. Gemeinsam mit der Blindenselbsthilfe wird man nach wie vor hart um einen Zugang zu Informationen für alle blinden und sehbehinderten Menschen streiten und mit klaren, einfachen und verständlichen Forderungen an die Öffentlichkeit treten müssen.


Der Vertrag von Marrakesch

Mehr Freiheit beim Zugang zu Literatur für Menschen mit Lesebeeinträchtigungen

Am 20. Juni 2014 hat die Bundesregierung für Deutschland den Vertrag von Marrakesch zur Verbesserung des Zugangs zu veröffentlichten Werken für blinde, sehbehinderte und anderweitig lesebehinderte Menschen unterzeichnet. Damit wurde ein weiterer kleiner Schritt auf dem langen und steinigen Weg zur Verbesserung des weltweiten Zugangs zur Literatur getan - sicher ein guter Anlass, sich dieses Thema einmal genauer anzusehen.

Mehr als 95 Prozent der weltweit veröffentlichten Buchproduktion werden in einem Format veröffentlicht, das für Menschen, die blind oder hochgradig sehbehindert sind, nicht zugänglich ist. Das bedeutet, dass rund 285 Millionen Menschen vom Lesen dieser Literatur ausgeschlossen sind. Dabei ist zu beachten, dass wiederum mehr als 90 Prozent dieser Menschen in sogenannten Entwicklungsländern leben, in denen Möglichkeiten, unzugängliche Bücher zugänglich zu machen, häufig kaum bestehen, in allen Fällen aber weitaus begrenzter sind als in den Industrienationen.

Erinnern wir uns: Lesen ist Information; Information ist Voraussetzung zum Beispiel für Bildung, für eine erfolgreiche Berufstätigkeit, für eine gleichberechtigte Teilhabe am kulturellen Geschehen und lebensgestaltende, oft lebenswichtige Entscheidungen. Damit ist das Recht auf Information ein Teil der allgemeinen Menschenrechte und verdient die entsprechende gesellschaftliche und politische Wertschätzung.

Nach Schätzungen der Welt-Blindenunion (WBU) und der Europäischen Blindenunion (EBU) sind nur etwa fünf Prozent der Bücher in den Industrienationen in Braille, Großdruck, in einem Audioformat oder als zugängliche digitale Ausgabe verfügbar. Schaut man in die Entwicklungsländer, so bewegt sich diese Schätzung bei einem Prozent. International sprechen wir von der "Büchernot - book famine". Es gilt, diesen Missstand wirksam zu bekämpfen.

In Deutschland sind es die Brailledruckereien und Übertragungsdienste, die Braillebibliotheken und Hörbüchereien, in Großbritannien und Spanien zum Beispiel das Royal national Institute of the Blind (RNIB) und die Organización Nacional de Ciegos de España (ONCE), die mit hohem Kostenaufwand ohne ausgleichende Einnahmen den Kampf gegen die Büchernot aufgenommen haben. Um diese Arbeit in Deutschland wenigstens teilweise zu erleichtern, bestehen auf der Grundlage der Artikel 5 und 6 der Urheberrechtsrichtlinie der Europäischen Union mit den §§ 45a und 95b des Urheberrechtsgesetzes Ausnahmeregelungen, die das Lizenzverfahren bei der Umsetzung in ein für Menschen mit Behinderungen zugängliches Format erleichtern. In den meisten Ländern der Welt gibt es aber noch nicht einmal diese Ausnahmeregelungen. Aber auch dort, wo sie bestehen, ist eine Literaturversorgung, die über die nationalen Grenzen hinausgeht, nicht zulässig. So kam und kommt es zu Parallelproduktionen und damit zu mehrfachem Einsatz von Zeit, Energie und finanziellen Mitteln für dasselbe Buch. Das gilt besonders für die großen Sprachräume in Afrika, Asien und Lateinamerika. Aber auch in Deutschland wirken sich diese Einschränkungen negativ aus, zum Beispiel für Studierende, die auf zugängliche fremdsprachliche Literatur aus den entsprechenden Ländern angewiesen sind und auch bei der grenzüberschreitenden Literaturbeschaffung zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz. In den Jahren zwischen 2008 und 2013 haben WBU und EBU in Verhandlungen mit dem Welt-Verlegerverband (World Intellectual Property Organization - WIPO), deren Verlauf insbesondere im ständigen Komitee über Urheberrechte und verwandte Rechte (Standing Committee on copyright and related rights - SCCR) über lange Zeit zäh und schwierig war, für einen Vertragstext gekämpft, der diese Zugangsbarrieren beseitigt. Am 27. Juni 2013 wurde dieser Vertragstext endlich angenommen und von zunächst 51 Staaten unterzeichnet (vgl. dazu Artikel 17 des Vertrages). Inzwischen ist diese Zahl auf mehr als 70 gestiegen. Zu den Vertragsbeteiligten gehört nun auch die Europäische Union (EU), die den Vertrag am 30. April unterzeichnet hat. Rechtsgültig wird der Vertrag aber erst, wenn mindestens 20 Vertragsstaaten ihre Ratifizierungsurkunde oder Beitrittserklärung hinterlegt haben und seitdem drei Monate vergangen sind (Artikel 18). Diese Ratifikation wurde bisher aber erst von zwei Vertragsstaaten, nämlich von Indien und El Salvador, vollzogen. In der EU ist umstritten, ob die EU als Solche den Vertrag ratifizieren kann, ob daneben auch die Einzelnen EU-Mitgliedsstaaten die Ratifikation vollziehen müssen, oder ob es nicht überhaupt nur die EU-Mitgliedsstaaten sind, deren Ratifikation erforderlich ist. Angesichts dieser Diskussion hat sich die EBU zunächst für die rasche Unterzeichnung und Ratifikation durch die EU eingesetzt. Gleichzeitig appelliert sie aber an ihre nationalen Mitgliedsorganisationen, sich bei ihren Regierungen mit Nachdruck und begleitet von entsprechenden politischen Kampagnen für die zügige Durchführung des Ratifikationsverfahrens einzusetzen.

Der Vertragstext stellt in 22 Artikeln den Kompromiss zwischen den berechtigten Schutzinteressen der Urheberrechtsinhaber und dem Anspruch von Menschen, die blind, sehbehindert oder von anderweitigen Lesebeeinträchtigungen betroffen sind, auf barrierefreien Zugang zu veröffentlichten Werken als Wahrnehmung ihres Menschenrechts auf Information dar.

In seiner Präambel nimmt der Vertrag sowohl Bezug auf die Erklärung der Vereinten Nationen (UN) über die allgemeinen Menschenrechte als auch auf die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Gleichzeitig betont er die Bedeutung des Urheberrechtsschutzes als Anreiz und Belohnung für literarische und künstlerische Schöpfungen.

Nachdem in Artikel 1 zunächst der Bezug zu anderen Übereinkommen und Verträgen dargestellt wird, finden sich in den Artikeln 2 und 3 eine Reihe von Definitionen für Begriffe wie "Werke", "barrierefreies Vervielfältigungsstück", "autorisierte Instanz (authorized entity)" und "Begünstigte". Zusammengefasst geht es um urheberrechtlich geschützte literarische und/oder künstlerische Erzeugnisse, die von gemeinnützigen Einrichtungen oder Organisationen nach staatlicher Genehmigung oder Anerkennung in einem eigenen Verfahren in ein Format übertragen werden, das für Menschen, die blind, sehbehindert oder anderweitig lesebeeinträchtigt sind, zugänglich ist. Anderweitig lesebeeinträchtigt sind Personen, die aufgrund einer körperlichen Behinderung nicht in der Lage sind, ein Buch zu halten oder die Augen zu fokussieren oder in einem Umfang zu bewegen, der üblicherweise für das Lesen als ausreichend angesehen wird.

Artikel 4 des Vertrags regelt, dass und in welcher Weise die Vertragsstaaten in ihrer Gesetzgebung Urheberrechtsbeschränkungen und Ausnahmen für die Herstellung barrierefreier Vervielfältigungsstücke eines Werkes vorsehen. In Deutschland bestehen mit §§ 45a und 95b des Urheberrechtsgesetzes solche Regelungen bereits. Besonders heftig diskutiert wurde im Kontext des Artikels 4 folgende Regelung, die letztendlich dort Eingang gefunden hat: "Eine Vertragspartei kann die Beschränkungen oder Ausnahmen gemäß diesem Artikel auf Werke begrenzen, die in dem barrierefreien Sonderformat für die Begünstigten unter vernünftigen Bedingungen im Heimatmarkt käuflich nicht zu erwerben sind. Eine Vertragspartei, die von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, muss dies jedoch gegenüber dem Generaldirektor der WIPO zum Zeitpunkt der Ratifikation, der Annahme oder des Beitritts zum Vertrag oder zu einem beliebigen späteren Zeitpunkt schriftlich erklären." Angesichts eines rasch wachsenden Angebots an kommerziellen ungekürzten Hörbüchern und mit entsprechenden Hilfsmitteln zugänglichen elektronischen Büchern wird diese Bestimmung mehr und mehr an Bedeutung gewinnen. Im Übrigen räumt der Vertrag in Artikel 12 den Vertragsstaaten die Möglichkeit ein, weitere Beschränkungen und Ausnahmen, entsprechend ihren spezifischen kulturellen und wirtschaftlichen Gegebenheiten, in ihre Urheberrechtsgesetzgebung aufzunehmen. Soweit in der Gesetzgebung eines Landes für Menschen mit Behinderungen weitergehende Ausnahmen vorgesehen sind, bestehen diese Ausnahmen neben denen, die in diesem Vertrag vorgesehen sind, weiter.

Artikel 5 und 6 zeigen den Weg, wie barrierefrei zugängliche Vervielfältigungsstücke eines urheberrechtlich geschützten Werkes grenzübergreifend aus- und eingeführt werden können. Von besonderem Interesse ist hier, dass nicht nur gemeinnützige Organisationen oder Einrichtungen, sondern auch einzelne Personen, die zu den Berechtigten im Sinne des Vertrages gehören, Empfänger eines grenzüberschreitend versandten übertragenen Werkes sein können. Die WIPO - so ist in Artikel 9 festgelegt - richtet zur Förderung der Zusammenarbeit zur Erleichterung des grenzüberschreitenden Austausches bei ihrem internationalen Büro eine Informationsstelle ein, die diesem Ziel dient.

Wie schon in Deutschland der § 95b des Urheberrechtsgesetzes, so regelt auch der Vertrag von Marrakesch in Artikel 7 besondere Pflichten in Bezug auf technische Schutzmaßnahmen. Es heißt hier: "Die Vertragsparteien treffen, soweit erforderlich, geeignete Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass, soweit sie einen angemessenen Rechtsschutz und wirksame Rechtsmittel gegen die Umgehung technischer Schutzmaßnahmen vorsehen, dieser Rechtsschutz die Begünstigten nicht daran hindern darf, die für diesen Vertrag geschaffenen Beschränkungen und Ausnahmen zu genießen."

Artikel 8 betont ausdrücklich den Schutz der Privatsphäre der nach diesem Vertrag berechtigten Personen.

Nach Artikel 13 bilden die Vertragsstaaten eine Versammlung, die vom Generaldirektor der WIPO einberufen wird und nach Möglichkeit zur gleichen Zeit und am gleichen Ort wie die Generalversammlung der WIPO tagen soll.

Die Verwaltungsaufgaben, die im Zusammenhang mit dem Vertrag entstehen, erfüllt gemäß Artikel 14 das internationale Büro der WIPO.

Nach Artikel 15 können alle Mitglieder der WIPO und auch zwischenstaatliche Organisationen wie die Europäische Union Vertragsbeteiligte werden. Damit genießen sie nach Artikel 16 alle Rechte und übernehmen alle Pflichten aus dem Vertrag.

Die Artikel 17 bis 22 enthalten Verfahrensvorschriften zur Unterzeichnung und Ratifizierung, zur Kündigung, den offiziellen Vertragssprachen - das sind Englisch, Arabisch, Chinesisch, Französisch, Russisch und Spanisch - und zur Verwahrung beim Generaldirektor der WIPO.

Es bleibt zu hoffen, dass Deutschland und viele weitere Staaten sehr bald das notwendige Ratifikationsverfahren für den Vertrag von Marrakesch betreiben. Über Deutschland und Europa hinaus wäre das gerade für die vielen Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika mit Sehbeeinträchtigungen ein wichtiger Schritt hin zu mehr Barrierefreiheit beim Zugang zu Informationen und damit zu mehr Selbstbestimmung.

Anmerkung:

Den Vertragstext und weitere Informationen findet man unter http://www.wipo.int/treaties/en/ip/marrakesh/ und "Was bringt der WIPO-Blindenvertrag?" unter http://irights.info/artikel/was-bringt-der-wipo-blindenvertrag/15943

Zum Autor

Wolfgang Angermann ist seit Oktober 2011 Präsident der Europäischen Blindenunion (EBU). Der blinde Jurist war von 1977 bis 1994 Geschäftsführer des DVBS.


Im Blindflug

Es steht ein Kind vor einem Teewagen. Auf diesem steht ein Radio, wie man es früher in vielen Haushalten hatte: Das obere Drittel der Frontseite nimmt der Lautsprecher ein, darunter befindet sich eine Glasscheibe mit der Senderskala. Links ist der Lautstärkeregler, rechts der Regler für die Senderwahl angebracht. Unten schließlich befinden sich Tasten, mit denen man neben UKW auf Kurz-, Mittel- und Langwelle umstellen kann. Das Kind hat schon sehr früh gelernt, dass jeder Tastendruck und jedes Drehen an einem der Regler sich unmittelbar auf das Gehörte auswirkt. Es weiß auch, dass der Deutschlandfunk dumpfer klingt als NDR 2. Damit man den DLF erreicht, muss zunächst unten eine Taste gedrückt werden und dann das Senderrad so lange nach links gedreht werden, bis man den vertrauten Klang gefunden hat.

Liebe Leserinnen und Leser, Sie ahnen es längst: Das Kind ist blind. Die Handlungsweise zum Senderwechsel ist intuitiv. Auch ein blindes Kind kann schnell und eigenständig den Umgang mit einem solchen Dampfradio erlernen. Gleiches galt übrigens für Kassettenrekorder, Plattenspieler und auch Fernsehgeräte. Selbst die Bedienung mit einer Fernsteuerung war anfangs kein Problem. Das Ein- und Ausschalten machte sich mit einem klickenden Relais bemerkbar. Bei der Funktion "Ton aus" knackte es nicht.

Der Blindflug beginnt, bitte anschnallen

Hurra, ein neuer Satellitenreceiver ist da! Wir kriegen jetzt bummelig 500 Fernseh- und Radioprogramme aus der ganzen Welt. Dazu gibt es eine Fernbedienung, die gefühlt mehr Tasten hat als eine Schreibmaschine. Unser blindes Kind weiß, dass es erst den Fernseher anschalten muss. Dann nimmt es die Fernbedienung mit den vielen Tasten in die Hand. Die Taste ganz oben links ist mit dem ersten Programm belegt. Da gibt"s gleich die Tagesschau. Es drückt diese Taste und - wir ahnen es - nichts passiert. Auch zwei Wiederholungen bringen nichts. Es folgt ein markerschütternder Schrei. "Das Ding geht nicht!" Erklärungen gibt es da viele: Von "Kein Signal - draußen gießt und stürmt es", bis "Der Receiver ist gar nicht eingeschaltet". Es gibt kein Knackgeräusch, wenn man den Receiver ein- und ausschaltet. Einzig eine LED zeigt die Betriebsbereitschaft des Gerätes an.

Instrumentenflug oder die sprechende Fernbedienung

Unser blindes Kind ist in die Jahre gekommen. Sehende Mitmenschen wollen sogar schon das ein oder andere graue Haar entdeckt haben. Unser blinder Freund räkelt sich zufrieden auf der Hollywoodschaukel. Er hat Kopfhörer in den Ohren und hält sein Smartphone in der Hand. Offensichtlich hört er Musik. Wahrscheinlich von einem dieser neuen Dienste, wo man sich ein komplettes Album auswählen und dann anhören kann.

Seit März 2013 komplettiert eine Dolby-Surround-Anlage den Haushalt. Zu dem Receiver gibt es auch eine Fernbedienung mit einer Vielzahl von Tasten. Sie ahnen es längst: Die meisten Funktionen lassen sich nur mit Hilfe des angeschlossenen Fernsehers bedienen. Wir kommen der Lösung näher, indem wir den Receiver mit dem hauseigenen Computernetzwerk verbinden. Das Smartphone kann ebenfalls drahtlos am Netzwerk teilnehmen. Fertig? Nicht ganz, es fehlt noch die richtige App, also die Fernsteuerung der Anlage, die auf dem Smartphone installiert werden muss. Arbeitet die App denn mit der Sprachausgabe zusammen? Wir haben Glück, es funktioniert. Zwar werden einige Tasten mit kryptischen englischen Begriffen vorgelesen, die meisten Punkte wie die Wahl des gewünschten Tonsignals (Radio, Fernsehen, CD-Player) werden richtig angesagt. Gleiches gilt für die Bedienung des Internetradios.

Inzwischen sind Fernsehgeräte auf dem Markt, die sich teilweise per Sprachausgabe steuern lassen. Die Anschaffung dieser Geräte zwingt allerdings zu einem etwas tieferen Griff in den Geldbeutel. Außerdem hört man, dass einige Funktionen gar nicht oder nur teilweise blind bedient werden können. Ob sich dies ebenfalls mit einer App erledigt, ist leider nicht bekannt. Uns bleibt nur die Hoffnung, dass die Riege der smarten Ingenieure, die derzeit die Bedienkonzepte der Multimedia-Geräte entwickeln, auf den Rat ihrer Großeltern hören, welche Ansprüche sie an die Bedienung dieser Geräte haben.

Zum Autor

Wilhelm Gerike arbeitet seit 1989 als EDV-Assistent in der DVBS-Geschäftsstelle. Schon seit der Kindheit interessiert sich der geburtsblinde Marburger für alles rund um Radio und Fernsehen.


Der Teufel steckt im Detail

1. Computer und Smartphone als Zugang zu digitalen Medien

Wer heute publiziert, der tut dies schon lange nicht mehr nur für eine Druckfassung. Für den Buchautor sind das E-Book und vielfach auch das Hörbuch ebenso selbstverständlich wie die Online-Ausgabe der Zeitung sowie eine Zweitverwertung auf Websites für den Journalisten. Goldene Zeiten also für jene, die von elektronischen Publikationen ganz besonders profitieren können: blinde und stark sehbehinderte Menschen.

In der Tat bieten moderne Zugangsgeräte wie Computer, insbesondere aber auch Smartphones, einen völlig neuen Zugang zu Inhalten aller Art. Apps wie iBooks auf dem iPhone bieten Zugang zu einer Fülle aktuell publizierter Werke, Fachbücher ebenso wie Belletristik. Zudem bieten viele Zeitungen und Zeitschriften eigene Apps für Smartphones mit iOS- oder Android-Betriebssystem.

2. PC und Smartphone als Zugangsvoraussetzung und Barriere

Vorab sind wir davon ausgegangen, dass blinde und stark sehbehinderte Menschen die Literaturquellen äquivalent zu anderen Personen nutzen können oder die Barrieren zumindest nicht so unüberwindlich sind, dass sie zum Ausschluss des Zugangs führen. Dies greift jedoch deutlich zu kurz.

Zunächst muss betrachtet werden, wie heterogen sich die genannte Zielgruppe darstellt. Obgleich bekanntlich keine gesicherten Zahlen vorliegen, darf davon ausgegangen werden, dass ein großer Anteil der genannten Gruppe erst in fortgeschrittenem Alter mit einer Sehbehinderung konfrontiert wird. Aufgrund ihres bisherigen Lebensweges haben diese Menschen oft nur wenig bis gar nichts mit Computern und modernen Kommunikationstechniken zu tun gehabt. Setzen wir PC und/oder Smartphone zum Zugang voraus, so implizieren wir hierin also auch die Forderung, diese Gruppe müsse sich nun - neben anderen behinderungsbedingten Mehraufwänden - auch mit moderner Technik befassen, um sprichwörtlich am Ball bleiben zu können.

Selbstverständlich ist es auch in fortgeschrittenem Alter möglich, sich in die Bedienung von PC und/oder Smartphone einzuarbeiten, auch wenn zuvor keine Kontakte mit dieser Technik bestanden. Der Autor hat als Dozent schon häufig erfolgreich Schulungen mit Angehörigen der beschriebenen Altersgruppe durchgeführt, welche sich mit Fleiß und Spaß in die Materie eingearbeitet haben. Es ist jedoch auch festzustellen, dass nicht jeder Mensch die motorischen wie kognitiven Voraussetzungen erfüllt, die zur Bedienung von Smartphone und PC notwendig sind. Denn obgleich berührungsempfindliche Bildschirme heute einfacher handzuhaben sind, als sich viele Experten dies hätten vorstellen können, an die intuitive Bedienung durch Sehende reichen die aktuellen Konzepte für blinde und sehbehinderte Menschen nicht heran.

Doch selbst wer in der Bedienung der modernen Hard- und Software geübt ist, stößt allzu häufig vor Barrieren, die auch mit hohem technischen Verständnis kaum zu umschiffen sind. In seiner Rolle als Trainer hat der Autor häufig erlebt, dass ein Kunde nicht zuletzt deshalb den Umgang mit iPhone oder iPad erlernen wollte, weil der Genuss der örtlichen Tageszeitung lockte. "Da gibt es so eine App", ist hier der Standardsatz. Bei genauerem Hinsehen erweist sich diese App jedoch als keineswegs barrierefrei. Entweder die Inhalte sind nur als Bilder hinterlegt, so dass ein Auslesen des Textes über die Sprachausgabe nicht möglich ist, oder es wird zwar eine Textversion angeboten, diese muss jedoch über eine unbenannte Grafik erst mühsam angesteuert werden, wobei diese Grafik ihre Position auf dem Bildschirm verändert. Schließlich gibt es auch Apps, bei denen die Auswahl der gewünschten Ausgabe durch den Blinden schlicht unmöglich ist. Solcherlei künstliche Barrieren lassen sich dann nur im Gespräch mit dem Verlag beseitigen, wobei die Erfahrungen des Autors hier überwiegend negativ sind. Viele Verlage beauftragen externe Unternehmen mit der Erstellung ihrer App, wobei Wert auf eine möglichst hohe optische Treue zur Druckausgabe gelegt wird. Gesichtspunkte von Komfort, im Englischen besser mit dem Begriff "Usability" beschrieben, sowie die Barrierefreiheit treten hier oft so in den Hintergrund, dass sie nur mit größerer Mühe nachgerüstet werden könnten.

Auch am PC kann der Spaß etwa am Fachbuch schnell in Frust umschlagen, wenn der Kopierschutz des Dokuments den Zugriff über den Screenreader oder auch nur das Konvertieren in ein anderes, für den Nutzer bequemeres, Format per se unterbindet.

Abschließend soll noch ein weiteres, normatives Element in die Diskussion eingeführt werden, nämlich die Frage, ob quasi ein Gebot zur Nutzung moderner Technik besteht, um den eigenen Anspruch an Information und Unterhaltung zu erfüllen. Während der normal sehende Mensch bei klassischen Medien bislang noch die Wahl hat, sich für die für ihn einfachere Papierausgabe oder doch lieber das digitale Medium zu entscheiden, bleibt dem blinden Nutzer diese Wahl häufig nicht, wenn ein bestimmtes Buch etwa in der Hörbücherei nicht verfügbar ist. Er muss dann ggf. mit für ihn nur kompliziert zu konsumierenden Inhalten Vorlieb nehmen, die ihm von einer für ihn unangenehmen synthetischen Stimme vorgelesen werden.

3. Alternative Wege der Zugänglichkeit

Will man ein Fazit der vorgenannten Abschnitte ziehen, so muss dieses lauten: Die Informationen sind vielfach vorhanden, doch wir kommen nicht immer (in der geeigneten Weise) an sie heran.

Hieraus folgt die Forderung nach barrierefreien Standards und Formaten, die geräteübergreifend verarbeitet werden können. Diese Forderung ist selbstverständlich nicht neu und wurde bereits auf nationaler wie internationaler Ebene diskutiert. Daher sollen hierzu noch einige Überlegungen angestellt werden.

Zunächst ist festzuhalten, dass es den einen Standard nicht geben kann. Früher hatte man es zumeist mit wenigen bekannten Dateiformaten wie Text, RTF oder PDF zu tun. Für die moderne Publikation werden jedoch andere Formate bevorzugt, wobei PDF immer noch einen hohen Stellenwert genießt.

Ein Format, das immer dann in den Fokus rückt, wenn es um blinde und sehbehinderte Menschen geht, ist DAISY. Von den Organisationen der Selbsthilfe in den vergangenen rund zehn Jahren in einem Kraftakt eingeführt, kann es heute mittels verschiedenster Endgeräte wiedergegeben werden und hat zweifellos eine hohe Verbreitung erreicht. Ein DAISY-Buch kann dabei ebenso mit einem DAISY-Spieler als eigenständigem Gerät wiedergegeben werden wie mit einem PC oder Smartphone.

Anders als bislang in Deutschland üblich, kennt DAISY neben den klassischen Hörbüchern schon seit langem auch Textinhalte, die mit Hilfe einer Sprachausgabe wiedergegeben oder per Braillezeile gelesen werden können. Auch ein Mix aus beiden Inhaltstypen ist vorgesehen. Alle modernen DAISY-Spieler unterstützen diese Technologie bereits, so dass sich hier ein Ansatzpunkt ergibt, bewährte Technik mit aktuellen Inhalten zu verknüpfen. Im Zuge der hohen Verbreitung des Internets ist auch die Übertragung von DAISY-Büchern über das Internet zu einem Thema geworden. Neben der Versendung von DAISY-Büchern über E-Mail und Websites besteht mit dem DAISY Online Delivery Protocol auch ein medienbruchfreier Weg, Inhalte direkt auf DAISY-Spieler zu übertragen.

Neben DAISY, das außerhalb der Blinden- und Sehbehindertenkreise freilich weniger Popularität genießt, haben sich Formate herausgebildet, die eine gewisse Verwandtschaft zu DAISY aufweisen. Genannt seien hier beispielhaft Epub, mobi oder Open eBook. Modernen Formaten ist gemein, dass sie Texte nicht mehr vom Layout, sondern vom Inhalt her denken. Anders als etwa bei PDF, wo es ursprünglich nur darum ging, eine Druckseite möglichst originalgetreu wiederzugeben, gehen moderne Formate davon aus, dass sie auf verschiedensten Endgeräten wiedergegeben werden und eine optische Definition daher von vornherein scheitern muss. Vielmehr wird hier auf so genannte Auszeichnungen gesetzt, bei denen eine Zeile etwa als Überschrift, Absatz oder Teil einer Auflistung gekennzeichnet wird. Das Wiedergabegerät kann dieses Element dann, vereinfacht gesagt, entsprechend seiner Fähigkeiten ausgeben.

Diese abstrakte Betrachtung bietet bei genauerem Hinsehen enorme Vorteile, denn je mehr sich ein Dokument an einen Standard hält, desto eher können Inhalte zugänglich gemacht oder, wo nötig, konvertiert werden. Bereits heute unterstützen zahlreiche DAISY-Spieler und natürlich auch innovative Apps wie Voice Dream Reader viele dieser Formate und können sie ansprechend wiedergeben.

Ein Punkt, der nicht verschwiegen werden darf, hier jedoch nur gestreift werden soll, ist der Kopierschutz von Dokumenten. Denn selbst wenn ein Wiedergabegerät ein Format an sich beherrscht, kann ein Kopierschutz die Wiedergabe schnell unmöglich machen, da Schutzverfahren häufig nicht genormt sind und sich von Anbieter zu Anbieter unterscheiden können.

4. Fazit

Es bleibt festzuhalten, dass Computer und insbesondere Smartphones herausragende Möglichkeiten der Mediennutzung bieten. Die Entwicklungen in diesem Bereich kritisch zu begleiten und wo nötig durch Experten in eigener Sache auf Missstände hinzuweisen, wird daher eine wichtige Aufgabe sein. Entscheidend ist es jedoch auch, adäquate Alternativen zu schaffen und kostenpflichtige, barrierebehaftete kommerzielle Angebote durch barrierefreie Alternativen zu ergänzen.

Gerade für all jene, an denen der aktuelle Newsletter des örtlichen Blindenvereins derzeit ebenso vorbeigeht wie die lokale Tageszeitung, muss ein Weg gefunden werden, ihnen in Zeiten steigender Ansprüche an den eigenen Medienkonsum ein Angebot zu machen, welches sie auch mit geringen technischen wie monetären Voraussetzungen annehmen können und welches deshalb von Anfang an auf verschiedene Übertragungswege setzt.

Zum Autor

Nils Prause war nach seinem Studium der Betriebswirtschaft und des Öffentlichen Managements für Kommunen in den Bereichen Neues Kommunales Finanzmanagement und E-Government tätig. 2011 gründete er das Hilfsmittelunternehmen TFA Technik Für Alle in Osnabrück und ist bis heute Geschäftsführer. In diesem Rahmen bietet er auch Entwicklung von Dienstleistungen im Bereich DAISY und DAISY Online an.


"Hunger nach zugänglicher Literatur"

60 Jahre Deutsche Blindenhörbücherei

Jeder Mensch ,egal ob blind, sehbehindert oder sehend, liebt das. Zuhören, gebannt einer Geschichte lauschen, sich von einem Vorleser in fremde, unbekannte, aufregende Welten entführen zu lassen. Seit 60 Jahren hilft die Deutsche Blindenhörbücherei (DBH) aus Marburg ihren blinden und sehbehinderten Hörerinnen und Hörern nun dabei, durch die Lektüre von Literatur auf Phantasiereise zu gehen, spannende, traurige, nachdenkliche Romane zu erleben oder sich mit Sachbüchern aus allen Sparten ihren Wissenshorizont zu erweitern.

Carl Strehl, Gründer und langjähriger Direktor der blista und jahrzehntelanger Vorsitzender des heutigen DVBS, war Anfang der 1950er Jahre von den im englischsprachigen Raum, vor allen Dingen in den USA, ins Leben gerufenen Blindenhörbüchereien dermaßen fasziniert, dass er sich leidenschaftlich auch für die Einführung des "sprechenden Buches" in Deutschland engagierte, um Blinden und Sehbehinderten den Zugang zu "schöngeistiger Literatur", wie es damals hieß, und Sach- und Fachbüchern erheblich zu vereinfachen. Bis dahin gab es lediglich Punktschriftbüchereien, die sich redlich bemühten, so viel Literatur wie möglich in Brailleschrift umzusetzen. Strehl erkannte aber, dass gerade für spät oder im Alter erblindete Personen das "sprechende Buch" ungeahnte Möglichkeiten zur Teilhabe am literarischen Leben bietet. Am 23. Februar 1954 wurde in Marburg die Deutsche Blindenhörbücherei als erste Blindenhörbücherei in Deutschland gegründet. Doch bevor es an die Aufsprache der ersten Buchtitel ging und die Bücher ihre Reise zu den Hörerinnen und Hörern antreten konnten, stand die Frage im Raum, wie die technischen Abspielmöglichkeiten so einfach wie möglich gestaltet werden könnten. Es gab bereits viele verschiedene Tonbandgeräte, die allerdings außer der reinen Abspielfunktion auch noch mit Aufnahmemöglichkeiten und Löschfunktionen ausgestattet waren, so dass Strehl die Auffassung vertrat, dass Geräte entwickelt werden müssten, die so einfach wie möglich zu bedienen seien, im damaligen Sprachgebrauch nannte er das "trottelsicher". Schließlich war es nicht ganz einfach, die Tonbänder, auf die die Bücher aufgespielt wurden, in die Gerätschaften einzusetzen und so zu bedienen, dass das "blind" gelingt. Daher bestand in den Anfangsjahren der DBH auch viel Arbeit darin, passende Abspielgeräte zu testen, den Hörerinnen und Hörern Tipps und Anregungen zu geben, wo und wie sie sich welches Gerät beschaffen und bedienen sollten. In den Anfangsjahren war die Zahl der Hörerinnen und Hörer größer als die der zu entleihenden Buchtitel, die immer vollständig und ungekürzt von ausgebildeten Sprecherinnen und Sprechern aufgesprochen wurden. Im April 1955 nahm die DBH ihren Leihverkehr auf. Das erste in Marburg produzierte Hörbuch war Wilhelm Raabes "Stopfkuchen", bis heute mit der Bestellnummer 1 versehen, wurde es in 60 Jahren bislang 1134 mal ausgeliehen. War die Hörbücherei in ihren ersten Jahren noch in unmittelbarer Nähe des blista-Gründungsgebäudes in der Liebigstraße untergebracht, zog die DBH 1967 in ihre heutigen Räumlichkeiten aufs blista-Gelände "Am Schlag" um.

Doch kaum hatte sich die Technik mit den Spulentonbändern etabliert, kam 1962 die Kompaktkassette auf den Markt, die sich in den nächsten Jahren immer mehr durchsetzen sollte. Ab dem 1. Januar 1977 wurden ausschließlich Hörbücher auf Kompaktkassetten produziert, was eine erneute Vereinfachung der Abspielmöglichkeiten für die Hörerinnen und Hörer bedeutete. Gleichzeitig war damit aber auch viel Unsicherheit verbunden, da viele der Nutzerinnen und Nutzer ihre bekannten Spulenbänder nicht missen wollten. Durch die Erfindung des Walkman 1979 wurde "mobiles Hören" möglich, ein erneuter Fortschritt.

Mit der Umstellung auf Kassetten veränderte sich auch der Versand. Wurden früher große, unhandliche Versandboxen benötigt, konnten nun kleinere Boxen mit mehreren Kassetten versendet werden, so dass man relativ schnell sein gewünschtes Werk bekommen konnte. Es gab zwar mehrere Kopien eines Titels, wenn dieser aber sehr begehrt war, da er aktuell diskutiert wurde, dauerte es mitunter schon längere Zeit, bis man an der Reihe war und sein gewünschtes Buch hören konnte. Um die Auswahl zu erleichtern, produzierte die DBH Gesamtkataloge in Schwarzschrift und auch auf Kassette, so dass in Ruhe zu Hause überlegt werden konnte, mit welchem Titel man sich in nächster Zeit beschäftigen wollte. Heute kann man nach Herzenslust im Online-Katalog nach gewünschten Titeln stöbern oder sich vom Team der Hörerbetreuung kompetent beraten lassen.

Seit 1980 wird in den Studios der DBH das Nachrichtenmagazin "DER SPIEGEL" vollständig aufgesprochen und an die Abonnenten per Post versendet. Früher in bis zu acht Kassetten pro Woche, heute in einer DAISY-CD, die bereits mittwochs, also zwei Tage nach Erscheinen der Schwarzschriftausgabe, im Briefkasten auf wissbegierige Hörerschaft wartet oder bereits am Montagabend per Download von der blista-Homepage heruntergeladen werden kann.

Mit Hilfe der Kassetten und der immer enger werdenden Kooperation der deutschsprachigen Blindenhörbüchereien wurde der Bestand an verfügbaren Titeln immer größer und betrug im Jahr 1994 schon 8.000 Titel. Ein Quantensprung in Sachen Buchversorgung durch die Hörbüchereien setzte vor 10 Jahren, zum 50. Geburtstag der DBH, mit der Einführung von DAISY-Hörbüchern ein. Die digitale Produktion der Hörbücher erlaubte es, viel mehr und viel schneller Literatur verfügbar zu machen. Der Austausch unter den Hörbüchereien wird durch Festplattenversand untereinander erheblich beschleunigt, so dass nahezu alle Titel aus allen Hörbüchereien zeitnah verfügbar gemacht werden können. Auch die Wartezeiten bei besonders beliebten Büchern, wie etwa dem aktuellen Krimi-Bestseller von Jussi Adler-Olsen oder dem viel diskutierten Standardwerk von Herfried Münkler zum Ersten Weltkrieg, "Der große Krieg", das gerade in den Studios der DBH aufgesprochen wurde, fallen weg, da die Bücher nach der Bestellung von der großen Festplatte direkt auf CD gebrannt und an die Hörerinnen und Hörer verschickt werden.

Diese Entwicklung hat zur enormen Verbesserung der Literaturversorgung beigetragen, forderte den Hörerinnen und Hörern aber eine erneute Umstellung ab, da ab dem Jahr 2010 keine Kassettenhörbücher mehr produziert und ausgeliehen wurden. Die Technik wurde so einfach wie möglich gehalten, DAISY-Player speziell auf die Bedürfnisse von Blinden und Sehbehinderten hin entwickelt.

Mittlerweile umfasst das Angebot der DBH (Stand Juli 2014) 41.801 Hörbücher. 27 Sprecherinnen und Sprecher produzieren Belletristik, Sach- und Fachbücher sowie Jugendliteratur in 4 Studios. Im Jahr 2013 hat sich der Buchbestand um 10 Prozent erweitert, da mehr als 4.000 neue Titel, zum großen Teil auch Bücher, die nachträglich "daisyfiziert" wurden, neu in die Ausleihe aufgenommen wurden. Die älteste Hörerin der DBH ist 105 Jahre und somit 98 Jahre älter als das "Küken" in der DBH, eine 7-jährige Hörerin. Die insgesamt 6.429 Hörerinnen und Hörer der DBH haben 2013 ca. 100.000 Hörbücher in Marburg ausgeliehen.

Die DBH und ihre Hörerinnen und Hörer haben in 60 Jahren viele Veränderungen aktiv betrieben, mussten sich an neue Gegebenheiten anpassen, konnten aber stets aus notwendigen, technischen Neuerungen Verbesserungen erreichen, das wird auch beim 75.Geburtstag 2029 mit Sicherheit noch so sein. Carl Strehl, Initiator und Gründungsvorsitzender der DBH, fasste 1953 sein Selbstverständnis für eine Hörbücherei folgendermaßen zusammen: "Noch ein Wort mit Bezug auf Punktschrift- und Sprechendes Buch. Für viele Blinde, die nie oder nur unzulänglich Blindenschrift schreiben und lesen gelernt haben, wird die Hörbibl. die Erfüllung eines längst gehegten Wunsches sein. Für den Blinden jedoch, der flott Blindenschrift liest, kann sie nur eine Ergänzung bedeuten. So vollkommen auch die Technik des Sprechenden Buches einmal werden mag, sie wird nie für den meditierenden Leser ein vollgültiger Ersatz für die Blindenschrift sein. Wir brauchen beides. Im Vergleich zu den Normalsinnigen sind und bleiben wir mit Bezug auf die Erfassung des literarischen Kulturgutes 90 Prozent und mehr benachteiligt. Weder Tast- oder Hörsinn allein, noch kombiniert können den Sehsinn vollwertig ersetzen. Blindenschrift- und Hörbüchereien werden daher immer Stückwerk bleiben, da sie nur teilweise Ausfälle ausgleichen, aber nicht die gleichen Leistungen wie das gesunde Auge erreichen können."

Vielleicht wird die weitere Entwicklung der Technik das "Stückwerk" noch ein wenig nutzbarer und verfügbarer machen, denn der Hunger auf zugängliche Literatur, ob Krimi, Roman, Gedicht oder aktuelles Sachbuch, wird nicht versiegen, ob bei Blinden, Sehbehinderten, jungen oder alten Menschen, das ist sicher.


Die Blindenbibliotheken stehen vor Herausforderungen

Interview mit Elke Dittmer

Andrea Katemann (AK): Frau Dittmer, als Vorsitzende der Mediengemeinschaft für blinde und sehbehinderte Menschen (Medibus) beobachten Sie fortwährend neue Entwicklungen sowohl im Literaturbetrieb als auch in technischer Hinsicht auf nationaler und internationaler Ebene. Welche technischen Entwicklungen innerhalb der vergangenen fünf Jahre haben Sie am meisten beeindruckt?

Elke Dittmer (ED): Die Entwicklungen von Apple mit seinem Screenreader Voice Over für das iPhone sind schon interessant. Es ist faszinierend, dass die Bedienung eines Touchscreens für blinde und sehbehinderte Menschen überhaupt machbar ist. Vor fünf Jahren hätte ich das noch nicht für möglich gehalten, was auch zeigt, in welchen vergleichsweise kurzen Zeitspannen man denken muss, wenn man über technische Entwicklungen im medialen Bereich spricht. Eine nicht ausschließlich technische Entwicklung, aber trotzdem interessant, ist die Tatsache, dass sich die Vorstellungen von zukünftiger Buchproduktion des DAISY-Konsortiums immer mehr an den sogenannten Epub3-Standard angleichen, der nicht für blinde und sehbehinderte Menschen entwickelt worden ist, aber Elemente übernimmt, die im DAISY-Standard selbstverständlich sind. So lassen sich theoretisch durch die gegebenen Möglichkeiten mit Epub3 Texte ähnlich strukturiert erstellen, wie man es aus DAISY-Büchern gewohnt ist. dass ein ähnliches Konzept, wie man es für die Blindenwelt erfunden hat, in die breite Welt hinausgeht, ist durchaus spannend.

AK: Erklären Sie kurz, wer bzw. was das DAISY-Konsortium ist?

ED: Es ist ein International zusammengesetztes Gremium, sämtliche Blindeneinrichtungen begannen, sich vor 18 Jahren Gedanken über den sogenannten DAISY-Standard zu machen. Zunächst ist ein technisches Papier entstanden, eine zwar eher langweilige Lektüre, doch war dies als Grundlage für die Einführung von DAISY wichtig. Man musste Firmen beauftragen, Player zu entwickeln, überhaupt eine Struktur für ein gemeinsames Vorgehen finden, das wegführte von der Tonband-/Kassettentechnik hin zu einem modernen Betrieb der Blindenbibliotheken.

AK: Nun ermöglicht es das schon angesprochene iPhone, Bücher zu lesen, vielfältigste Informationen zu bekommen, sogar Fotos zu machen und sich über eine App Bilder beschreiben zu lassen. Vor welcher Herausforderung stehen da Blindenbibliotheken bzw. mit ihnen Medibus?

ED: Manche Nutzer können sich vieles neu im Internet bzw. mit ihren Smartphones erschließen. Sie sind in der Lage, eine Vielfalt an Geräten zu bedienen und können schnell auf textliche Ansagen reagieren, die über eine Sprachausgabe zu hören sind. Doch eine Menge von Nutzern kann dies alles nicht. Für diese muss man etwas tun. Schon die DAISY-Player stellten und stellen evtl. immer noch für viele Personen eine Herausforderung dar. Dennoch konnten die Nutzer ausschließlich über ihre Blindenbibliotheken Hörbücher bekommen, die ungekürzt aufgelesen wurden, die sie dann über ihren DAISY-Player hören können. Dieses bisher vorhandene Alleinstellungsmerkmal gibt es so nicht mehr. Viele kommerzielle Hörbücher werden nicht mehr nur verkürzt, sondern vollständig aufgelesen. Das bedeutet aber noch nicht, dass sie dann für alle blinden und sehbehinderten Menschen zugänglich sind. Somit muss man lange insbesondere Politikern, wenn es um Finanzierung geht, Dinge erklären. Früher hielt man ihnen ein gedrucktes Buch unter die Nase und vermittelte, dass dieses Werk von einem Teil der Bevölkerung nicht gelesen werden kann. Heute muss man anders anfangen, weil auch manch ein Politiker gehört hat, dass schon sämtliches auch für blinde und sehbehinderte Menschen im Internet möglich ist. Ja, sagt man dann, aber nicht für alle. Nun beginnt man zu versuchen, zu erklären, wie sich ein blinder oder sehbehinderter Mensch die digitale Welt erschließt, doch zumeist gelingen solche Versuche am Besten, wenn man mal einen Arbeitsplatz erlebt hat, wenn man sieht, wie bestimmte Geräte und Systeme funktionieren.

AK: Wir sprachen zu Beginn schon über Epub3, kommt man nicht noch stärker in Erklärungsnot, wenn die Blindeninstitutionen der Vision des DAISY-Konsortiums nachgehen und irgendwann nur noch Epub3 Bücher produzieren werden?

ED: Oh ja, allerdings muss man hier prinzipiell unterscheiden: Nur weil ein Buch im Epub3-Standard gemacht ist, ist es noch lange kein barrierefreies Buch. Dies ist der Unterschied zu DAISY. Wenn man ein Buch mit einer DAISY-fähigen Software produziert, kommt etwas Barrierefreies heraus. Wenn man allerdings Epub3 nutzt, bietet der Epub-Standard, also das Format als Solches, prinzipiell die Möglichkeit, barrierefreie Bücher zu erstellen, aber man muss verschiedene Dinge beachten. Es ist so ähnlich wie bei Websites, die noch lange nicht automatisch barrierefrei sind. Überschriften, Bildbeschreibungen, Listenelemente o.ä. müssen eben erst ausgezeichnet werden. So ist es bei Epub-Büchern auch. Dies zu erklären, ist eine große Herausforderung, aber daher wird es nach wie vor Blindeneinrichtungen brauchen, weil diese wissen, wie ein Epub3-Buch barrierefrei wird. Andererseits können Blindeneinrichtungen trotz technischer Verbesserungen immer nur einen kleinen Teil an Literatur in eine barrierefreie Form umsetzen, sodass eine Zugänglichkeit ohne große Hersteller und deren Bereitschaft, Barrierefreiheit vorzusehen, auf breiter Basis nicht gewährleistet werden kann. Es wird deutlich, denke ich, wir stehen vor großen Herausforderungen und müssen diese gemeinsam angehen.


Neue Medien, Herausforderung und Chancen für Sehbehinderte

1. Rahmenbedingungen für Sehbehinderte

Ich verstehe unter neuen Medien alle Informationen, die ich über ein Medium übertragen, auch über mehrere Sinneskanäle, wahrnehmen kann. Die Vielfältige Zugänglichkeit von Inhalten, also ob ich eine Zeitung als Druck lese oder auf einem hinterleuchteten, deutlich kontrastreicheren Bildschirm im identischen Druckbild (Darstellungsmedium) nutze, ob ich dazu einen stationären Monitor benötige oder ein kleines, überall einsetzbares mobiles Gerät verwende, ist für mich ein prägender Aspekt der Neuen Medien. Dies gilt natürlich auch für die Bedienbarkeit und für die Zugänglichkeit (accessibility).

Die Entwicklung der neuen Medien ist durch Ko-Evolution geprägt (Michael Latzer, Zürich 2013). Es wird eine Vielzahl von technischen, ökonomischen, gesellschaftlichen Entwicklungen wirksam, die sich gegenseitig beeinflussen, aber weder planbar noch voraussehbar sind. Sehbehinderte sind in besonderem Maße von diesem Wandel betroffen.

Bedienoberflächen und Erscheinung der Medien werden nach wirtschaftlichen Erwägungen und Marketingentscheidungen gestaltet. Der bei den Bedienoberflächen von Smartphones und Tablets am Anfang der Entwicklung vorherrschende Skeomorphismus, also reale Elemente wie Briefe, ist seit 2013 dem Flat-Design gewichen. Diese sehr kontrastarme und farbreduzierte Darstellung für Bedienoberflächen führt für Sehbehinderte zu einer deutlichen Einbuße der Nutzbarkeit, ohne Ausweichmöglichkeit. Sehbehinderte genießen keine durchsetzbare Handhabe für Zugänglichkeit: Sie hatten und haben auf visuelle Zugänglichkeit keinen Einfluss. Das Nicht-Diskriminierungsverbot für Behinderte des Grundgesetzes oder die für die Nutzbarkeit klaren Vorgaben der UN-Konvention für Behinderte greifen in der Praxis nicht.

2. Neue Medien bieten neue Vorteile für Sehbehinderte - ohne spezielle Anpassungen

Entkörperlichung durch Digitalisierung: Das bedeutet weniger Papier, keine CDs mehr, keine Videobänder ... Es entfällt z.B. das nervenaufreibende Wiederfinden in Regalen. Alle können heute hunderte von Büchern, Zeitschriften, Filmen, Musiktiteln mit sich führen. Dies erleichtert nicht nur die Suche und den Zugang. Auch ein Sehbehinderter kann jetzt leicht aus vielen Quellen Informationen sofort zur Hand haben.

Ein anderer Aspekt ist der Kauf und die unkörperliche Zustellung der Medien über die Telefonleitung oder Mobilfunk. Für Sehbehinderte war das früher viel gepriesene Einkaufserlebnis im CD-Shop oder im Buchhandel nie gegeben (u.a. tadelnde Ansprache beim zu nahen Betrachten).

Konvergenz der Geräte: Die Konvergenz der Nutzung der Neuen Medien auf wenigen Geräten mit kleinen oder großen Bildschirmen lässt bewährte Hilfen für Sehbehinderte veralten. Das Umgehen mit vielfältigen Abspielgeräten mit nicht erkennbaren Displays und die dazugehörigen Fernbedienungen mit einer überbordenden Anzahl von Tasten entfällt.

"Anreicherung" der Medien, Multi-Modalität: Wenn ich die GEO als Bild-Reportage-Magazin als sogenanntes e-Mag nehme, finde ich von den Redakteuren gesprochene Beiträge, Originaltöne, auf volle Bildschirmgröße zoombare Fotografien, ganze Fotostrecken und 360°-Rundum-Blicke und verlinkte Informationen.

Informationsketten: Höre ich heute Musik im Radio, kann eine Anwendung den Interpreten erkennen. Es wird mir vorgeschlagen, ein Musikvideo auf YouTube anzusehen - und ich kann das Lied gegen Bezahlung herunterladen. Das erspart mir eine Menge Arbeitsschritte.

Darstellungsmedium: Früher und auch jetzt werden visuelle Inhalte auf Papier, auf weit entfernten Leinwänden oder wenig auflösenden Röhren-Monitoren wiedergegeben. Die Darstellung auf Bildschirmen unterschiedlichster Größen bietet viele Vorteile: enormer Kontrastgewinn, fast kein Beleuchtungsproblem, verschiedenste Betrachtungsdistanzen, bisher unerreichte Farbtreue.

3. Neue visuelle Anforderungen für Sehbehinderte

Seh-"Kultur" bei Sehbehinderten: Bei diesen steht die Vermittlung von verschriftlichter Kultur immer noch im Vordergrund, einhergehend mit Vorlesenlassen oder Vergrößerung von Texten. Neue Geräteformen mit uhrenförmigen Kleinbildschirmen und intelligente Brillen mit eingeblendeten Informationen (google glass) oder die Umwelt ausblendende Kleinbildschirme in Brillenform (oculus rift) verändern auch den Umgang mit Neuen Medien für sie. Allerdings fehlen bisher klare Forderungen für Konzepte von und im Umgang mit neuen Medien für die Zukunft.

Visuelle Kultur, Welt der Bildschirme, Bilderflut: Die Vermittlung von Information und Kultur wird zunehmend visueller und erfolgt immer mehr auf Bildschirmen. In seinem Buch "The Age of the Image, redefining literacy in a world of screens, 2013" beschreibt St. Atkon diese Entwicklung. "Klassische" Neue Medien und deren Inhalte, wie z.B. bei Zeitungen und Zeitschriften werden visuell immer vielfältiger und damit in der Nutzung erst einmal schwieriger. Internetseiten sind sehr stark gegliedert und sind visuell sehr schwer aufzulösen. Fernsehen und Filme lassen sich auf den verschiedensten Geräten betrachten, live oder via Mediathek. YouTube und Vimeo sind Video-Plattformen, die eine millionenfache Flut von kurzen und langen Filmen als Information, Unterhaltung und Selbstdarstellung bieten. In dieser Form werden für Sehbehinderte durchaus hilfreich "anschauliche" Informationen gegeben. Man sieht z.B. die Sängerin und vielleicht auf der in Größe und Farbe anpassbaren Untertitelung den Liedtext.

Wahrnehmung der Welt durch Medien: Landkarten werden heute durch Aufnahmen vor Ort ergänzt, so als würde man sie persönlich durchlaufen. Ich selbst habe die Landschaft des Grand Canyon neu erlebt, bin den Bright Angels Trail virtuell gegangen und habe die Ab-Bilder so groß und lange "erfahren" wie ich wollte. Es ist einfach und dauert nur Sekunden, mit tastaturfreier Sprachsuche auf einer Suchmaschine eine solche Landschaft zu finden. So wichtig mir dies einerseits ist, so sehr bedauere ich andererseits, bei Reisen durch meine Sehbehinderung bisher immer stark eingeschränkt gewesen zu sein.

Obwohl mein geringes Sehvermögen es nicht erwarten lässt, kann ich visuell mit 3D-Filmen im Kino und im Fernsehen erstmals eine ungekannte Tiefe von Räumen und Bewegungen wahrnehmen (Film "Avatar").

Bildschirme, die Oberflächen z.B. von Krokodilleder als taktile Information simulieren können, stehen vor dem Marktstart und werden eine "Revolution" der Wahrnehmung bewirken.

Das Umgehen mit Informationsfülle erfordert natürlich neue visuelle Kompetenzen.

Neue Kommunikationsformen - Social Media - als neue Medien: Viele der Social Media, zum Beispiel WhatsApp, arbeiten sehr stark mit Bildern. Die Fähigkeit, Bilder im sozialen Kontext selbst zu erstellen, weiterzugeben und zu "lesen", ist ungewohnt.

Überall-Nutzung: Die Verfügbarkeit von Texten, Musik und Filmen an verschiedenen Orten ist heute eine Selbstverständlichkeit, war aber bei Einführung des legendären Sony-Walkman-Kassettenrekorders oder des Apple iPod-Musik-Players ganz neu. Für Sehbehinderte ergibt sich die Problematik, wie sie in einer meist hellen und blendenden Umgebung Medieninhalte wahrnehmen können.

4. Neue Lösungen für Sehbehinderte

Der Begriff der visual literacy wird von D. A. Donis bereits 1973, als "Primer of Visual Literacy", erläutert. Demnach muss man die traditionell beim Lesen und Schreiben erworbenen Fähigkeiten auf eine visuell geprägte Welt mit Bildern und Filmen übertragen. Mit moderner digitaler Technik umzugehen kann man genauso als "digital literacy" bezeichnen (Clive Thompson 2013). Unklar ist, wie Sehbehinderte durch die Neuen Medien visuell belastet werden. Eine erste Untersuchung zur Medienzugänglichkeit gab es mit dem "Gentle User Interface for Elderly People", guideproject.eu . Hervorzuheben sind da menschenähnliche Figuren, die bei der Bedienung helfen: EVA - embodied virtual agents (P. Biswas et a. 2013). In der gleichen Veröffentlichung wird auch die "Standardization of Audivisual Media Accessibility" von P.O. Looks gefordert. Eine gewisse Vereinheitlichung bzw. eine Wiedererkennbarkeit von Regeln würde der jetzt bestehenden großen Unverständlichkeit und Segmentierung von Bedienkonzepten begegnen.

Eine theoretische Bearbeitung dieses Themas für Sehbehinderte mit Eye-Tracking/ EEG-Analyse wie bei der Lese-Studie der Gutenberg Universität 2011 zur Nutzung von verschiedenen Lesemedien durch Jüngere und Ältere, gibt es leider noch nicht.

5. Zusammenfassung, Forderung visueller Zugänglichkeit

Visuelle Zugänglichkeit: Ich fordere die Einbringung des Begriffs Visuelle Zugänglichkeit in die Diskussion der Nutzung Neuer Medien durch Sehbehinderte.

  • visuell erkennbare Semantik der Elemente der Benutzerschnittstelle (hohe Kontraste, unterscheidbare Formen, optische Anreicherung z.B. durch Skeoumorphismen)
  • Bedienkonzepte, die die Informationsdichte reduzieren lassen (auf mehrere Bildschirm-Seiten verteilt)
  • Bedienungshilfen (z.B. mit Stimme bedienbar; Lernhilfen für Bedienung)
  • Assessmentverfahren (Ermittlung der speziellen Bedürfnisse)
  • Wahlmöglichkeiten bei der Darstellung, die die Semiotik des Inhaltes weitgehend erhalten (Auflösung des Layouts nach den visuellen Anforderungen, z.B. durch Aneinanderreihung der Artikel bei Zeitungen; Schaffung einer 2. Zugangsebene mit typografischer Gestaltbarkeit)
  • Bedienbarkeit durch erkennbare und ansteuerbare Semantik der Texte oder Filme (neben bereits üblichen Teilkapiteln, auch Personen oder Ereignisse)
  • Zusatzinformationen (Audiodeskription bei Filmen, die die visuelle Erfassung des Inhalts berücksichtigt und das Filmerleben weniger beeinträchtigt)
  • Informationen, die inhaltliche Erklärungen zur besseren Verständlichkeit liefern
  • Multi-Modalität (bei Filmen Audiodeskription, bei Texten Vorlesen und Markieren des vorgelesenen Textes - Apple"s iOS8 beta "speak screen")
  • Zugänglichkeit neuer Techniken (u.a. Immersion Reading von Amazon, mit synchronisierter natürlicher Stimme und Markierung des vorgelesenen Wortes; Walt Disney"s taktile Oberflächensimulation)
  • Ausschöpfung der Methoden "herkömmlicher" Accessibility (alle Möglichkeiten der visuellen Anpassung im Betriebssystem und in der Anwendung, wie Darstellungsgröße, Kontraste, Zoombarkeit, intelligente Farbumkehr)
  • Erforschung neuer technischer Möglichkeiten der Computer-Vision für erklärende Informationen (Amazon Firefly)
  • (zeitweise) Nutzen der Umwandlung der Bilder durch Konturenbetonung, optische Informationsreduktion durch Flächenbildung, Falschfarbendarstellung, wie man sie z.B. aus dem Expressionismus oder der Pop-Art kennt, Farbumkehrungen, Anpassungen für Farben sehbeeinträchtigter (gibt es bereits bei Samsung-Tablet-PCs)
  • Kultur der E-Inklusion für Sehbehinderte, die nicht nur die technische Ebene "im Auge" hat, sondern Verstehen und Teilhabe an den Neuen Medien

Zum Autor: Heinz Mehrlich, geb. 1953, Dipl. Oec., ist Mitglied im Fachausschuss Belange Sehbehinderter beim DBSV und darüber hinaus in mehreren Gremien der Sehbehinderten-Selbsthilfe tätig. Der in Nürnberg lebende Mehrlich sieht sich selbst als "Accessibility-Evangelist".


Bildung und Forschung

Blinde Menschen im Erwerbsleben (Teil I)

Wie viele blinde Menschen sind eigentlich berufstätig?

Dieser Artikel zeigt, dass in Deutschland die Zahl der blinden Menschen, die einen Arbeitsplatz haben, zwischen ca. 6.500 und 12.000 liegt. Der wahrscheinlichste Wert liegt bei 8.500. Das ist lediglich ein Viertel der blinden Personen, die sich im Alter zwischen 15 und 64 Jahren befinden. Demgegenüber lag die allgemeine Quote der Erwerbstätigen 2012 bei 72,8 Prozent.

Uwe Boysen, der Vorsitzende des DVBS, und Volker Lenk, Pressesprecher des DBSV, werden oft von Journalisten gefragt, welches Ausmaß Blindheit und Sehbehinderung in Deutschland haben. Sie weisen darauf hin, dass es keine eindeutigen, geschweige denn offiziell amtlichen Zahlen gibt, dass diverse Angaben vorliegen, die zwischen 75.000 und mehr als 150.000 liegen. Man stochere eigentlich mit der Stange im Nebel - ein unhaltbarer Zustand angesichts eines Art. 31 der UN-BRK [1] und angesichts der Notwendigkeit, rationale Planungen im infrastrukturellen, im pädagogischen Bereich, in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, im Seniorenbereich und in der Selbsthilfe durchführen zu müssen. Vor diesem Hintergrund erscheint es eher vermessen, angesichts vager und sich widersprechender Angaben über Blindheit insgesamt etwas zum Umfang der beruflichen Eingliederung blinder Menschen aussagen zu wollen. Ich will es dennoch versuchen - aber wie?

Methodisches Vorgehen

Anfragen bei den zuständigen staatlichen Stellen, der Bundesagentur für Arbeit, der Deutschen Rentenversicherung usw. bleiben unbeantwortet. Aus Gründen des Datenschutzes könne man keine Angaben machen, heißt es zumeist. Die amtliche Statistik winkt ab: Das Merkmal Blindheit oder (hochgradige) Sehbehinderung werde in der Beschäftigtenstatistik nicht erhoben. Leider stellt sich auch die Auswertung der Mitgliederdateien der Selbsthilfeverbände als wenig ergiebig heraus. Was bleibt also übrig? Welchen Weg kann man gehen, um zumindest näherungsweise Ergebnisse zu erhalten?

Ich werde im Folgenden drei Angaben über die Zahl blinder Menschen in Deutschland zugrunde legen, die die Bandbreite der Aussagen umfassen, werde hiervon den Anteil der blinden Menschen im erwerbsfähigen Alter ableiten (Erwerbsfähigenquote) und anschließend die tatsächliche Erwerbsbeteiligung blinder Menschen bestimmen (Erwerbstätigenquote).

Diese Berechnungen können nicht genauer sein als ihre Grundlagen. Sie geben keinen exakten gültigen Wert an, aber die Größenordnung der Erwerbstätigkeit blinder Menschen in einer gewissen Bandbreite.

Wie viele Menschen in Deutschland sind blind? Wie viele davon im erwerbsfähigen Alter?

Die Statistik der schwerbehinderten Menschen des Statistischen Bundesamtes (destatis), die in zweijährigem Rhythmus erstellt wird, weist aus, dass die Zahl blinder Menschen in Deutschland am 31.12.2011 74.998 betrug (Art der schwersten Behinderung und Altersgruppen Tab. 1.2.1). Die Daten stammen aus der Versorgungsverwaltung, sind von den Statistischen Landesämtern erhoben und vom Statistischen Bundesamt zusammengefasst worden. Die meisten Tabellen weisen (nur) die "schwerste" Behinderungsart aus. In der Zeitreihe seit 1999 ist der 2011er Wert der niedrigste, der höchste liegt mit 82.996 im Jahr 2001 vor.

Diese Zahlenwerte sind im Vergleich zu internationalen Erhebungen und anderen Schätzungen als sehr niedrig einzuschätzen. Die Blindheitsdefinition in Deutschland ist im internationalen Vergleich sehr eng. Und wer in dieser Statistik erscheint, muss einen Antrag auf Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft gestellt und das Anerkennungsverfahren erfolgreich durchlaufen haben. Im Unterschied zu z.B. Befragungsergebnissen wird man eine gewisse Untererfassung vermuten dürfen (Näheres s. u.).

Fügt man die Zahl der Personen hinzu, bei denen Blindheit als zweit- oder drittschwerste Behinderung eingeschätzt ist, erhöht sich die Zahl der blinden Personen 2011 auf 79.896. Dieser Wert liegt um 6,5 Prozent höher und ist sicherlich der validere. (Tab. 1.1.2 der Fachserie)

Im ersten Schritt der Berechnung müssen wir die Zahl der Personen ableiten, die sich im erwerbsfähigen Alter befinden. Hier grenzen amtliche Statistik und Forschung 15 bis unter 65 Jahre ab. Es gibt gute Gründe, bei blinden Menschen die Grenzen enger zu ziehen, z.B. 20 bis 60 Jahre, wie es das infas-Institut gemacht hat (Schröder 1997) , aber aus Gründen der Einheitlichkeit und praktischer Abgrenzungsprobleme bleiben wir bei der "amtlichen" Abgrenzung.

Unter den 74.998 Personen, bei denen die Blindheit die schwerste Behinderung darstellt, befanden sich 23.396 im Alter zwischen 15 und 64 Jahren. Dies sind 31,2 Prozent. Die validere Zahl von 79.896 blinden Personen ist leider nicht nach Altersgruppen differenziert. Wir müssen uns also behelfen, indem wir auf diese Gesamtzahl die Erwerbsfähigenquote von 31,2 Prozent anwenden. Dies führt zu der Zahl von 25.608 blinden Personen im erwerbsfähigen Alter.

Tab. 1: Einwohner und Träger des Merkzeichens BL (blind) in Deutschland 2011/2014 nach Bundesländern

  • Baden-Württemberg: 10.569.111 Einwohner (EW), 9.981 Merkzeichen BL
  • Bayern: 12.519.571 EW, 14.301 BL
  • Berlin: 3.375.000 EW, 3.315 BL
  • Brandenburg: 2.449.500 EW, 4.287 BL
  • Bremen: 654.770 EW, 600 BL
  • Hamburg: 1.734.000 EW, 2.854 BL
  • Hessen: 6.016.000 EW, 8.602 BL
  • Mecklenburg-Vorpommern: 1.600.300 EW, 3.186 BL
  • Niedersachsen: 7.778.995 EW, 10.701 BL
  • Nordrhein-Westfalen: 17.554.329 EW, 22.505 BL
  • Rheinland-Pfalz: 3.990.278 EW, 4.548 BL
  • Saarland: 994.287 EW, 1.424 BL
  • Schleswig-Holstein: 2.806.500 EW, 3.643 BL
  • Sachsen: 4.050.000 EW, 6.711 BL
  • Sachsen-Anhalt: 2.259.000 EW, 4.080 BL
  • Thüringen: 2.170.500 EW, 4.241 BL
  • GESAMT: 80.522.141 EW, 104.979 BL

Quellen:

Baden-Württemberg: Badischer Blinden- und Sehbehindertenverein, Stand 2012 Bayern: Zentrum Bayern Familie und Soziales (ZBFS), Stand 31.12.2013

Berlin: Übersicht der Ausgaben für Pflegegelder nach dem Landespflegegeldgesetz Stand 12.2013

Brandenburg: Blinden- und Sehbehindertenverband Brandenburg, Stand 2011-2012

Bremen: statistisches Landesamt Bremen, Stand 31.12.2011

Hamburg: Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration Hamburg, Stand 26.07.2013

Hessen: Landeswohlfahrtsverband Hessen, Stand 05.2014

Mecklenburg-Vorpommern: Ministerium für Arbeit, Gleichstellung und Soziales, Stand 31.12.2012

Niedersachsen: Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung, Stand 2013

Nordrhein-Westfalen: Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales NRW, Referat V B 3, Stand 31.12.2012

Rheinland-Pfalz: Grundsatzfragen der beruflichen Teilhabe, der Eingliederungshilfe und des Schwerbehindertenrechts; Ministerium für Soziales, Gesundheit und Demographie Rheinland Pfalz, Stand 31.12.2012

Saarland: Blinden- und Sehbehindertenverband Saarland, Stand 12.2013

Sachsen: Zahlen der Behindertenstrukturstatistik des Sächsischen Landesamtes für Statistik, mitgeteilt vom Sächsischen Staatsministerium für Soziales und Verbraucherschutz, Stand 31.12.2013

Sachsen-Anhalt: Ministerium für Arbeit und Sziales Sachsen-Anhalt, Stand 02.2014

Schleswig-Holstein: Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales, Stand 2013

Thüringen: Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit, Stand 31.12.2013

Zur Bestimmung der Zahl der blinden Menschen in Deutschland kann man alternativ an die Vergabe des Merkzeichens BL für blind anknüpfen. Nach der obigen Tabelle 1 war in Deutschland 2011 bis 2014 das Merkzeichen BL 104.978 Mal vergeben. Diese Personen sind blind im Sinne des § 72 SGB XII, also nach derselben Blindheitsdefinition, die der Schwerbehindertenstatistik zugrunde liegt. Ein Rätsel ist mir, wie 79.996 blinde Personen 104.978 Mal das Merkzeichen BL für Blindheit tragen können. Auch Fachleute aus diesem Bereich des Statistischen Bundesamtes konnten hier lediglich Mutmaßungen anstellen. Bedeutsam wird wohl sein, dass bei der Erhebung 2011 18 Prozent aller schwerbehinderten Menschen bei der Art der Behinderung als "sonstige" betrachtet werden mussten, da es nicht möglich war, sie genauer zuzuordnen.

Die Zahl blinder Menschen entsprechend dem Vorkommen des Merkzeichens BL erscheint somit als die validere Größe. Andere Schätzungen kommen zu höheren Werten für Deutschland.

a) "Aus den WHO-Europazahlen 2002 kann man errechnen, dass in Deutschland 2002 164.000 Blinde (0,2 %, Blindness WHO Grad 3, 4 oder 5) … lebten." (Bertram 2005 S.1)

b) "Zum Vergleich kann man die Zahl der Blindengeldbezieher in Nordrhein von 1997 heranziehen. Wenn man diese auf ganz Deutschland hochrechnet, kommt man auf 133.660 Blindengeldbezieher. (Bertram a.a.O.) ["Die Differenz ergibt sich aus dem etwas strengeren Blindengeldkriterium in Deutschland (entspricht WHO-Grad 5, 4 und nur partiell 3), der Zunahme der Blinden und einer wahrscheinlich relativ kleinen Anzahl von Blinden, die kein Blindengeld beantragt haben." (Bertram ebd.)]

c) "Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) verfügt über valide Daten über Sehbehinderte in der ehemaligen DDR." (Bertram a.a.O.) Rechnet man die Blindengeldstatistik des Gesundheitsministeriums der DDR Ende der 1980er Jahre auf Deutschland hoch, ergibt sich ein Wert von ca. 150.000 blinden Menschen. (vgl. http://www.dbsv.org/infothek/zahlen-und-fakten/#c922)

Ich lege für die weitere Untersuchung als Mittelwert der drei obigen Schätzungen a) - c) die Zahl von 150.000 blinden Personen in Deutschland zugrunde und bestimme den Anteil derjenigen im Erwerbsalter (31,2 Prozent wie oben) mit 46.800.

Tabelle 2: Blinde Menschen im Erwerbsalter in Deutschland

  1. 79.886 blinde Personen insgesamt, 25.608 im Erwerbsalter 15 bis unter 65 Jahre
  2. 104.979 blinde Personen insgesamt, 32.753 im Erwerbsalter
  3. 150.000 blinde Personen insgesamt, 46.800 im Erwerbsalter

Quellen: destatis 2011, Schröder 1997, Bertram 2005, eigene Berechnungen

Und wie viele sind berufstätig?

Nunmehr stellt sich die Frage, in welchem Umfang die blinden Personen im Erwerbsalter tatsächlich am Erwerbsleben teilhaben, wie hoch also die Quote der Berufstätigen unter ihnen tatsächlich ist. Erwartungsgemäß ist auch hierfür lediglich eine Aussage über die Größenordnung machbar. Hierzu stehen uns zwei Angaben zur Verfügung: Die infas-Studie ermittelte die Erwerbstätigenquote der Blindengeldempfänger im Rheinland durch Befragung von mehr als 1.000 Personen im Herbst 1993 mit lediglich 26 Prozent. Einbezogen in die Befragung wurden Personen zwischen 20 und 60 Jahren. [2] Während Schröder noch mutmaßte: "Blinde Männer und Frauen im erwerbsfähigen Alter haben im Vergleich zu anderen Behindertengruppen eine weit unterdurchschnittliche Erwerbsquote", (a.a.O.) werden wir aktuell eines Besseren (?) belehrt.

Der erste Teilhabebericht der Bundesregierung weist die aktuelle Erwerbstätigenquote von schwerbehinderten Menschen mit einem Grad der Behinderung von 90 oder 100 mit 26 Prozent aus. (Männer 29, Frauen 23 Prozent) (Teilhabebericht der Bundesregierung 2013 135 Tab. 4-26) Hier besteht die Grundgesamtheit aus Personen zwischen dem 15. und dem 65. Lebensjahr. Hätte die infas-Studie (20 bis 60 Jahre) die Altersgrenzen ebenso weit gezogen, wäre die Quote der blinden Personen sicherlich noch niedriger gewesen. Aus den Angaben lässt sich keineswegs eine Verbesserung der Erwerbssituation blinder Menschen seit den 1990er Jahren ableiten. Eher ist das Gegenteil anzunehmen.

Wenden wir die Erwerbstätigenquote von 26 Prozent auf die drei verschiedenen Werte für die Zahl der blinden Menschen im erwerbsfähigen Alter an, erhalten wir die Größenordnung in Form dreier Zahlenwerte blinder Personen, die im Berufsleben stehen.

Tabelle 3: Erwerbstätige blinde Menschen in Deutschland

  1. 79.886 blinde Personen insgesamt, 25.608 im Erwerbsalter, 6.658 in Erwerbstätigkeit
  2. 104.979 blinde Personen insgesamt, 32.753 im Erwerbsalter, 8.516 in Erwerbstätigkeit
  3. 150.000 blinde Personen insgesamt, 46.800 im Erwerbsalter, 12.160 in Erwerbstätigkeit

Quellen: destatis 2011, Bertram 2005, Schröder 1997, Teilhabebericht der Bundesregierung 2013, eigene Berechnungen

Die "auf die Person genau" angegebenen Werte der Tabelle 3 sollen allerdings keine scheinbare Genauigkeit vermitteln. Sie geben in einer gewissen Bandbreite die Größenordnung an, in der blinde Menschen am Erwerbsleben teilhaben. Wir können dieser Tabelle entnehmen, dass in Deutschland die Zahl der erwerbstätigen blinden Menschen irgendwo zwischen 6.500 und 12.000 liegt. Diese Angaben stellen einen ziemlich weit gespreizten Fächer dar. Aus meiner Sicht liegt der wahrscheinlichste Wert bei etwa 8.500 Personen; diesem Wert liegt der Ansatz der Vergabe des Merkzeichens BL für blind im Schwerbehindertenausweis zugrunde.

(Mit dem methodischen Instrumentarium kann man den Beschäftigungsumfang hochgradig Sehbehinderter ableiten. Dies bleibt einem späteren Beitrag vorbehalten.)

Literatur: Die Literaturangaben folgen in einer späteren horus-Ausgabe.

Fußnoten

[1] Art 31 BRK (1) Die Vertragsstaaten verpflichten sich zur Sammlung geeigneter Informationen, einschließlich statistischer Angaben und Forschungsdaten, die ihnen ermöglichen, politische Konzepte zur Durchführung dieses Übereinkommens auszuarbeiten und umzusetzen.

[2] Weitere 7 Prozent waren arbeitslos oder arbeitssuchend; dies entspricht einer damaligen Unterbeschäftigungsquote von 21,2 Prozent. Lediglich drei von vier derjenigen, die sich als arbeitslos bezeichneten, gaben an, bei den Arbeitsämtern registriert zu sein - so errechnet sich die spezifische Arbeitslosenquote in der Höhe von 16 Prozent. (vgl. Schröder 1997 u. eig. Berechnungen)

Zum Autor

Dr. Heinz Willi Bach ist zweiter Vorsitzender des DVBS. Der Diplom-Volkswirt war viele Jahre Dozent an der Fachhochschule des Bundes in Mannheim und vertrat die Fachgebiete Volkswirtschaftslehre, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsvermittlung. Zuvor war er zehn Jahre in der Praxis der öffentlichen Arbeitsvermittlung tätig. 2009 wurde er wissenschaftlicher Oberrat beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Anschließend führte er an der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit ein zweijähriges empirisches Forschungsprojekt durch. Dr. Bach gehörte dem Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales an, der die Gestaltung des Teilhabeberichts der Bundesregierung wissenschaftlich begleitete. Derzeit ist er beratend an der "Vorstudie für eine Repräsentativ-Befragung zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen" beteiligt. Er nahm ca. zwölf Jahre die Aufgabe der Vertretung der schwerbehinderten Beschäftigten und Studierenden an der Hochschule wahr.


So einfach funktioniert Inklusion nicht

Stellungnahme zum Artikel "Inklusion - Gemeinsam anders" aus: DIE ZEIT vom 31.5.2012

Das italienische System der schulischen Inklusion hat der Autor 13 Jahre als Schüler und 6 Jahre als Lehrer in Südtirol erlebt. Seine Erfahrungen als hochgradig Sehbehinderter decken sich überhaupt nicht mit der unkritischen Darstellung in DIE ZEIT vom 31.05.2012 im Artikel "Inklusion - Gemeinsam anders". Nachfolgend stellt er das System der schulischen Inklusion in Südtirol aus der Sicht von Menschen mit Behinderungen dar, die im genannten Artikel überhaupt nicht zu Wort kommen.

Die Inklusion wurde in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts vorwiegend aus Kosten- und Organisationsgründen - und nicht aus Behindertenfreundlichkeit - in italienischen Klassenzimmern erzwungen. Per Gesetz verschwand das Thema "Behinderung" ohne irgendeinen Lösungsansatz hinter Klassenzimmertüren. Seitdem ist die Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen in Italien ein mächtiges "Try-and-Error-System", welches in vielen Fällen auch nach 40 Jahren nicht mehr erreicht als eine altersgerechte Aufbewahrung.

Der politische Vorteil bestand fortan nicht nur darin, dass das Thema "Behinderung" der wissenschaftlichen Diskussion entzogen war, sondern auch, dass die dörfliche Schönfärberei jede Kritik am System erstickte. Wie dies funktioniert, zeigt der Artikel in DIE ZEIT vom 31.5.2012 eindrucksvoll: Eine Sozialpädagogin ohne spezifische Qualifikation erhält einen Arbeitsplatz, ein paar Firmen verdienen Geld mit dem Umbau, die Eltern erhalten Freizeit, Ältere, Mütter mit Kinderwagen und gehbehinderte Personen profitieren vom Abbau der architektonischen Barrieren und die Schule erhält einen Artikel in DIE ZEIT. Im Ergebnis hat jeder etwas davon bis auf den Behinderten selbst. Er muss auf eine, seiner Behinderung angemessene, schulische Förderung verzichten, da die in der Regel jährlich wechselnde Integrationslehrerin mangels Ausbildung als Pflegekraft (wozu sie übrigens auch nicht ausgebildet ist) arbeitet.

Tatsache ist, dass durch die streuende Wirkung der Inklusion in vielen Teilen Italiens keine durch die Selbsthilfe getragene Lobby entstanden ist und die Wissenschaft, wie beschrieben, politisch zu diesem Thema weitgehend schweigt. Menschen mit Behinderungen konnten sich in Italien deshalb nie emanzipieren und hängen nach wie vor von sozialen Transferleistungen ab ohne faktische Möglichkeit, selbstbestimmt zu leben.

Tatsache ist weiterhin, dass sich in Italien nie ein differenzierter Begriff von Behinderung herausgebildet hat. Wie notwendig eine Differenzierung aber ist, zeigt bereits der Unterschied zwischen Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung trotz vorhandener intellektueller Fähigkeiten vom Lernprozess ausgeschlossen werden, und jenen, die aus intellektuellen Gründen den Lernstoff nicht bewältigen können. Das italienische Inklusionssystem unterscheidet nicht zwischen Autisten, blinden, lernbehinderten, körperbehinderten, taubblinden etc. Schülerinnen und Schülern. Mit anderen Worten heißt das, dass David Blunkett, Stephan Hawking, Helen Keller, Wolfgang Schäuble und der im Artikel beschriebene Aaron in Italien gleich beschult werden. Auch wenn dies skurril klingen mag, entspricht es der Realität, da die Integrationslehrer keine behinderungsspezifische Ausbildung haben und deshalb nicht in der Lage sind, Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf gezielt zu fördern.

Deutlich wird dies am Beispiel eines blinden Schülers: Er benötigt u. a. die Brailleschrift zum Schreiben und Lesen, spezielle Konzepte im Umgang mit dem Computer, die auf dem Arbeiten ohne Maus basieren, und spezielle Kenntnisse in Textsetzungssystemen (z. B. Latex für mathematische und chemische Formeln) oder die Braillesche Notenschrift für den Musikunterricht. Ohne diese Techniken ist der blinde Schüler überhaupt nicht in der Lage, am Unterricht teilzunehmen. Wer soll ihm diese Techniken beibringen?

Der Integrationslehrer? - Er durchläuft ein kurzes Aufbaustudium, in dem alle Behinderungsarten theoretisch abgehandelt werden, um hoffentlich die Diagnose zu verstehen. Wenn überhaupt, kommt er nur durch den behinderten Schüler selbst in Kontakt mit Hilfsmitteln und Arbeitstechniken. Genau an dieser Stelle führt sich das Inklusionssystem ad absurdum, denn der Schüler sollte vom Integrationslehrer den Umgang mit Hilfsmitteln und entsprechende Techniken lernen und nicht umgekehrt. - Ganz zu schweigen von einer behinderungsgerechten Methodik und Didaktik zur Vermittlung der Lerninhalte.

Hat der Schüler also nicht die Möglichkeit, diese Techniken außerhalb des inklusiven Schulsystems zu erlernen, kann er nicht am Unterricht teilnehmen, obwohl er möglicherweise über die intellektuellen Fähigkeiten verfügt, um den Lernstoff zu bewältigen.

Auch die Nicht-Sonderpädagogen stecken in einer prekären Situation. Wie soll ein Allgemeinpädagoge einen Schüler fair benoten, wenn er seine Leistungsfähigkeit nicht objektiv beurteilen kann? In ihrer Not urteilen Lehrer häufig sehr großzügig, insbesondere bei behinderten Kindern im Schulpflichtalter, was zu Schulabschlüssen führt, die dem tatsächlichen Leistungsniveau nicht entsprechen. Auf Dauer war diese Praxis jedoch mit dem Gerechtigkeitsgefühl der Mitschüler nicht vereinbar, denn nicht nur Gymnasien und Fachoberschulen fordern eine bestimmte Objektivität in der Bewertung. Wie wird das Problem nun in Südtirol gelöst?

Die Lösung heißt "Kompetenzbescheinigung bei zieldifferenziertem Unterricht". Indem man Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf einfach keinen Schulabschluss mehr gibt, müssen ihre Leistungen auch nicht mehr an den Kriterien gemessen werden, die bei den nicht-behinderten Schülerinnen und Schülern anzulegen sind. Allerdings können die meisten Pädagogen, die über eine Zieldifferenzierung entscheiden, auch nur ansatzweise beurteilen, was der Schüler unter optimaler Förderung leisten könnte, da hierfür, wie bereits beschrieben, sonderpädagogische Kompetenz und das Wissen um Hilfsmittel und Arbeitstechniken für die unterschiedlichen Behinderungsformen notwendig wären. Beide Varianten, sowohl die großzügige Notenvergabe als auch die Herausnahme aus dem Bewertungssystem, sind jedoch Strategien, die der Entwicklung der Schülerinnen und Schüler schaden.

Dies ist einer der Gründe, warum es für behinderte Menschen in Italien schwierig ist, einen normalen Schulabschluss zu bekommen. Schon als gut ausgebildeter "Normalo" ist es schwierig, einen der Ausbildung entsprechenden Arbeitsplatz zu finden, als gut ausgebildeter behinderter Arbeitssuchender kaum möglich und als behinderter Mensch ohne Schulabschluss unmöglich. Eine Kompetenzbescheinigung, als Folge eines zieldifferenten Unterrichts, ist auf dem Arbeitsmarkt das Papier nicht wert, auf dem sie steht. Und ohne Arbeitsplatz und Schulbildung gibt es in unserer Gesellschaft kein selbstbestimmtes Leben.

Einen regulären Schulabschluss erhalten behinderte Schülerinnen und Schüler, die in der Lage sind, den Regelschulstoff unter weitgehend gleichen Bedingungen zu bewältigen. Wolfgang Schäuble würde es also schaffen, da er den Regelstoff ohne Hilfe mit herkömmlichen Mitteln bewältigen kann. Er wird eine lange Warteliste von Integrationslehrern haben, die zu ihm wechseln wollen, weil es bis auf ein paar Pflegetätigkeiten nichts zu tun gibt. Helen Keller hingegen wird scheitern. Sie wird in der Schule weder Lormen noch Brailleschrift lernen und mit einer Kompetenzbescheinigung entlassen.

Die speziellen Techniken und Werkzeuge müssen die Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf unabhängig vom inklusiven, staatlichen Schulsystem in Eigenregie erlernen. Helen Keller hatte das Glück, eine Hauslehrerin mit einer speziellen Ausbildung zu finden. Auch wenn dies 1887 in den USA dank der Perkins School for the Blind in Boston möglich war, ist auch dies im Italien des 21. Jahrhunderts keine Option mehr, da es keine Möglichkeit gibt, sich sonderpädagogisch zu qualifizieren. Es bleibt die Hoffnung, dass eine starke Selbsthilfegruppe sich ihrer annimmt und mit privat organisierten Kursen die Mängel des Schulsystems kompensiert.

Im Unterschied zum restlichen Italien bietet sich in Südtirol für sehbehinderte und blinde Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, diese Techniken außerhalb des Unterrichts zu erlernen. Die Südtiroler Autonomiebewegung, die sich als Folge der Annexion durch Italien gebildet hatte, führte unter sehbehinderten und blinden Einwohnern zu einer Bewegung gegen das zentralistische römische Wohlfahrtssystem für behinderte Menschen. Daraus entwickelte sich eine starke Südtiroler Selbsthilfe, die heute sehbehinderten und blinden Schülerinnen und Schülern behinderungsspezifische Lernangebote macht. Dies geschieht durch eine Fachkraft, welche den Bildungsprozess der etwa 50 sehbehinderten und blinden Schüler durch die Beratung der Beteiligten begleitet. Außerdem bietet das Blindenzentrum in Bozen bei Bedarf Kurse zur Vermittlung der behindertenspezifischen Techniken an.

Indirekt finanziert die öffentliche Hand dieses Konzept über ihre Beiträge mit. Es hängt jedoch vom Engagement einzelner Personen ab, die versuchen, im richtigen Moment das Richtige zu tun. Da es keine Rechtsgrundlage im Schulgesetz für diese Beratungs- und Unterstützungsleistungen gibt, ist der Beratungslehrer auf die Akzeptanz der Eltern, der Schulleiter, der Mitschüler und deren Eltern sowie der Lehrerinnen und Lehrer angewiesen.

Ohne Zweifel gibt es Menschen, für die ein regulärer Schulabschluss trotz optimaler Förderung nicht erreichbar ist, doch was ist mit dem Großteil behinderter Menschen, die trotz Behinderung zumindest durchschnittlich intelligent sind? Genau diese Menschen fallen in Italien durch. Auch dann, wenn die Selbsthilfe die Ausbildung in den behindertenspezifischen Techniken anbietet? - Ja, leider auch häufig. Denn die Vermittlung der blinden- und sehbehindertenspezifischen Kenntnisse und Fertigkeiten erfolgt additiv und nicht inklusiv. Das kostet die Schüler zusätzliche Kraft, und der Unterricht in der allgemeinen Schule wird dadurch auch nicht besser (im Sinne einer spezifischen Didaktik). Ein Heranwachsender ist durch den Regelschulstoff ausgelastet. Er hat ein Recht auf Freizeit und Familienleben und braucht für eine gesunde Entwicklung - wie jeder andere auch - Zeit für sich selbst.

Neben dieser zusätzlichen äußeren Belastung muss er dem Erkenntnisprozess seiner Andersartigkeit standhalten (Auf die psychische Belastung möchte ich an dieser Stelle aber nicht eingehen). Man sollte sich bewusst machen, dass die meisten behinderten Schülerinnen und Schüler insbesondere während der Pubertät versuchen, "normal" zu sein und bei diesem Vorhaben kläglich scheitern, weil sie einfach nicht "normal" sind. Die Besonderheit bei behinderten Schülerinnen und Schülern besteht darin, dass sie mit ihrer Andersartigkeit im inklusiven Schulsystem in der Regel allein sind, was den Anpassungsdruck nochmal deutlich erhöht. - Psychosoziale Unterstützung durch das Schulsystem? - Fehlanzeige. Eine weitere Schattenseite des italienischen Systems der schulischen Inklusion ist die Tendenz, Schülerinnen und Schülern zusätzliche Diagnosen zuzuschreiben, um die Vorteile des Fördersystems zu nutzen (zusätzliche Lehrkraft, Abschieben von Verantwortung für Leistungsdefizite des Lehrers etc.). Das italienische Inklusionssystem fördert die Zuschreibung von immer neuen Diagnosen (ADHS, Dyskalkulie, Legasthenie, Lernschwäche, etc.), die während des Regelunterrichts kaum beeinflusst werden können, aber die Zahl der behinderten Schülerinnen und Schüler künstlich erhöhen. Sie werden teilweise mit Diagnosen so lange eingedeckt, bis die Förderung beantragt oder aufgestockt werden kann. - Das Fehlen eines geordneten Verfahrens zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs durch fachkundige Sonderpädagogen führt hier zu sehr unerfreulichen Nebenwirkungen nicht nur für die Kinder, sondern auch für das Schulsystem selbst.

Wie kann es aber sein, dass trotz dieser grundlegenden Kritik dennoch Menschen mit Behinderungen mit Studienabschlüssen aus dem inklusiven, italienischen Schulsystem hervorgehen? In jeder Gesellschaft gibt es Menschen, die sich trotz aller Widrigkeiten durchsetzen. Ausgeprägte soziale Intelligenz kann Menschen zusammenführen, die sich gemeinsam tragen. Starke Umfelder, die kraftvoll handeln und Dinge in Bewegung bringen, tragen genauso. Ehrgeiz und Intelligenz schaffen Handlungsspielraum. In den Biographien der Betroffenen, die sich durchsetzen konnten, findet man durchgehend solche und ähnliche Fähigkeiten. Diese Einzelfälle sind also keineswegs ein Beleg für den Erfolg des Schulsystems, sondern ein Beleg dafür, dass es auch unter behinderten Menschen begabte und weniger begabte, durchsetzungsfähige und weniger durchsetzungsfähige Menschen gibt.

Von etwa 1.100 hochgradig sehbehinderten und blinden Personen in Südtirol sind nur etwa 90 berufstätig, was natürlich auch an der Altersverteilung liegt. Von den 90 Personen übt gerade mal eine Hand voll trotz Vollbeschäftigung in Südtirol eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aus, von der sie finanziell autonom leben kann. Der überwiegende Teil arbeitet auf geschützten Arbeitsplätzen oder in einer Behinderteneinrichtung.

Wenn es in Südtirol nach bald 40 Jahren normal wäre, dass behinderte mit nicht behinderten Kindern gemeinsam lernen, würden Mütter über Aussagen wie "Ich bin dankbar, dass mein Kind jemanden wie Aaron zum Mitschüler hat" nicht mit Freude, sondern Verständnislosigkeit reagieren. Südtirol ist alles andere als ein Paradies für Menschen mit Behinderungen. Der Traum von einem ganz normalen Leben wird in Südtirols Bergdörfern genauso wie in Niederbayern oder an der Ostseeküste weitergeträumt.


Unterstützung für blinde und sehbehinderte Menschen beim (Wieder-)Einstieg in Ausbildung, Beruf und Existenzgründung

Wo behinderte und nichtbehinderte Menschen professionell in Teams zusammenarbeiten, liegt der Keim für eine neue Kultur der Vielfalt, dabei geht es z.B. um das (Selbst-)Bewusstsein über die große Bandbreite individueller Potenziale, um flexiblere und effizienzorientierte Verteilung von Aufgaben und Zuständigkeiten, um innovative Lösungen, neue Produkt- und Geschäftsideen: Unter dem gemeinsamen Dach "Innovation und Inklusion" haben daher die blista und das Kompass Zentrum für Existenzgründungen ihre Initiativen zur Arbeitsmarktintegration und Unterstützung von Gründungsvorhaben im letzten Jahr zusammengeführt. Die beiden kooperativen Pilotprojekte werden gefördert aus Mitteln des Hessischen Sozialministeriums und aus Mitteln der Europäischen Union - Europäischer Sozialfonds.

Kompetenzorientierter Ansatz "auf Augenhöhe"

Als Kompetenzcenter für Eingliederung und Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt macht sich die blista dafür stark, dass blinde und sehbehinderte Menschen erfolgreich und gezielt im Beruf oder in einer Ausbildung ankommen. Im blista-Pilotprojekt "Inklusion & Innovation" wird der Fokus auf den kompetenzorientierten Ansatz gelegt: Es geht darum, blinde und sehbehinderte Arbeitssuchende durch eine gute Standortanalyse, eine sehbehinderten- und blindenspezifische Bewerbungsbegleitung, durch gezielte Qualifizierung und ein barrierefreies Vermittlungs-Coaching zu unterstützen. Nach einem unverbindlichen Erstgespräch erstreckt sich das Angebot bis zu einer erfolgreichen Platzierung in Praktikum, Ausbildung, Beruf oder Existenzgründung bzw. über einen Zeitraum von sechs Monaten. Nach Abklärung der fachlichen, sozialen, beruflichen und behinderungsspezifischen Kompetenzen werden die realistischen beruflichen Ziele gemeinsam entwickelt. Unter Berücksichtigung unternehmensseitiger Anforderungen wird die Umsetzung individuell und Schritt für Schritt unterstützt.

Die Teilnehmenden nehmen dabei die Räumlichkeiten und die sehbehinderten- bzw. blindengerechten Arbeitsplatzausstattungen des blista-Beratungszentrums in Anspruch. Hinzu kommen eigenständige Umsetzungen von vereinbarten Arbeitsaufgaben und Exkursionen zu den inklusiven Veranstaltungen und Workshops im Frankfurter Gründerzentrum Kompass.

Exakt zugeschnitten auf den individuellen Bedarf stehen u.a. die folgenden Module zur Auswahl:

  • Eingangs-Assessment
  • Sehbehinderten- und blindengerechtes Bewerbungstraining
  • Barrierefreies Vermittlungscoaching
  • Kompass-Workdays:
  • Unternehmerisch denken und handeln
  • Wie stelle ich meine Fähigkeiten und Kompetenzen dar?
  • Ideen-Workshop zu Existenzgründung und Selbständigkeit
  • Austausch und Vernetzung als Grundlage von Ideenschmieden

Punktlandung mit "Ideen-Schmieden"

Die Anforderungen an Unternehmen sind oft schnelllebig, komplex und vielseitig. Durch den Kompetenzerwerb im unternehmerischen Denken bauen die blinden und sehbehinderten Teilnehmenden ihre Beschäftigungsfähigkeit aus. Die unternehmerische Wertschöpfungskette vor Augen zu haben, hilft beim Gespräch mit potenziellen Arbeitgebern wie auch bei der Entwicklung von Ideen rund um Selbständigkeit und Existenzgründung.

Auch in den "Ideen-Schmieden" und "Innovations-Workshops" des Kompass-Pilotprojekts zeichnete sich die spannende Dynamik innerhalb dieses neuen Kooperationsmodells unter dem gemeinsamen Dach "Innovation & Inklusion" ab: Für die Start-up-Teams und jungen Unternehmen im Kompass-Pilotprojekt sind es nicht die Einschränkungen, die zählen, sondern in erster Linie geht es um individuelle Kompetenzen. Sie sind offen für inklusionsorientierte Geschäftsideen und interessiert an der Entwicklung von barrierefreien Produkten. In der Praxis erreicht die gemeinsame Initiative bereits die angestrebten Erfolge bei der Arbeitsmarktintegration.

Kontakt:

Deutsche Blindenstudienanstalt e.V.

Reha-Beratungszentrum

Biegenstraße 20 ½

35037 Marburg

Telefon: 06421 606-500

E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Ute Mölter ist die Leiterin des Reha-Beratungszentrums, Annette Wege Fachfrau zur beruflichen Integration blinder und sehbehinderter Menschen.


Marburg erhält Kompetenzzentrum für Blindenpädagogik

Philipps-Universität und Deutsche Blindenstudienanstalt vereinbaren bundesweit einmalige Kooperation

Die Philipps-Universität und die Deutsche Blindenstudienanstalt e.V. (blista) intensivieren ihre Zusammenarbeit. Am 11. Juni 2014 haben Uni-Präsidentin Professorin Dr. Katharina Krause und blista-Vorsitzender Claus Duncker, im Beisein von Stephan Peters, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Blindenstudienanstalt, einen weitreichenden Kooperationsvertrag unterzeichnet. Die Vereinbarung umfasst die Entwicklung und Einrichtung eines neuen Zertifikatskurses "Grundlagen inklusiver Bildung bei Blindheit und Sehbehinderung", der im November 2014 starten wird. Darüber hinaus wird die Fortführung des berufsbegleitenden Weiterbildungsstudiengangs "Blinden- und Sehbehindertenpädagogik" festgelegt, den blista und Universität seit 2010 zusammen anbieten. Koordiniert werden beide Angebote von einer gemeinsam finanzierten Kooperationsstelle, die darüber hinaus auch für zukünftige forschungs- und lehrbezogene Kooperationsprojekte verantwortlich zeichnen wird. Die Vereinbarung gilt zunächst bis 2017.

"Der heute unterzeichnete Kooperationsvertrag zwischen der Philipps-Universität Marburg und der Deutschen Blindenstudienanstalt ist ein herausragender Meilenstein in der langen und erfolgreichen Zusammenarbeit beider Institutionen", betonte die Uni-Präsidentin. Professor Dr. Wolfgang Seitter, Beauftragter der Philipps-Universität für wissenschaftliche Weiterbildung, erläuterte: "Der Vertrag trägt dazu bei, die bisherige Kooperation in Forschung, Lehre und Weiterbildung im Kontext von Sehbehinderung und Blindheit sowie Inklusion weiter zu vertiefen und auszubauen sowie gemeinsam neue Handlungsfelder zu erschließen." Einen wesentlichen Beitrag hierzu werde die am Fachbereich Erziehungswissenschaften neu eingerichtete Kooperationsstelle sowie das neue Weiterbildungsangebot "Grundlagen inklusiver Pädagogik bei Blindheit und Sehbehinderung" leisten.

Die Unterzeichnung der Vereinbarung mit der Philipps-Universität Marburg sei für die blista ein wichtiger Schritt, ihre Angebote und die Qualität ihrer Arbeit zukunftsorientiert auszurichten, erklärte Direktor Claus Duncker. "Unsere Gesellschaft hat sich die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zur Aufgabe gemacht. Die volle und gleichberechtigte Teilhabe von blinden und sehbehinderten Menschen am gesellschaftlichen Leben gilt es zu verwirklichen. Damit eine Unterstützung in allen Lebensphasen sinnvoll gelingen kann, bedarf es einer hohen Qualität der Prozesse und einer großen Kompetenz aller an diesem Prozess Beteiligten", fuhr er fort. "Durch diese einzigartige Kooperation zwischen der Universität Marburg und der Deutschen Blindenstudienanstalt wird Marburg zu einem der wichtigsten Kompetenzzentren in der Pädagogik und Rehabilitation blinder und sehbehinderter Menschen in Deutschland", unterstrich er.

Renate Reymann, Präsidentin des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes, bestätigte den dringenden Bedarf: "Damit blinde und sehbehinderte Schülerinnen und Schüler den jeweils bestmöglichen Bildungsabschluss erreichen können, brauchen sie behinderungsspezifische Unterstützung. Mit ihrer Kooperation werden die Marburger Philipps-Universität und die Deutsche Blindenstudienanstalt dazu beitragen, dass das benötigte blinden- und sehbehindertenspezifische Know-how zur Verfügung steht. Die bundesweite Selbsthilfe erwartet, dass Schulen und Bildungsverwaltungen Angebote, wie in Marburg, nun auch verstärkt nutzen, denn die UN-Behindertenrechtskonvention schreibt "geeignete Maßnahmen zur Einstellung von Lehrkräften (...) und zur Schulung von Fachkräften sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf allen Ebenen des Bildungswesens" zwingend vor." Der Weiterbildungsmaster Blinden- und Sehbehindertenpädagogik ist ein berufsbegleitender und kostenpflichtiger Studiengang im Bereich der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik. Er ermöglicht Studierenden, die bereits ein Lehramtsstudium abgeschlossen haben, den Zugang zur Zusatz-/Erweiterungsprüfung "Sonderpädagogik Blinden- und Sehbehindertenpädagogik". Neben den sonder- und rehatypischen Inhalten einer sonderpädagogischen Zusatzqualifikation liegt der Schwerpunkt auf zwei Spezialisierungen der Marburger Erziehungswissenschaften: Wahrnehmungs- und Bewegungsförderung sowie Beratung. Der Studiengang qualifiziert dazu, blinde und sehbehinderte Menschen in ihrer Bildung und Entwicklung zu fördern und zu unterstützen. Das neue Angebot "Grundlagen inklusiver Bildung bei Blindheit und Sehbehinderung" ist für alle konzipiert, die Interesse an einer inklusiven Arbeit mit Menschen mit Sehbeeinträchtigungen haben oder in diesem Feld tätig sind und auf eine zertifizierte, einschlägige Qualifikation Wert legen. Im Laufe eines Jahres erwerben die Zertifikatsteilnehmer berufsbegleitend Kenntnisse in Feldern wie Pädagogik und Soziologie der Rehabilitation und Inklusion, rechtliche Grundlagen von Inklusion, Grundkenntnisse in Psychologie und Diagnostik bei Blindheit und Sehbehinderung, Grundlagen der Ophthalmologie, Audiologie und Sehhilfenanpassung sowie diverse Praxisschulungen an der Rehabilitationseinrichtung der blista.

Den Rahmen für diese Lehrangebote bildet "WM³ Weiterbildung Mittelhessen", ein Verbundprojekt der drei mittelhessischen Hochschulen. Es wird aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und aus dem Europäischen Sozialfonds der Europäischen Union gefördert.

Weitere Informationen: Deutsche Blindenstudienanstalt: www.blista.de; Master Blinden- und Sehbehindertenpädagogik: www.uni-marburg.de/fb21/studium/studiengaenge/wb-bsp; Zertifikatskurs "Grundlagen inklusiver Bildung bei Blindheit und Sehbehinderung": www.uni-marburg.de/fb21/studium/studiengaenge/grip-bs

Ansprechpartner: Prof. Dr. Wolfgang Seitter, Beauftragter der Philipps-Universität für wissenschaftliche Weiterbildung, Tel. 06421/28-23022, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Claus Duncker, Direktor der Deutschen Blindenstudienanstalt e.V., Tel. 06421/606-0, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!


Recht

"Österreich auf dem richtigen Weg"

Interview mit Alexander Niederwimmer und Gerhard Höllerer, den ersten blinden Richtern in Österreich

Nachdem sich Österreichische Blindenorganisationen, Parlamentarier und auch der DVBS in den vergangenen Jahren energisch dafür eingesetzt hatten (siehe horus 1/2013 und 3/2013), wurden mit Dr. Alexander Niederwimmer und Gerhard Höllerer in Österreich im Juli 2013 erstmals zwei blinde Menschen zu Richtern gewählt. Beide nahmen ihren Dienst im neu geschaffenen Verwaltungsgerichtshof zum 1. Januar 2014 auf. Im horus-Interview berichten Dr. Alexander Niederwimmer (Richter am Bundesverwaltungsgericht Österreich, Außenstelle Linz) und Gerhard Höllerer (Richter am Bundesverwaltungsgericht Österreich, Außenstelle Wien) über die ersten sechs Monate ihrer neuen Tätigkeit.

horus: Wie sind Ihre ersten sechs Monate im neuen Amt verlaufen?

Niederwimmer: Die ersten Monate waren geprägt vom Strukturaufbau in der neuen Organisation. So wurden die diversen blindenspezifischen Programme den vorhandenen EDV-Strukturen angepasst. Nach und nach wurde nach einigen Wochen der Normalbetrieb aufgenommen. Mit März wurden die ersten Akten einer Bearbeitung zugeführt und die ersten Entscheidungen getroffen.

Höllerer: Die ersten sechs Monate sind verflogen. Wir konnten schon eine Menge Entscheidungen treffen und Ergebnisse nach außen tragen.

horus: Was sind Ihre Aufgaben und wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus?

Niederwimmer: Neben dem Behindertenwesen gehört auch das Ausländerbeschäftigungsgesetz, die Behandlung von Schubhaftbeschwerden und damit verknüpft die Erledigung von Maßnahmenbeschwerden und das Fremdenrecht zu meinen Aufgaben. Nach einer ersten Auswertung sind meine Erledigungszahlen genauso hoch wie bei den sehenden Kollegen. Natürlich ist die Zeit auch davon geprägt, das fachspezifische Wissen zu erweitern.

Höllerer: Meine Arbeit gestaltet sich unglaublich vielfältig: Ich beschäftige mich mit den Bereichen Soziales, d.h. der Einstufung des Grades der Behinderung, Einstellung von Behinderten, Entschädigungen für Verbrechens- und Kriegsopfer, Opferfürsorge, Impfschäden, Arbeitnehmerschutz und Arbeitsmarkt bzw. Arbeitslosigkeit.

horus: Hat sich der Presserummel inzwischen gelegt?

Niederwimmer: Der Presserummel hat sich mittlerweile auf ein geringes Maß reduziert.

Höllerer: Ja, der Rummel hat sich gelegt. Zuletzt wurde über die ersten 100 Tage im Amt berichtet und im April hatten wir die Presse beim "Girl"s Day" zu Gast. Zu diesem Tag wurden blinde Schülerinnen aus dem Blindeninstitut eingeladen, um die Arbeit im Gericht kennen zu lernen. Es hat mir große Freude gemacht, den Mädchen meine Arbeit zu zeigen und ich habe sie hoffentlich motivieren können, auch als blinde Menschen ihre Berufswünsche zu verfolgen.

horus: Wie ist Ihre Einschätzung: Ein erster Schritt in Richtung Teilhabe ist getan, gibt es bereits jetzt Tendenzen, weitere blinde und sehbehinderte Kolleg/innen zu beschäftigen?

Niederwimmer: Hinsichtlich der Einführung kann ich nur sagen, dass der Anfang gemacht wurde. Die Verantwortlichen, unter ihnen der Präsident des BVWG, haben diesen Zustand geändert, weshalb ihnen dafür auch zu danken ist! Gegenwärtig ergab sich noch keine Situation, bei welcher die Blindheit ein wesentliches Problem darstellte. So wie ich die Organisation bisher kennen gelernt habe, steht der Aufnahme von weiteren Blinden bzw. sehbehinderten Richtern, soweit die persönliche und fachliche Qualifikation gegeben ist, nichts im Wege. Meines Erachtens ist es nur eine Frage der Zeit, dass blinde Richter auch in der ordentlichen Gerichtsbarkeit Recht sprechen werden. Andere Länder sind diesbezüglich etwas fortschrittlicher. Anzuführen ist in diesem Zusammenhang die Bundesrepublik Deutschland, wo neben blinden Richtern auch blinde Staatsanwälte in der Gerichtsbarkeit tätig sind. Österreich hat aber mit der Aufnahme von zwei blinden Richtern den richtigen Weg beschritten und wird ihn hoffentlich weiter beschreiten!

Höllerer:Ergänzend ist zu sagen, dass aktuell alle Richterstellen in Österreich besetzt sind und gerade keine Neueinstellungen geplant sind.

horus: Wie fällt Ihr ganz persönliches Fazit der ersten sechs Monate aus?

Höllerer: Es macht irrsinnig viel Spaß! Es freut mich vor allem, dass ich endlich das umsetzen kann, was man im Studium gelernt hat und endlich das Gesetz anwenden kann - das war in meiner früheren Tätigkeit in der Verwaltung so nicht möglich.


"Mit etwas gutem Willen"

Wie eine hochgradige Sehbehinderung, im Lichte der Inklusion, zur Bagatelle wird

Anfang dieses Jahres erhielt die rbm (gemeinnützige GmbH Rechte behinderter Menschen) einen Beschluss des Sozialgerichts Koblenz, nach dessen Kenntnisnahme ich sofort wusste, dass ich genau diesen Artikel schreiben muss. Der Grund für diese Erkenntnis war insbesondere eine Passage aus dem Beschluss, die eine Einstellung zum Thema Behinderung zeigt, die wir seit einer gewissen Zeit immer stärker wahrnehmen und die sicher nicht zuletzt auch der Diskussion um eine verstärkte inklusive Gestaltung unseres Schulsystems geschuldet ist und dringend der Kommentierung bedarf. Was war geschehen?

Ende letzten Jahres suchte ein 17-jähriger Schüler eines privaten Gymnasiums in Rheinland-Pfalz den Rat der rbm. In den vorangegangenen eineinhalb Jahren hatte sich sein Sehvermögen rapide verschlechtert und trotz der Unterstützung durch die dortige Landesschule für blinde und sehbehinderte Schüler und einer erheblichen Aufgeschlossenheit der besuchten Schule war der Elftklässler am Ende seiner Kräfte. Zum einen klappte es mit den vereinbarten Hilfen nicht so wie eigentlich abgesprochen, das heißt, die Hilfsmittelnutzung war problematisch, Lernmaterialien wurden nicht sehbehindertengerecht aufbereitet, Nachteilsausgleiche wie Zeitverlängerungen in Klausuren waren schwierig und nur teilweise durchzusetzen und vieles mehr.

Die Folge dieses harten alltäglichen "Schulkampfes" und der zusätzlich ja noch zu bewerkstelligenden Verarbeitung der massiven Sehverschlechterung waren Schlafstörungen, Antriebslosigkeit und nicht zuletzt die Erkenntnis, dass es so nicht weitergehen würde. Nach einem Besuch der blista fasste er den Entschluss, an diese Einrichtung zu wechseln und stellte einen Antrag bei seinem zuständigen Sozialhilfeträger. Dieser lehnte mit der Argumentation ab, "…dass zwar der Wunsch nachvollziehbar sei, dass der Antragsteller die bestmögliche Förderung und Unterstützung für seine schulische Bildung erhalten wolle. Aber auch wenn sich die Teilnahme des Antragstellers im Schulbetrieb aufgrund der aktuellen Sehfähigkeit nicht immer einfach gestalte, scheine er das Ziel der erreichbaren Schulbildung zu erreichen. Gewiss wäre es wünschenswert, wenn der Antragsteller die Fördermöglichkeiten der Carl-Strehl-Schule in Marburg in Anspruch nehmen könnte. Es sei allerdings nicht das Ziel der angemessenen Schulbildung, eine bestmögliche Schulbildung anzubieten. Eine angemessene Schulbildung sei nicht mit einer optimalen Schulbildung gleichzusetzen. Könne an der bislang besuchten Schule eine angemessene Schulbildung vermittelt werden, stehe dem Begehren, den Besuch einer anderen Schule durch Eingliederungshilfen zu fördern, der Nachrang der stationären vor ambulanten Hilfen (§ 13 Abs. 1 Satz 2 SGB XII) entgegen. Dass der Bedarf am bisher besuchten Gymnasium gedeckt werden könne, ergebe sich aus dem vorliegenden Zeugnis der 10. Klasse, in denen befriedigende Leistungen erbracht worden seien".

Die Zurückweisung des Antrags

So weit, so schlecht, aber der Bescheid des Sozialhilfeträgers überraschte uns nicht, denn diese Art von Argumentation war uns durchaus bekannt. Aufgrund der Tatsache, dass in Rheinland-Pfalz ab dem 2. Halbjahr der Jahrgangsstufe 11 die Noten Abiturrelevanz haben, rieten wir, trotz nur einer mäßigen Dokumentation der Situation, zu einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Immerhin hatte der Direktor des besuchten Gymnasiums selbst eingeräumt, dass der Umgang mit der Behinderung des Schülers im Alltag doch erhebliche Probleme mache und dass man ihm in seiner speziellen Problemstellung - trotz aller Bemühungen - nicht gerecht werden könne. Zugegebenermaßen waren wir nur bedingt optimistisch und es war uns klar, dass es schon eines sensiblen Richters bedurfte, um eine positive Entscheidung zu erhalten. Einige Passagen aus der Begründung der Zurückweisung des Antrags lassen jedoch tief blicken und sind extrem interessant. So heißt es in der Entscheidung u. a. fast wörtlich: Bei seiner Entscheidung geht das Gericht nach dem derzeitigen Sachstand davon aus, dass der Besuch des Gymnasiums der blista in Marburg nicht erforderlich ist, um die schulische Integration des Antragstellers sicherzustellen. Denn die Beschulung des Antragstellers ist auch bei einem weiteren Besuch des bisher besuchten Gymnasiums gewährleistet. Die Stellungnahmen des Schulleiters belegen nicht das Gegenteil. Aus Sicht des Gerichts erscheint es jedoch erforderlich, dass die Schule weitere Anstrengungen unternimmt, um derzeit bestehende Defizite in Bezug auf die Beschulung des Antragstellers möglichst schnell abzubauen. So müsste zunächst die Schulleitung darauf hinwirken, dass alle Lehrer, die in der Klasse des Antragstellers eingesetzt sind, auf die bestehende Behinderung mehr Rücksicht nehmen. Erforderlich wäre insofern in jedem Fall die konsequente Umsetzung der Hinweise, die die Förderschullehrerin für den Unterricht des Antragstellers gegeben hat. Hierbei handelt es sich insbesondere um technische Maßnahmen, wie die Herstellung von Arbeitsblättern und Unterrichtsmaterialien mit vergrößerter Schrift, die sehr leicht umzusetzen sind. Damit wäre dem Antragsteller - auch nach eigener Aussage - jedoch bereits in einer Vielzahl von Einzelfällen geholfen. Im Hinblick auf Aufsichtsarbeiten zählt hierzu die Festlegung eines Nachteilsausgleichs.

Darüber hinaus müssten die Lehrkräfte darauf hingewiesen werden, dass dem Antragsteller ausreichend Zeit gegeben wird, seine technischen Hilfsmittel einzusetzen, gegebenenfalls müsste der Antragsteller auch mit weiteren technischen Hilfsmitteln, wie z. B. einem Monokular, ausgestattet werden. Derzeit bestehende Defizite im schulischen Alltag, wie sie der Antragsteller beschrieben hat und die aus Sicht des Gerichts mit ein wenig gutem Willen relativ leicht zu beheben sind, gehen nicht zu Lasten des Sozialhilfeträgers. Sie sind zunächst mit der Schule und den dort zuständigen Stellen, notfalls mit der Schulaufsicht, zu klären.

Sollte dies jedoch - wider Erwarten - nicht möglich sein, bedeutet dies noch nicht, dass der Antragsteller nur auf dem Gymnasium in Marburg ausreichend beschult werden kann. Denn aus Sicht des Gerichts kann eine bedarfsgerechte Beschulung näher am Wohnort erfolgen, z. B. auf dem Gymnasium in … Hierbei handelt es sich um ein Gymnasium, das seinen Schwerpunkt auf die Integration körperlich beeinträchtigter Kinder und Jugendlicher aller Jahrgangsstufen legt. Es werden körperlich behinderte und nicht behinderte Schüler gemeinsam unterrichtet. Die Schule bietet insoweit räumliche und strukturelle Barrierefreiheit auf dem Schulgelände, im gesamten Gebäude sowie im Unterrichtsalltag. Dem Internetauftritt der Schule ist zu entnehmen, dass auch sehbeeinträchtigte Schüler gefördert werden. Neben dem Einsatz von spezifischen Medien für sehgeschädigte Schüler (Brailleschrift, Großdruck, Repräsentationsmedien zum Abtasten, technische Hilfsmittel) wird auf die Verbalisierung von Unterrichtsgegenständen und -materialien durch Klassenkameraden oder die Lehrkraft Wert gelegt. Viele Materialien können im Vorfeld von Integrationshelfern oder der Förderlehrkraft entsprechend aufbereitet werden. Darüber hinaus besteht eine Kooperation mit der Landesschule für Blinde und Sehbehinderte. In diesem Rahmen geben ausgebildete Förderschullehrkräfte Tipps für den Unterricht und bereiten Unterrichtsmaterialien vor. Darüber hinaus wird den besonderen Belangen der sehbeeinträchtigten Schüler durch Festlegung eines individuellen Nachteilsausgleichs Rechnung getragen. Formen des Nachteilsausgleichs sind hierbei Förderunterricht, Kopieren von Mitschriften von Tafelbildern, Zeitverlängerung bei schriftlichen Leistungsnachweisen, Bearbeitung von Leistungsnachweisen in einem gesonderten Raum, Erledigung von Aufgaben am Computer, auch sprachgesteuert, die Benutzung eines Laptops im Unterricht, Einzeldiktate, Schreibhilfe durch pädagogische Fachkräfte und Physiotherapie statt Sportunterricht (SG Koblenz, Entscheidung vom 5. Februar 2014, Az.: S 12 SO 4/14 ER).

Einige Fragen

In rein rechtlicher Hinsicht werfen die oben dargestellten Ablehnungsgründe sowohl des Sozialhilfeträgers als auch des angerufenen Sozialgerichts bereits einige Fragen auf und bedürften eigentlich der eingehenden Auseinandersetzung. Da es in diesem Artikel aber gerade nicht um eine streng juristische Bewertung und Aufarbeitung gehen soll, seien diese Fragen hier nur kurz formuliert:

Was ist eine angemessene Schulbildung im Sinne von § 54, Abs. 1, Nr. 1 SGB XII und wie wirkt sich Artikel 24, Abs. 3 UN-Behindertenrechtskonvention, in dem von "bestmöglicher Bildung" gesprochen wird, auf die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Angemessenheit im vorbenannten Sinne aus? Inwieweit ist § 13 SGB XII überhaupt mit den Vorschriften der UN-Behindertenrechtskonvention vereinbar?

Sind Maßnahmen der Eingliederungshilfe nicht notwendig, solange ein behinderter Schüler nur überhaupt versetzt wird oder einen Abschluss macht?

Gibt es ein uneingeschränktes Ermessen des Sozialhilfeträgers bei der Hilfegewährung sowohl beim Ob als auch beim Wie?

Inwieweit darf ein Richter die Einschätzung eines Lehrers in Schulangelegenheiten "einfach" durch sein "Laienverständnis" ersetzen?

Sicherlich Fragen, über die sich auch ein Artikel schreiben ließe, die aber jetzt erst noch Gegenstand des laufenden Verfahrens sein werden. Deutlich höher ist aber meine Motivation, anhand der obigen Ausführungen des Sozialhilfeträgers und noch viel mehr des Sozialgerichtes, den Anlass beim Schopf zu fassen und einmal die Frage aufzuwerfen, inwieweit die Emanzipationsbewegung von behinderten Menschen, aus dem Stadium der Fürsorge, über die Teilhabe zur Inklusion, das Bewusstsein der Gesellschaft geprägt hat und welche Folgen dies mit sich bringt.

Keine Bagatelle

Als ich 1985 - ebenfalls im Alter von 17 Jahren - erblindete, war unter Maßgabe des Fürsorgeprinzips klar, dass eine Erblindung eine "schwerwiegende Sache" ist, um die man sich dringend kümmern muss und dass für die Bewältigung der Situation umfangreiche Maßnahmen zu ergreifen sind. Mithin erhielt ich fast "zwangsverordnet" eine umfangreiche und fundierte blindentechnische Grundausbildung (BtG) und durfte dann fast selbstverständlich eine spezialisierte Einrichtung wie die blista bis zum Abitur besuchen. Es fand mithin eine umfangreiche Rehabilitation statt, die es mir erst ermöglichte, mich mit meiner Behinderung auseinanderzusetzen und in deren Verlauf ich Wege von Fachleuten aufgezeigt bekam, wie ich mit dieser Behinderung Möglichkeiten habe, trotzdem meinen eigenen Weg zu finden.

Nicht verschweigen möchte ich, dass ich selbst schon eine Arbeitsmarktkampagne maßgeblich begleitet habe, mit der der Fokus von Arbeitgebern auf die Stärken und nicht auf die Defizite behinderter Menschen gelenkt werden sollte. Wenn ich allerdings damit dazu beigetragen haben sollte, dass Behinderung oder der Erwerb einer Behinderung damit gesellschaftlich abgetan wird, dass das Umfeld ja nur ein wenig guten Willen zeigen müsste und dann auch schon genug geschehen ist, dann könnten mir Zweifel an der Richtigkeit der damaligen Arbeitsmarktkampagne kommen oder zumindest beschleicht mich das Gefühl, dass jede "Gegenbewegung" auch über das Ziel hinaus wirken kann.

Im Ergebnis komme ich bei meiner Betrachtung aber zu der Erkenntnis, dass es natürlich richtig und wichtig ist, nicht nur über Defizite von behinderten Menschen zu sprechen und das gesellschaftliche Ziel der Inklusion von behinderten Menschen zu unterstützen. Genauso wichtig erscheint mir aber, mit Blick auf den Anlass dieses Artikels darauf hinzuweisen, dass eine Behinderung oder Erwerb einer solchen keine Bagatelle ist und eine intensive und qualifizierte Rehabilitation von behinderten Menschen diese erst "inklusionsfähig" macht. Letztlich kann ich dem Schüler mit den geschilderten Problemen nur wünschen, dass er seinen Weg trotzdem findet, wenngleich ich die Rahmenbedingungen für äußerst kritisch halte.

Anpassungsstörung

Übrigens: Eine psychologische oder psychiatrische Stellungnahme wäre vom Richter nicht so leicht "vom Tisch zu wischen" gewesen. Die vom Hilfesuchenden geschilderten Schlafstörungen und die Antriebslosigkeit deuten massiv auf das anerkannte Krankheitsbild der sogenannten "Anpassungsstörung" hin, die zumeist zeitlich begrenzt fast mit jeder massiven Verschlechterung des Sehvermögens oder einer Erblindung einhergeht, und durchaus der psychologischen oder psychiatrischen Behandlung bedarf und definitiv nicht mit einem bisschen guten Willen der Umwelt behandelt werden kann. Gerade ein solches Gutachten fehlte im vorliegenden Fall aber, weil sich in der Kürze der Zeit kein Psychologe oder Psychiater kurzfristig in der Lage sah, diese Diagnose zu stellen.

Zum Autor

Dr. Michael Richter ist Rechtsanwalt und Geschäftsführer der rbm - Rechte behinderter Menschen gGmbH in Marburg.


Bücher

Hörtipp

Notleidende Projekte: Eine Hilfestellung für IT-Projekte in sieben Akten. Herausgegeben vom Hessischen Ministerium für Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung. (Hessen-IT Band 64)

"Projekt gescheitert" - wenn diese Worte fallen, entsteht mehr Aufmerksamkeit als Beteiligten lieb ist. Gescheiterte Projekte schaffen problemlos Schlagzeilen, vor allem wenn der Schaden in die Millionenhöhe geht. Sicher, viele Besserwisser versuchen, aus dem Horror-Szenario Profit zu schlagen und warten mit guten Ratschlägen auf. Doch die gute Nachricht ist: Jenseits dieser medienwirksamen Häme gibt es viele kleine und große Projekte, die gelingen und Ideen weiter voranbringen. Es könnte sich also lohnen, Ratgeber von Profis zu lesen - vor, während und nach einem Projekt.

Das Autorenteam dieses Ratgebers ist Mitglied im Forum "Hessen-IT" des Hessischen Ministeriums für Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung (hessen-it.de), sie sind selbst Anbieter von IT-Dienstleistungen und -Produkten. Ihr Handbuch hilft, hellhörig zu werden für Indikatoren, die auf eine Projekt-Schieflage hinweisen können. Das Buch ist eine Art Training, genauer zu beobachten und zuzuhören. "Denn die beste Technik und die passende Methode löst noch kein Problem. Sie sind und bleiben Werkzeuge", ist ihre Überzeugung. Idealerweise braucht ein Projekt viel Bereitschaft, reine Technik- und Methodengläubigkeit über Bord zu werfen, Rollen gemäß der Aufgaben zu erfüllen und nicht zur Verteidigung hierarchischer Machtpositionen zu nutzen, die Unternehmenskultur nachhaltig zu verbessern, etwa indem Führungskräfte und Projektleiter Fehlerkultur und Entscheidungstransparenz vorleben.

Für jeden der sieben vorgestellten Themenbereiche aus dem Alltag eines Projektes - vom Projektmeeting über unerwartete Kundenanforderungen bis zur unerwarteten Projektreview - werden kritische Situationen aufgezeigt, die zum Scheitern führen können, aber auch, wie man gegensteuern kann und welche Rettungsanker bestehen. "Die beispielhaft aufgezeigten Maßnahmen sind, jede für sich betrachtet, relativ leicht umsetzbar. Aber bereits einige Maßnahmen führen zu Konsequenzen, die viel mehr Veränderung beinhalten als wir vielleicht wollen, die an unserem Bekannten und Vertrauten rütteln und die deshalb letztlich viel stärker an unsere Persönlichkeit gehen", so die Autoren.

Dialogsituationen leiten die Kapitel unterhaltsam ein. In diesen bühnenreifen Szenen kann der Leser sich selbst oder andere Akteure wiederfinden. Doch wäre es ein Fehler, den Ratgeber in der Sparte "Unterhaltung" abzulegen. Wegen seiner handfesten Hilfestellungen für IT-Projekte ist das Buch durch und durch ein Fachbuch. Ob es um methodisches Erheben von Anforderungen geht, um eine zielgerichtete Entscheidungsvorbereitung, um einen Vorschlag für einen standardisierten Statusbericht, um Grundlagen für eine praktikable Projektsteuerung, um Maßnahmen gegen Vertuschen, Lügen, Sabotieren oder etwa um Risikomanagement als Teil des Projektmanagements - die Lektüre ist eine Empfehlung für alle, denen "ihr Projekt" am Herzen liegt.

Die DAISY-CD ist zu den üblichen Bedingungen erhältlich beim Textservice des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf, Frauenbergstraße 8, 35039 Marburg, Telefon: 06421 94888-22, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!; Bestellnummer 17081, Länge: rund 4 Stunden, Gebühr: 30 Euro.


"Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser"

Verena Benteles Motivations-Buch nun auch in Punktschrift erhältlich

Zwölffache Goldmedaillen-Gewinnerin: "Erst Vertrauen befähigt uns, unsere Potenziale voll auszuschöpfen."

"Kontrolle führt ans Ziel, Vertrauen führt aufs Siegertreppchen." Schon der Klappentext auf Verena Benteles Schwarzschrift-Buch fasst anschaulich zusammen, worum es der geburtsblinden Ausnahme-Sportlerin geht: Die Verschiebung eigener Grenzen und das Gewinnen von Sicherheit - in jedem Lebensbereich, beruflich wie privat. Ihr im Februar erschienenes Buch "Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser" liegt nun auch als Punktschrift-Version vor. Darin erläutert die zwölffache Paralympics-Goldmedaillen-Gewinnerin ebenso mitreißend wie unterhaltsam anhand eines mentalen Übungsprogramms ihre Philosophie des Vertrauens. Das Ganze angereichert mit zahlreichen persönlichen Anekdoten und Erfahrungsberichten.

Bentele, die 2001 ihr Abitur an der Deutschen Blindenstudienanstalt (blista) in Marburg abgelegt hat, ist fest davon überzeugt: Erst Vertrauen befähigt uns, unsere Potenziale voll auszuschöpfen. Sie muss es wissen, ist die heutige Personal-Trainerin, SPD-Politikerin und Behindertenbeauftragte der Bundesregierung doch mehr als andere auf einen gewissen Vertrauens-Vorschuss gegenüber ihren Mitmenschen angewiesen. Auf gut 200 Punktschrift-Seiten lernt man eine tatkräftige, kreative, selbstkritische und humorvolle Sympathieträgerin kennen, die sich auch durch Rückschläge wie ihren schweren Ski-Unfall im Jahr 2009 nicht entmutigen lässt. Sie schreibt so, wie sie durchs Leben geht: locker, offen und nahbar. Nicht-Sportler werden sich möglicherweise an einige Sportbegriffe gewöhnen müssen, aber das ist ohne Weiteres machbar und schmälert das Lesevergnügen keineswegs. Kreativer Einfall am Ende: In ihrer "Blindipedia" gibt Bentele witzige und prägnante Antworten auf typische Fragen rund ums Thema Blindheit, die ihr Sehende häufig stellen.

Fazit: Kein typischer Lebensratgeber, wie es sie zu Tausenden gibt, sondern ein außergewöhnlicher Erfahrungsbericht einer außergewöhnlichen Frau.

Bentele, Verena: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser

Die Punktschriftausgabe kann ab sofort zum Preis von 43 € plus Verpackungskosten bei der Deutschen Blindenstudienanstalt e.V. (blista) unter 06421/6060 oder Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! bestellt werden. Bestell-Nr. K4768, reformierte Kurzschrift, 2 Bde., 266 S.


Kurt Jacobs: Respektvolle Begegnungen

Warum ist es für blinde Menschen besonders wichtig, dass jedes Ding seinen ordentlichen Platz hat? Darf man Witze machen über Menschen mit Behinderungen? Wie kann man Hilfe respektvoll anbieten? Ob jung oder alt - viele Menschen fühlen sich gehemmt im Umgang mit beeinträchtigten Mitbürgerinnen und Mitbürgern. Manch eine lässt ihren Voreingenommenheiten freien Lauf, manch anderer ist verunsichert und sieht betreten weg - der Weg zu einem selbstverständlichen, aufgeklärten Miteinander ist vielerorts noch weit.

"Fürsorge und Bevormundung wurden und werden von behinderten Menschen nicht länger als Handlungsmaxime vonseiten der nichtbehinderten Gesellschaft geduldet und durch das Lebensziel "Selbstbestimmung und volle soziale Partizipation" ersetzt", erklärt Professor Kurt Jacobs. Der engagierte Behindertenbeauftragte der Stadt Hofheim am Taunus legt mit seinem jüngsten Werk den Fokus auf den Artikel 8 der UN-Behindertenrechtskonvention. Unter dem Titel "Respektvolle Begegnungen" informiert die Publikation über Sichtweisen von Menschen mit unterschiedlichen Formen von Behinderungen, sie stellt Perspektiven vor und erläutert Positionen und Probleme. Die Beiträge seiner Mitarbeiter Irene Alberti, Andrea Bröker und Michael Herbst unterstreichen die Bedeutung der Bewusstseinsbildung eindrücklich. Frei davon, den "moralischen Zeigefinger" zu erheben, geht es dem Autor vor allem um das Überwinden mentaler Barrieren.

Die lesenswerte Lektüre richtet sich an alle, die mit einem angemessenen und unbefangenen Umgang selbst aktiv zum Gelingen einer inklusiven Gesellschaft beitragen möchten. So viel sei schon vorab verraten: Dass möglichst jedes Ding seinen ordentlichen Platz hat, ist eine wichtige Regel, die blinde Menschen in ihrer Unabhängigkeit unterstützt. Witze? Warum nicht: "Sonderschonungsrechte", so der Leitfaden, brauche es nicht, stattdessen wartet er mit humorvollen "Kostproben" auf. Und respektvoll Hilfe anbieten ist nicht schwer: Mit "gut gemeint" ist es allerdings nicht getan. "Fragen Sie also die Person, ob sie Hilfe braucht und wie Sie ihr helfen können, denn das weiß der oder die Betroffene meist selbst am besten."

Kurt Jacobs, Respektvolle Begegnungen gemäß Artikel 8, Bewusstseinsbildung, BRK, Berlin 2014, 156 Seiten, ISBN 978-3-9814923-3-0.

Die Publikation ist zu beziehen über die Stiftung Rehabilitationszentrum Berlin-Ost, Allee der Kosmonauten 23b, 10315 Berlin. Eine DAISY-Version ist zum Preis von 10 Euro bei atz Hörmedien für Sehbehinderte und Blinde e.V. erschienen. Bestellmöglichkeiten: Tel.: 05531 7153, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!


Buchtipps aus der blista

Nürnberger, Christian: Mutige Menschen - für Frieden, Freiheit und Menschenrechte Stuttgart: Gabriel, 2014

Bestell-Nr. 4720, reformierte Kurzschrift (KR), 3 Bde., 444 S., 64,50 €; auch als Blindenschrift-DAISY-CD mit synthetischer Stimme erhältlich

Christian Nürnberger, Autor bei der "ZEIT" und der "Süddeutschen Zeitung", erzählt von mutigen Frauen und Männern, die Dinge anders sehen, etwas Neues wagen und mit den bisherigen Traditionen ihrer Zeit und ihrer Gesellschaften brechen - und dabei nicht selten einer allmächtig erscheinenden Übermacht die Stirn bieten. Nürnberger porträtiert die Lebenswege und das Wirken so unterschiedlicher Persönlichkeiten wie Ayaan Hirsi Ali, Peter Benenson, Bärbel Bohley, Bartolomé de Las Casas, Mahatma Gandhi, Martin Luther, Wangari Maathai, Nelson Mandela, Rosa Parks, Anna Politkowskaja, Alice Schwarzer und Bertha von Suttner.

Chamovitz, Daniel: Was Pflanzen wissen. Wie sie sehen, riechen und sich erinnernMünchen: Hanser, 2013

Bestell-Nr. 4727, reformierte Kurzschrift (KR), 2 Bde., 266 S., 43 €; auch als Blindenschrift-DAISY-CD mit synthetischer Stimme erhältlich

Das Basilikum auf Ihrer Fensterbank mag nicht nur keine Kälte, es sieht auch, ob Sie das Licht angelassen haben - und es spürt, wenn Sie es rupfen. Nicht nur Menschen, auch Kirschblüten können sich an gutes Wetter erinnern. Der renommierte Biologe Daniel Chamovitz hat einen eindrucksvollen Führer durch die Sinneswelt der Pflanzen geschrieben. Nach der Lektüre dieses Buches wird man wohl nicht mehr so schnell achtlos auf herumliegendes Gestrüpp treten. Oder um es mit dem britischen "Guardian" auszudrücken: "Dieses Buch wird Ihren Blick auf den Garten für immer verändern."

Scherf, Henning: Altersreise. Wie wir alt sein wollenFreiburg: Herder, 2013

Bestell-Nr. 4729, reformierte Kurzschrift (KR), 2 Bde., 286 S., 43 €; auch als Blindenschrift-DAISY-CD mit synthetischer Stimme erhältlich

Wie wollen wir im Alter leben? Und wie können wir in Würde altern? Nicht weggesperrt in anonymen Senioren-Einrichtungen, sondern gemeinsam mit anderen, mitten in der Gesellschaft. Dass das möglich ist und wie es geht, zeigt Henning Scherf, einstiger Bremer Bürgermeister und Senatspräsident. Der SPD-Politiker hat sich für seine Recherchen "vor Ort" begeben, hat Heime besucht und mit alten Menschen zusammengelebt. Entstanden ist ein sehr persönliches Buch zur Lage der Seniorinnen und Senioren in Deutschland. Scherfs Fazit: Pflege im Minuten-Takt und Finanzprobleme müssen nicht sein. Alt sein ist eine Herausforderung - aber sie ist zu bewältigen.

Steinleitner, Jörg: Räuberdatschi. Ein Fall für Anne Loop München: Piper, 2013

Bestell-Nr. 4743, reformierte Kurzschrift (KR), 3 Bde., 372 S., 64,50 €

Putzfrau Irene Heigelmoser hat eine Riesen-Wut. Der Grund: Ausgerechnet am Rosstag wurde die Pferdenärrin für den Reinigungsdienst in der Bank eingeteilt. Als sie zu allem Überfluss kurz darauf auch noch neben dem Filialleiter gefesselt und geknebelt unter dessen Schreibtisch liegt, schlägt die Stunde von "Bayerns heißester Polizistin": Anne Loop tritt auf den Plan und ermittelt…

Görig, Carsten: Gemeinsam einsam. Wie Facebook, Google & Co. unser Leben verändern

Zürich: Orell Füssli, 2011

DAISY-CD zum Ausleihen, Laufzeit: 6,5 Stunden, Sprecher: Matthias Mross

Zur Vertiefung des aktuellen "horus"-Titelthemas: Google, Facebook, Twitter & Co. liefern uns in Sekundenschnelle Informationen, verbinden uns mit Freunden auf der ganzen Welt oder geben uns eine Plattform zur Selbstdarstellung. Der Journalist Carsten Görig liefert einen Überblick über die wichtigsten neuen Medien und Unternehmen. Er zeigt, was diese leisten, wie sie die Gesellschaft schrittweise verändern und was das alleinige - und hochaktuelle - Ziel ihrer zahlreichen Internet-Angebote ist: Mit der Vermarktung und dem Verkauf unserer persönlichen Daten Geld zu verdienen.

Weitere DAISY- und Punktschrift-Bücher zu diesen und zahlreichen anderen Themen finden Sie unter http://katalog.blista.de.

Fußball-Bundesliga, Saison 2014/15

Bestell-Nr.: 4753, Schutzgebühr: 24,10 € plus Verpackungskosten

In Zusammenarbeit mit dem Sportmagazin "kicker" erscheint das Punktschrift-Sonderheft zur neuen Bundesliga-Saison.

Ihre Bestellung richten Sie bitte an: Deutsche Blindenstudienanstalt e.V., Postfach 1160, 35001 Marburg, Telefon: 06421/606-0, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Es gelten unsere Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB).


Panorama

Schnupperstudium „Studieren mit Behinderung/chronischer Krankheit“ an der TU Dortmund

Der Bereich Studium und Behinderung des Zentrums für Hochschulbildung (DoBuS) der Technischen Universität Dortmund veranstaltet vom 11. bis 13. November 2014 das dreitägige Schnupperstudium "Studieren mit Behinderung/chronischer Krankheit". Die Veranstaltung richtet sich an alle behinderten und chronisch kranken Studieninteressierten, die an einem Studium in Dortmund interessiert sind. Das Angebot ist für die Teilnehmenden kostenfrei. Das Schnupperstudium wird in rollstuhlzugänglichen Räumlichkeiten auf dem Campus der TU Dortmund stattfinden. Die Universität ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln vom Dortmunder Hauptbahnhof aus barrierefrei zu erreichen. Bei Bedarf wird die Veranstaltung gedolmetscht. Anmeldeschluss ist am 24. Oktober 2014!

Kontakt und Anmeldung: Technische Universität Dortmund, DoBuS, Dr. Birgit Drolshagen, Emil-Figge-Str. 50, 44221 Dortmund, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, Tel.: 0231 75 54 579, Fax: /-46 38, www.dobus.tu-dortmund.de


Theresia Degener wiedergewählt

Am 10. Juni wurde die langjährige Behindertenaktivistin und renommierte Juristin Prof. Dr. Theresia Degener auf der 7. Staatenkonferenz der UN-Behindertenrechtskonvention in New York für eine erneute Amtsperiode (2015 - 2018) in den UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen gewählt. Bei der Wahl gab es 21 Kandidat/innen für 9 Plätze. Theresia Degener erzielte mit 104 Stimmen das beste Wahlergebnis, gefolgt von Hyung Shik Kim mit 89 Stimmen. Nachdem die Bundesrepublik Deutschland ihren ersten Staatenbericht zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention beim zuständigen UN-Ausschuss in Genf eingereicht hatte, hat die BAG Selbsthilfe gemeinsam mit anderen Verbänden dort einen sog. Schattenbericht der Zivilgesellschaft eingereicht. Der Ausschuss hat nun beide Berichte gesichtet und an die Bundesrepublik Deutschland eine Fragenliste gerichtet. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat bis Ende August Zeit, die Fragen zu beantworten.


Woche des Sehens: Kostenlose Materialpakete bestellen

"Gute Aussichten" bietet die diesjährige Woche des Sehens vom 8. bis 15. Oktober. Mit diesem Thema werden Augenärzte, Selbsthilfeorganisationen und internationale Hilfswerke auf die Bedeutung guten Sehvermögens, die Ursachen vermeidbarer Blindheit und die Lage blinder und sehbehinderter Menschen in Deutschland und den ärmsten Ländern der Welt aufmerksam machen. Wer Material auslegen möchte, z. B. in Beratungsstellen, Praxen oder Augenkliniken, kann ein Kommunikationspaket, bestehend aus 2 Plakaten der Woche des Sehens, 50 Broschüren, einem Plakat mit Sehbehinderungs-Simulation und einer Broschüre "VISION 2020" bestellen. Für alle, die eine eigene Veranstaltung im Rahmen der Woche des Sehens durchführen möchten, ist das Aktionspaket geeignet. Dieses enthält 5 Plakate der Woche des Sehens, je 100 Broschüren und Handzettel der Woche des Sehens, 1 DVD mit Mustervorträgen und -pressemitteilungen, 5 Plakate mit Sehbehinderungs-Simulation, 25 Luftballons, 10 Simulationsbrillen, 1 Broschüre "VISION 2020", 1 Auswertungsbogen und 1 Nachbestellfax sowie optional 5 Tastsäckchen oder Simulationsbrillen-Set (5 x Retinitis pigmentosa, 5 x AMD). Die Materialpakete können kostenlos unter folgender Internetadresse bestellt werden: http://www.woche-des-sehens.de/fuer-veranstalter/material-und-anmeldung/

Ansprechpartnerin ist Carolina Barrera, Koordinatorin der Woche des Sehens, Telefon: 030 / 285 387-280, Fax: 030 / 285 387-200, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!


Bahn muss barrierefrei über Verspätung und Zugausfall informieren

Die Deutsche Bahn muss ihre Fahrgäste an allen Bahnhöfen über Zugausfälle und Verspätungen informieren. Das hat das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen im Mai entschieden. Es reiche nicht aus, in einem Aushang auf die Nummer einer Service-Hotline hinzuweisen, vielmehr müssen die Informationen aktiv erfolgen. Gegen eine entsprechende Anordnung des Eisenbahnbundesamtes hat die Deutsche Bahn geklagt und nun bereits in zweiter Instanz verloren. Das Gericht bezieht sich auf die Europäische Fahrgastrechte-Verordnung.


Barrierefreiheit und Mobilität

Inklusiv, informativ, interaktiv – SLANG Radio ist für alle da

Seit vier Jahren gibt es SLANG Radio im Internet (zu finden unter www.slangradio.de). Dieser Sender "für ein barrierefreies Leben" ist zwar nicht der einzige seiner Art, aber doch ein ganz besonderer in der Internetradioszene.

Von Behinderten - für ALLE

Überwiegend gestalten blinde und sehbehinderte Moderator/innen das Programm von SLANG Radio, aber wir haben auch körperbehinderte Kolleg/innen und solche ohne Handicap. Diese gelungene Mischung macht deutlich, dass es keinerlei Einschränkung gibt; wichtig sind uns gute Stimmen und Ideen. Durch ein abwechslungsreiches Informations-, Unterhaltungs- und Musikprogramm zeichnet sich der Sender aus und hebt sich in manchen Punkten von anderen Stationen mit ähnlichem Anspruch ab. So gibt es beispielsweise drei behindertenspezifische Sendungen, auf die weiter unten genauer eingegangen wird. Mit dem breiten Programmangebot wollen wir ein möglichst großes, altersübergreifendes Publikum ansprechen; für jede/n ist etwas dabei.

Team und Sendeschema

SLANG Radio wurde am 5. Februar 2010 vom sehbehinderten Sascha Lang aus der Taufe gehoben. Der gebürtige Luxemburger, der heute im norddeutschen Bad Segeberg lebt, gab dem Sender Namen und Gesicht. Saschas direkter Stellvertreter ist der fast blinde Metin Gemril aus Marburg. Das Team setzt sich aus ModeratorInnen des ganzen Bundesgebiets zusammen. Außerdem haben wir noch andere Mitglieder, die uns unterstützen in technischen Fragen, aber auch in der Öffentlichkeitsarbeit bei der Zusammenstellung des Newsletters auf unserer barrierefreien Homepage. Die Teamarbeit ist bei SLANG Radio relativ einfach und unbürokratisch. Es gibt regelmäßige Gespräche und Telefonkonferenzen, bei denen senderspezifische Fragen erörtert und neue Impulse gerne aufgenommen werden - Radio ist lebendig, da muss man mithalten können.

Gesendet wird rund um die Uhr (die Nachtsendungen werden am Tag vorher zusammengestellt). Jedes Programm läuft vom Sendestandort der Moderierenden, deren Ausrüstung meist nur aus einem Mikrofon, Kopfhörern, einem Telefon und einem Computer mit digitalem Musikarchiv besteht. Das Engagement der SLANG Radio-Macher ist ehrenamtlich, d. h. in den meisten Fällen neben dem Beruf. Der Spaßfaktor ist dabei ausschlaggebend, so dass Stress gar nicht erst entsteht bei der oft anspruchsvollen Tätigkeit. Die meisten Sendungen laufen zwei Stunden (oder länger), wobei es mindestens eine Wiederholung gibt. Die stündlichen Nachrichten werden von N-Audio übernommen, in zwei Sendungen gibt es Meldungen aus der Behinderten- und Sozialpolitik, zusammengestellt vom Kollegen Stefan Müller, dem Vorsitzenden der DVBS-Fachgruppe "Medien". Erwähnt sei noch, dass bei SLANG Radio keine Sendegebühren gezahlt werden müssen, womit sich unsere Station ebenfalls von anderen unterscheidet; lediglich Zuverlässigkeit, Professionalität und Seriosität werden erwartet.

Sendungen mit Behindertenthemen

Viermal wöchentlich gibt es den von Sascha Lang gestalteten "Infopoint" (aus der Behinderten- und Sozialpolitik), der jeden Freitag zwischen 18 und 20 Uhr gesendet und dreimal wiederholt wird. Hier gibt es u. a. Live-Interviews mit Politikern, alltägliche Berichte aus dem Leben behinderter Menschen und natürlich auch Musik.

Die Sendung "Frequenzfieber" (siehe horus 2/2013) mit Metin Gemril und seinem Team läuft jeden Sonntag zwischen 10 und 12 Uhr (Wiederholung einen Tag später) und bringt oft Interviews zu aktuellen Behindertenthemen, kreative Live-Berichte unserer Außenreporterin und interessante Veranstaltungstipps.

Die beiden Sendungen haben gemeinsam, dass wir auf aktuelle Entwicklungen im Behindertenbereich sofort reagieren, manchmal sogar länger und konsequenter dabei bleiben als man es von anderen Stationen kennt, z. B. bei der Frage der Inklusion, die übrigens bei SLANG Radio immer groß geschrieben wird. Dank der Sachkenntnis unserer Teammitglieder sowie der Zusammenarbeit mit Online-Portalen wie "Rolling Planet" oder www.behindertensport.de ist uns eine so umfassende Berichterstattung möglich.

Warum also gerade bei uns...?

Die Bandbreite an Internetsendern ist weltweit heute gigantisch. Für jeden Musikgeschmack und zu jedem Thema gibt es etwas, sogar für Behinderte. Warum also gerade bei uns reinhören?

  • weil wir ein abwechslungsreiches Programm bieten, mit einer interessanten Mischung aus Wort- und Musikbeiträgen,
  • weil wir auf aktuelle behindertenpolitische Ereignisse reagieren und darüber zeitnah berichten,
  • weil wir sowohl für Behinderte als auch Nichtbehinderte da sind,
  • weil wir Nichtbehinderten vieles aus unserem Alltag zeigen können, was sie sonst nur flüchtig, oft sogar überhaupt nicht mitkriegen,
  • weil wir eine barrierefreie Homepage haben, auf der jede/r ohne Probleme zurechtkommt.

Wir würden uns also freuen, Sie demnächst in unserer großen Zuhörerschaft begrüßen zu dürfen. Einfach einschalten auf www.slangradio.de, wo Sie weitere Informationen über das Programm erhalten und unseren Newsletter abonnieren können. Fragen, Anregungen oder Kritik nehmen wir gerne entgegen unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!.

Zum Autor

Jochen Schäfer ist 42 Jahre alt und als Fachangestellter für Medien- und Informationsdienste in der Schülerbibliothek der Deutschen Blindenstudienanstalt tätig, wo er unter anderem diese Zeitschrift archiviert. Weiterhin ist er ehrenamtlicher Co-Moderator bei SLANG Radio in der Sendung "Frequenzfieber".


Mobilität mit dem Führhund

"Man könnte doch jedem Blinden einfach einen Blindenhund geben und das Problem mit der Mobilität wäre gelöst!", so ein Teilnehmer an einem Gespräch über die Inhalte einer Schulung in Orientierung und Mobilität. Christine Krumpen, Rehabilitationslehrerin für Blinde und Sehbehinderte beim Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund (BBSB) in Augsburg, konnte ihn davon überzeugen, dass das so einfach nicht geht.

Was muss also ein potenzieller Führhundhalter wissen und was muss er selbst mitbringen, um vom Hilfsmittel Blindenführhund profitieren zu können?

Wer einen Führhund einsetzen möchte, braucht eine gute Orientierungsfähigkeit. Er muss seine Wege kennen, denn ein Hund kann mit dem Befehl: "Geh zum Bäcker!" nichts anfangen. Das bedeutet, dass der Betroffene zunächst eine klassische O&M-Schulung mit dem Blindenlangstock absolvieren muss.

Ein Hund arbeitet auf Befehl: dabei beherrscht er eine Vielzahl von Such-Kommandos ("Such Ampel", "Such Tür", "Such Treppe"…) und hört auf Befehle wie "rechts", "links", "voran".

Dabei geht er grundsätzlich bis zur nächsten Bordsteinkante oder bei durchgezogenem Bürgersteig ein kurzes Stück in die nächste Querstraße hinein, wo er dann nach einem Lob den nächsten Befehl erwartet. Er kann seinen Halter um Hindernisse herumführen. Dabei hat er auch gelernt, auf Höhenhindernisse zu achten, unter denen er selbst durchpassen würde, sein Halter jedoch nicht. Die Befehle des Halters müssen zum richtigen Zeitpunkt kommen. Es ist dem Hund nicht möglich, eine Ampel zu suchen, wenn die Ampel nicht in Sichtweite ist. A propos Ampel: Ein Hund kann die Ampelfarben nicht unterscheiden. Somit muss sein Halter anhand eines evtl. vorhandenen Tonsignals oder anhand des Verkehrsflusses selbst entscheiden, wann der richtige Zeitpunkt zum Überqueren ist. Das gilt auch für alle anderen Arten der Überquerung.

Es gibt auch Fälle, in denen der Hund den Gehorsam verweigert. Bei einer Baustelle oder am Ende eines Bahnsteigs wird er nicht "vorwärts" gehen. Hier zeigt sich, dass der Halter ein großes Vertrauen in den Hund braucht und das Verhalten nicht als Ungehorsam bewertet.

Was ein eingespieltes Gespann auszeichnet, ist die rasche Fortbewegung. Mit dem Langstock geht man an Leitlinien entlang, stößt zwangsläufig immer wieder an Hindernisse oder sucht bewusst seine markanten Punkte, wodurch man normalerweise nicht so schnell unterwegs ist. Als Führhundhalter kommt man außerdem gar nicht mehr in Kontakt mit den meisten markanten Punkten. Somit muss auch die Orientierung ganz anders verlaufen. Es ist wichtig, dass man Drehungen bewusst wahrnimmt. Sonst kann es passieren, dass der Führhund in eine Querstraße einbiegt und man meint, immer noch geradeaus zu gehen … Die körperliche Wahrnehmung, das Hören und das Riechen spielen eine noch wichtigere Rolle als beim Gehen mit dem Stock.

Eine Möglichkeit, einmal zu testen, wie sich das Gehen mit einem Blindenführhund anfühlt, ist der DogSim, ein fahrbares Gerät mit einer hinten angebrachten Führstange, das sich wie ein Hund links von einem befindet. Man hat ein Geschirr in der Hand, das am DogSim befestigt ist. Das Gerät wird von einer sehenden Person an der Führstange geschoben. Diese Person befindet sich somit schräg hinter dem potenziellen Führhundhalter und führt die Befehle des Halters aus. Leider gibt es in Deutschland erst vier solcher Geräte. Doch erfahrene O&M-Lehrer können die notwendige Wahrnehmungsschulung auch mit dem Langstock oder in sehender Begleitung durchführen.

Wichtige Überlegungen vor der Beantragung eines Blindenführhunds sind auch folgende: Der zukünftige Halter muss über eine gute Grundmobilität und Kondition verfügen. Der Hund braucht Abwechslung und auch immer wieder neue Herausforderungen auf seinen Wegen; er will auch arbeiten.

Zudem braucht er täglich seine Freilaufzeiten, in denen er nur Hund sein darf. Bei der Arbeit braucht er immer wieder ein Lob. Da er ein Lebewesen ist, muss er gepflegt und gefüttert werden. Er kann nicht einfach in die Ecke gestellt werden wie ein Stock. Der Hund gehört immer dazu. Wer sich für einen Blindenführhund interessiert, tut gut daran, sich vor der Entscheidung gründlich zu informieren. Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) bietet Grundlagenseminare für Führhundinteressenten und Erstführhundhalter an, deren Besuch Voraussetzung vor jeder Führhundbeantragung sein sollte.

Ansprechpartner sind Robert Böhm, Bundessprecher des Arbeitskreises Führhundhalter im Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) und Referent in Führhundangelegenheiten beim BBSB, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, Mobil: 0160 / 938 963 12, und Sabine Häcker beim Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband in Berlin, Tel. 030 285387-284, E-Mail Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!.


Berichte und Schilderungen

Zeitenwende - vom Leben nach der blista

"Sehen Sie mich überhaupt?"

Studium der Publizistik und Politikwissenschaft - Die Orientierungsphase

Nach sieben Jahren blista begann ich im Oktober 2007 mit dem Magisterstudiengang der Publizistik und Politikwissenschaft an der Uni Mainz. Mittlerweile ist dieser Studiengang Vergangenheit - wenn sich auch inhaltlich wenig verändert hat, so ist doch heute in den neuen Bachelor- und Masterstudiengängen alles viel reglementierter und verschulter.

Da mir während meiner blista-Zeit vorschwebte, Journalistik zu studieren, besuchte ich während der BOSS-Wochen die Uni Dortmund, wo es neben der katholischen Uni Ingolstadt-Eichstätt den einzigen Diplomstudiengang Journalistik gab. Allerdings waren schon damals die Jobaussichten für Journalisten unterirdisch - erst recht, wenn man nicht im Besitz eines Führerscheins ist. Auch warnte mich ein Journalist davor, Medienwissenschaften zu studieren, damit könne niemand etwas anfangen - man lernt alles und nichts. So bin ich dann auf Publizistik gestoßen. Das ist sozusagen die andere Seite: Man guckt den Journalisten und allen am Kommunikationsprozess beteiligten Akteuren auf die Finger bzw. ins Hirn. Kurz gesagt ist Publizistik Massenkommunikationsforschung. Und obwohl nicht für den Journalistenberuf ausgebildet wird, versuchen doch viele Absolventen dieses Studienganges, über Volontariate bei Zeitungen etc. unterzukommen. Die meisten gehen aber in die Public Relations, andere versuchen ihr Glück in der Markt-, Meinungs- oder Sozialforschung. Auch ich selbst strebe eine berufliche Tätigkeit in diesem Bereich an - doch der Reihe nach.

Ein halbes Jahr vor Beginn meines Studiums besuchte ich an der Uni Mainz den Tag der offenen Tür. Dies ist absolut empfehlenswert! Die Johannes Gutenberg-Universität ist eine Campus-Uni und das ist wirklich ein großer Pluspunkt! Ich kam mir schon nach kurzer Zeit vor wie in einer Parallelwelt - wie in einem großen Bienenstock. An diesem Tag hatte ich auch gleich mein erstes einschneidendes Erlebnis. In einer Informationsveranstaltung versuchte ich, mit meinem Fernglas die Overheadfolien des Dozenten zu lesen, bis dieser plötzlich mit dem Finger auf mich zeigte: "Oh, da ist jemand mit einem Opernglas!" Zirka hundert Menschen drehten sich zu mir um. Was für ein Einstieg!

Das Studium

Nachdem meine Entscheidung für ein Publizistikstudium an der Uni Mainz gefallen war, fehlte mir nur noch ein 2. Hauptfach oder zwei Nebenfächer. Ich entschied mich für Politikwissenschaft als 2. Hauptfach. Beide Fächer gehören zu den Sozialwissenschaften.

Sozialwissenschaftliche Studiengänge wie Politikwissenschaft sind nicht überall gleich, sondern haben unterschiedliche Schwerpunkte im Bereich der Methoden. Das Mainzer Institut für Politikwissenschaft setzt den Schwerpunkt auf quantitative Methoden, während an anderen Instituten qualitativ-hermeneutisch gearbeitet wird. Gleicher Titel des Studiengangs - aber grundlegend andere Herangehensweise ans Thema! Es ist jedem zu empfehlen, sich vor Antritt des Studiums über die Ausrichtung des Instituts zu informieren!

Übrigens: Im deutschsprachigen Raum gibt es neben Mainz nur noch drei weitere Universitäten, die einen Publizistikstudiengang anbieten: Berlin, Wien und Zürich. Während des Studiums kämpft man als Studierende mit einer Sehbehinderung nicht nur - wie alle anderen auch - mit den Inhalten, sondern auch öfters mit seinen Mitmenschen und organisatorischen Problemen, die man ohne Sehbehinderung nicht gehabt hätte. Meine erste Veranstaltung war ein Methodenkurs, in dem der Dozent eine PowerPoint-Präsentation verwendete. Anschließend ging ich zu ihm und sagte, dass ich sehbehindert bin. Ich bat ihn darum, mir die Präsentation per Mail zuzuschicken. Und ich wollte es nicht glauben: Ich bekam sie noch am selben Tag. Auch so etwas gibt es!

Aus Marburg war ich den routinierten Umgang meiner Mitmenschen mit meiner Sehbehinderung gewohnt. Deshalb war es für mich anfangs schon befremdlich, dass einige mich seltsam gemustert haben und mein Verhalten nicht einordnen konnten. Wer mit der Nase fast ans Papier stößt und für Präsentationen ein Fernglas braucht, wird wohl eher schlecht sehen, als ein Analphabet sein. Nicht jeder zog diese Schlussfolgerung so ohne weiteres.

Ich habe auch festgestellt, dass viele nur die Unterscheidung zwischen (normal) sehend oder blind kennen. So saß ich in der Sprechstunde eines Dozenten wegen meiner Hausarbeit und mitten in eine inhaltliche Kontroverse platzte die Frage: "Sehen Sie mich überhaupt?" aus ihm heraus. Ich schmunzelte und bejahte. "Aber WIE sehen Sie mich denn?" Da meine Erklärungsversuche die Menschen meist nicht zufriedenstellen, glauben manche, ich spräche nicht gerne über meine Behinderung. Also versuche ich klarzustellen, dass ich gerne erklären würde, WIE ich sehe, aber dummerweise keinen Vergleichswert habe, schließlich bin ich von Geburt an sehbehindert. Die Gegenfrage, wie z.B. der Dozent sieht, wirkt meist entwaffnend, denn im Grunde kann es niemand erklären. Verwirrung entstand wohl auch dadurch, dass ich mich im Gebäude und dem Unigelände ohne Probleme bewegte. Ich hielt es trotzdem für unangemessen bzw. nicht nötig, in den Kursen zu sagen, dass ich sehbehindert bin. Wichtig ist, dass der Dozent es weiß. Absolut positiv überrascht hat es mich deshalb, wenn Kommilitonen mir ihr Handout in großer Schrift ausgedruckt oder die Präsentation auf einem USB-Stick mitgebracht haben.

Im zweiten Semester wurde es spannend, denn meine Kommilitonen und ich wollten den Statistik-Kurs hinter uns bringen. Dort wird üblicherweise an der Tafel gerechnet. Nach der ersten Stunde besprach ich mich mit dem Dozenten, den ich zuvor schon in einem Proseminar hatte und der mir dort die Präsentationen und die Klausur in Großschrift gab. Ich wollte es zunächst mit dem Fernglas probieren und im Notfall die Unterlagen der Kommilitonen kopieren. Nach zwei Wochen fragte ich ihn dann doch: "Steht Ihr Angebot noch?" Er hatte vorgeschlagen, auf dem Overhead-Projektor zu schreiben, sodass ich mir die Folien kopieren konnte. "Klar", sagte er, "ich hab mich sowieso schon gefragt, wie Sie das hinkriegen." Um sicher zu gehen, fragte ich ihn auch wieder nach einer Großschrift-Klausur. "Ach Frau Wirtz (Mädchenname der Autorin, Anm. der Redaktion), hab ich doch längst gemacht." Mit solchen Dozenten ist Studieren so entspannt! Bei Klausuren habe ich im Allgemeinen gute Erfahrungen gemacht, obwohl es immer aufwändig ist, mit jedem Dozenten neu und einzeln Absprachen zu treffen. Meine ehemaligen Mitschüler mussten teilweise direkt zum Prüfungsamt oder dort sogar ein augenärztliches Attest einreichen - das blieb mir erspart.

Eine weitere Sache verlangt, dass man sich aktiv darum kümmert: Es soll Fächer geben, in denen die Studenten bis zur Abschlussarbeit keine Bibliothek von innen sehen. Bei meinen Fächern ist genau das Gegenteil der Fall. Meine Kommilitonen bezeichneten die Institutsbibliothek, eine sogenannte Präsenzbibliothek, in der vorlesungsfreien Zeit als ihr Zuhause. Präsent sein müssen aber vorrangig die Bücher und nicht die Studenten. Für mich ist Lesen ohne Bildschirmlesegerät jedoch unmöglich. Jedes Mal, wenn ich ein Buch benötige, gehe ich zur Bibliothekarin und bitte sie, das Buch mitnehmen zu dürfen. Mit Rücksicht auf andere Studenten ist eine Woche Ausleihe das höchste der Gefühle. Immerhin! In Marburg sieht die Bibliothekswelt anders aus. Als Sehbehinderte(r) hat man längere Ausleihzeiten und kann in den Präsenzbibliotheken sogar eine zweiwöchige (!) Kurzausleihe bekommen.

Zeit und Technik schreiten voran, und so hat sich meine Arbeitsweise auch geändert. Heute benutze ich ein Tablet. Zeitschriftenartikel kann ich direkt speichern. Bücher scanne ich in der Bibliothek ein und lasse mir die Texte in einer App, die knapp zwei Euro kostet, vorlesen. Für je 89 Cent kann man sich männliche oder weibliche Offline-Stimmen vieler Sprachen herunterladen. Parallel mache ich Notizen in einer Textverarbeitungs-App.

Aber wieder zurück in der Zeit. An meine Grenzen hat mich der Berg an Pflichtlektüre am ehesten im Grundstudium gebracht. Meistens waren es 150 Seiten, es gab aber auch Wochen mit 200 Seiten Lektüre. Letztendlich hat es mich - im Vergleich zu den Kommilitonen - ziemlich viel Freizeit gekostet.

Praktika

Eine Kontroverse unter sehbehinderten Studenten dreht sich um die Frage, ob man sein Handicap bereits in einer Praktikumsbewerbung erwähnen sollte: Ein Freund wurde für seine Ehrlichkeit gelobt, ich wiederum habe es nicht explizit erwähnt und wollte das erste persönliche Gespräch abwarten. Immerhin ist es doch seltsam, eine Behinderung zu erwähnen und im selben Satz zu versichern, damit gebe es jedoch kein Problem bzw. keins, das man nicht lösen könnte. Der Praktikantenbetreuer rief mich an und fragte: "Frau Wirtz, Sie sind sehbehindert, oder?" Mein Herz rutschte in die Hose, ich ging die Bewerbungsunterlagen gedanklich durch. Schließlich erklärte der Blick auf das Abiturzeugnis alles. Im Grunde wollte der Praktikantenbetreuer lediglich wissen, ob und inwieweit ich lesen könnte, um einzuschätzen, in welche Arbeiten ich eingebunden werden kann. Die Chefin bei meinem ersten Praktikum sagte hinterher, sie habe sich keine Gedanken gemacht: Wenn ich erfolgreich studiere, werde ich wohl auch die anfallenden Arbeiten erledigen können. Ein weiteres Praktikum war wieder völlig anders: Ich fuhr nach München zum Vorstellungsgespräch, und nach einiger Zeit fragte mich die Chefin, eine Pädagogin, betont locker und unaufgeregt: "Erzählen Sie mal, was ist mit Ihren Augen?" Keine Frage, ich konnte all das, was ich für "mein" Projekt im Praktikum brauchte, aber der Eindruck blieb, dass sie der Studentin mit dem Handicap eine Chance geben wollte. Dieses unbewusste (!) stereotypisierte Bild von Menschen mit Behinderung, die oft in einer Opferrolle gesehen werden, konnte ich glücklicherweise recht schnell widerlegen.

Ob man als Sehbehinderte(r) vergleichsweise einfach, d.h. ohne Probleme studieren kann, hängt leider nicht nur von der Uni oder dem Fachbereich, sondern tatsächlich auch vom Dozent ab. Ungemein hilfreich ist es, wenn man den Dozent nicht nur mit dem "Problem" konfrontiert, sondern ihm direkt eine Lösung präsentiert. An den beiden Instituten, an denen ich studiert habe, herrschte die Meinung vor: Wenn sie etwas braucht, wird sie es sagen! Auch nicht verkehrt, finde ich, denn ich lebe gut mit der Sehbehinderung, aber sie muss mein Leben ja nicht beherrschen. In diesem Sinne hatte die Chefin aus München mit einer sprachlichen Feinheit vielleicht doch Recht: Ich war - bis zu meinem Abschluss im Dezember 2012 - keine sehbehinderte Studentin, sondern eine Studentin mit Sehbehinderung.

Und weiter geht´s!

Studium und kein Ende in Sicht. Dass ich mich für eine Promotion entschieden habe, liegt daran, dass der Doktortitel in Meinungs- oder Sozialforschungsinstituten, die Auftragsforschung mit Grundlagenforschung verbinden, gerne gesehen wird, denn er gilt als Nachweis der Befähigung zu vertiefter wissenschaftlicher Arbeit. Der Nachteil ist, dass das erste eigene Gehalt damit wieder in weite Ferne rückt.

Übrigens:

Vor einigen Jahren habe ich mit einer Kommilitonin, die sich in der Publizistik-Fachschaft engagierte, ein Grundseminar besucht. Aus diesem Anlass hat sie das Thema "Studenten mit Behinderung" und wie man sie besser unterstützen kann, in einer Institutssitzung angesprochen. Der damalige geschäftsführende Institutsleiter hielt weitergehende Unterstützungsmaßnahmen für nicht notwendig, denn wer fachlich gut sei, würde sich schon durchbeißen. Heute ist er mein Doktorvater.


Aus der Arbeit des DVBS

Einige Gedanken zur Zukunft des DVBS

"Abschließend möchte ich noch einige persönliche Gedanken äußern, die mir zu diesem Thema in letzter Zeit durch den Kopf gegangen sind.

Trotz der - wie ich glaube - beeindruckenden Bilanz, wie sie sich aus unserem Vorstandsbericht für die letzten zwei Jahre ergibt, bin ich beunruhigt. Ich habe den Eindruck, der DVBS ist im Begriff, seine Zukunftsfähigkeit zu gefährden.

Dieser Verein hat sich immer durch innovatives Denken ausgezeichnet. Wir haben in vielen Bereichen Neues gewagt und auch durchsetzen können, beispielsweise durch unseren Textservice, durch unsere Projekte wie BIK und BITI und auch im Bereich der Seniorenarbeit. Das geht aber nur, wenn wir - oder jedenfalls eine größere Zahl von uns - bereit sind, uns auf Experimente einzulassen, die natürlich auch einmal scheitern können; auf Experimente, die uns neue Perspektiven eröffnen, auf Experimente, die neue Mitglieder zu uns bringen und auf Experimente, bei denen wir Dinge neu denken, die in diesem Verein als selbstverständlich gelten. Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir derzeit viel, ja zu viel im eigenen Saft schmoren, und das gibt bekanntermaßen keine exquisite Soße, sondern schmeckt auf Dauer abgestanden und fade und führt nicht dazu, dass wir mehr blinde und sehbehinderte Menschen in unser DVBS-Restaurant bekommen, um im Bild zu bleiben. Wenn wir sie nicht gewinnen, dann können wir ihnen auch nicht zeigen, wie gut Autonomie, wie gut beruflicher und sozialer Erfolg schmecken können.

Was wir brauchen, ist ein neuer Blick nach vorn, ein Blick, für den sich Schulabgänger aus der Inklusion wie aus unseren Förderschulen ebenso interessieren wie blinde und sehbehinderte Studierende oder Auszubildende, der sie anzieht, einbezieht und beteiligt. Unser Mentoringprojekt kann ein Weg in diese Richtung sein. Aber es muss umgesetzt, es muss bekannt gemacht, es muss in diesem Verein gelebt werden! Zwar ist Austausch unter unseren Mitgliedern immens wichtig, wie die Erfahrungsberichte vieler Menschen zeigen und wie er auch gerade für diese Selbsthilfetage wieder von großer Bedeutung war. Aber es darf nicht immer der Austausch unter denselben sein. Mein Appell daher: Gewinnen wir neue innovative Mitglieder, die wir für diesen Verein zum Brennen bringen. Das müssen nicht Hunderte sein. Aber wir brauchen diesen Schub, wenn der DVBS auch nach 2016, nach 2020 und nach 2026 in der deutschen Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe weiter wie bisher eine tragende Rolle spielen soll.

Ich werde meine Vorsitzendentätigkeit spätestens im September 2016 beenden. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir bis dahin einige zukunftsweisende Ideen umgesetzt, aber doch wenigstens gedacht und in Angriff genommen hätten. Im DVBS gibt es anerkannte Werte wie Selbstbestimmung, berufliche und soziale Teilhabe und noch vieles mehr. Aber diese Werte braucht es nicht nur in der Theorie. Sie müssen in der Praxis gelebt und vermittelt werden, um Menschen von ihrer enormen Wichtigkeit zu überzeugen. Und durch diese Praxis werden sie sich notgedrungen wieder verändern. Doch Veränderung tut immer Not, nicht um ihrer selbst willen, sondern um diesen Verein weiterhin zukunftssicher zu machen."

Dieser Beitrag von Uwe Boysen ist der Schluss des Rechenschaftsberichts bei der Mitgliederversammlung des DVBS am 21. Juni 2014. Die Vortragsform wurde weitgehend beibehalten.


Rückschau und Ausblicke

Die Selbsthilfetage 2014 im Zeitraffer

Mit dem "Stelldichein" öffnet sich alle zwei Jahre der Vorhang für die DVBS-Selbsthilfetage in Marburg. Alte Bekannte wiedertreffen, in gemütlicher Runde das etwas mehr als zweitägige Programm beginnen… auch 2014 freuten sich die rund 80 Mitglieder am Donnerstagabend über den gelungenen Einstieg. Bereits mittags beginnt die "Arbeit" für die Vorstandsmitglieder, die das Treffen in Marburg regelmäßig für eine Vorstandssitzung nutzen.

Fachlich-konkret beginnt der Freitagmorgen: In den Fachgruppen wird diskutiert, geplant und bisweilen auch gewählt. Die Teilnehmenden hörten Fachvorträge zu den Themen "E-Justice/E-Government", "Behindertengleichstellungsgesetz", "Chancen inklusiver Bildung in Deutschland" und "Rationale Vermögensanlage und -verwaltung" und informierten sich über die Projekte "BIT inklusiv" (DVBS) und "Innovation und Inklusion" (blista). Abends waren die "Liederleute" zu Gast in der Aula der blista.

Der Halt des Sonderbusses vor dem Bürgerhaus in Cappel macht am Samstagmorgen klar: Jetzt beginnt die Mitgliederversammlung. Die Begleitpersonen machten sich unterdessen auf zum Marburger Haus der Romantik. Die rund 70 anwesenden DVBS-Mitglieder erfuhren, was Vorstand und Verein in den vergangenen zwei Jahren geleistet haben. Dr. Heinz Willi Bach berichtete von der Arbeit am Teilhabebericht, dem offenen Brief an die Bundesarbeitsagentur und die Gründung des "Netzwerkes Inklusion" in Marburg.

Rechts- und Sozialpolitik - laut Uwe Boysen "ein weites Feld" - sind zentrale Themen in der Arbeit des Vereins. "Blindengeld ist immer ein Thema", so der Vorsitzende. Andrea Katemann berichtete über Medienversorgung, Uwe Bruchmüller erläuterte die Zusammenarbeit mit dem DBSV und stellte die Finanzen vor. Mit dem Thema Ausbildung befasst sich auf Seiten des Vorstandes Ursula Weber. Sie berichtete vom DVBS-Mentoringprojekt "TriTeam" und der geplanten Gründung der Arbeitsgruppe "Inklusion". Nach zwölf Jahren hauptamtlicher Tätigkeit nahm Geschäftsführer Michael Herbst Abschied vom DVBS. Hier einige Auszüge aus seiner Abschiedsrede, die er an die Mitgliederversammlung richtete:

"Ich habe ihn geliebt, diesen DVBS, als einen Verein, in dem das Argument zählt. […] Aber ich war auch wütend auf ihn, wenn er wieder einmal eine Entscheidung allzu sehr aus dem Bauch heraus traf, ohne erkennbares Bemühen um Ausgewogenheit und mit einer gedanklichen Tiefe, die in drei, vier Sätzen erschöpfend formuliert war. Ich habe gelacht im DVBS. Wie jeder 98-Jährige hat er viele Anekdoten aus seiner Geschichte zu erzählen, in mancher mag ich sogar vorkommen. […] Aber ich war auch traurig. Traurig über wegbrechende Einnahmen, ärgerte mich über mich selbst bei kostspieligen Fehlentscheidungen, war niedergeschlagen, wenn Projekte nicht umzusetzen waren und Erreichtes verloren ging. Nie habe ich mich an Austritte gewöhnen können. […] Ich habe im DVBS gelebt und gelitten, gehofft und gebangt, war zuversichtlich und verzweifelt. Es war mein Bauch, getrieben vom Bemühen um Professionalität, der mich immer einmal wieder fragen ließ, bin ich hier noch richtig? Habe ich noch etwas beizutragen zum Fortkommen dieses Vereins? Will ich noch das, was die Mitglieder, die Entscheidungsgremien wollen? Ja, hieß die Antwort immer wieder. Zur Emotionalität gehört wohl auch, Ratschläge zu geben, die womöglich keiner hören will.

Hier sind drei:

Arbeiten Sie internationaler: Wenn Sie schon nach Perspektiven und Potentialen suchen, sei es für Sie ganz individuell oder für den Verein, dann gehen Sie in die Welt.

Arbeiten Sie behindertengruppenübergreifend: Was wir uns in den vergangenen zwei Dekaden an Mitbestimmungs- und Beteiligungsrechten erstritten haben, ist anders gar nicht mehr wahrzunehmen.

Arbeiten Sie im heute mit den Strukturen, die Sie haben: Der DVBS hat wahrlich genügend Stärken, um aus sich selbst heraus jetzt (!) manches bewegen zu können. Man mag sich leistungsfähigere Strukturen wünschen, aber man mache sich bitte klar, dass die Zahl der Blinden und Sehbehinderten, die aktive Selbstvertretung leisten wollen oder können, sinkt. Sich als DVBS in einem nachfrage- und angebotsseitig schrumpfenden Markt breiter aufstellen zu wollen, ist irrsinnig. Vielleicht ist es an der Zeit, ernsthaft über eine Fusion von DVBS und DBSV nachzudenken. Oder glaubt wer, dass die Branchenstruktur im Blinden- und Sehbehindertenwesen mit zahllosen Hilfsmitteldealern, tausenden Mitarbeitern in Bildungseinrichtungen und drei Dutzend Selbsthilfeorganisationen sich auf Dauer rechtfertigen lässt?"


Facebook-Auftritt des DVBS

Der DVBS ist seit Juni auch im sozialen Netzwerk Facebook aktiv. Unter https://www.facebook.com/pages/DVBS-eV/608635209217716?ref=hl wird regelmäßig über Neuigkeiten aus dem DVBS, Entwicklung auf politischer und gesellschaftlicher Ebene informiert und zu Diskussion und Austausch angeregt. Auch Mitteilungen anderer Blinden- und Sehbehindertenorganisationen werden geteilt und Kommentare anderer Facebook-Nutzer veröffentlicht. Machen Sie sich ein Bild und besuchen Sie die Facebookseite des DVBS, damit die Seite mit Leben gefüllt werden kann!


Terminvorschau

Seminartermine 2014:

5. bis 7. September 2014: Bundesweites Treffen Blinder und Sehbehinderter in Studium und Ausbildung in Bingen

18. bis 21. September 2014: Fortbildungsseminar "Reden und Präsentieren" der FG Wirtschaft in Herrenberg

26. bis 28. September 2014: "Blind/sehbehindert - Strategien einer erfolgreichen Bewerbung" in Freudenstadt

2. bis 4. Oktober 2014: Fachgruppenseminar Erziehung und Wissenschaft

4. bis 11. Oktober 2014: Seminar der Gruppe Ruhestand "Altern und Blindheit" in Saulgrub

24. bis 26. Oktober 2014: Psychodrama-Selbsterfahrungsseminar (Fachgruppenübergreifend) in Saulgrub

Weitere Informationen zu den Terminen finden Sie unter www.dvbs-online.de/php/aktuell.php


Chorwoche 2015

Die Fachgruppe Musik lädt erfahrene Chorsänger mit Notenkenntnis zu einer Chorwoche im August 2015 ein. Sie soll vom 24. bis 29. August 2015 im Helmut Kreutz-Haus Wernigerode stattfinden. Die Noten werden den Teilnehmenden rechtzeitig vorher zugesandt. Am Ende der Woche soll ein Konzert in der Sylvestri-Kirche Wernigerode stehen. Interessenten melden sich bitte bis spätestens 1. Mai 2015 verbindlich an bei Erika Reischle-Schedler, Tel.: 0551 50 78 851, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! (Gebraucht werden für die formlose Anmeldung unbedingt folgende Angaben: genaue Postanschrift für den Notenversand und die Stimmlage, beides natürlich auch für die Begleitperson).


Aus der blista

Prüfungen an der Carl-Strehl-Schule der Deutschen Blindenstudienanstalt

Gymnasium

am 20. Juni 2014 bestandene Reifeprüfung

Daniel Ammon, Raphael Ammon, Jan-Patrick Baldus, Emelie Böther, Mariam Boussouf, Marcel Frank, Franziska Geiger, Dilan Gözütok, Daniel Grodzki, Maximilian Grote, Juliane-Alice Hartmann, Verena Herbert, Alina Hoffmann, Kathrin Marie Hölscher, Florian Hörle, Sedef Kaya, Kamran Khan, Johanna Kinel, Anna Krause, Matthias Kurz, Lena Lehmbeck, Sandrine Ngono, Cuong Nguyen Duc, Anna-Angela Rehm, Lara Reiser, Alen Musa Rizvani, Sophie Runkel, Lynn Schau, Karina Schaude, Robert Schindler, Florian Siebachmeyer, Maximilian Vatter, Jara Warto und Georg Zippel

Berufliches Gymnasium - Fachrichtung Wirtschaft

am 20. Juni 2014 bestandene Reifeprüfung

Furkan Aydin, Maximilian Becker, Michael Feistle, Daniel Gassner, Mona Hacker, Björn Hoppmann, Maximilian Kratzert, Marin Kristo, Miguel Murcia Basto, Kemal Numic, Sonja Rausch, Roman Voronjanski und Lukas Weimer

Mit der Abschlussprüfung erlangten am 23. Juni 2014 die Fachhochschulreife in der Fachoberschule - Fachrichtung Sozialwesen

Oliver Baus, Karim Frenke, Sarah Jurke, Lorena Knoch, Chadil-Salam Kofron, Larissa Kopton und Lukas Schmidt

Mit der Abschlussprüfung erlangten am 23. Juni 2014 die Fachhochschulreife in der Fachoberschule - Fachrichtung Wirtschaft

Cayhun-Ihsan Gülacan, Hagil Haidari, Moslem Haidari, Tobias Wenzel und Izzeddin Yilmaz

Mit der Abschlussprüfung wurden am 2. Juni 2014 kaufmännische Assistenten für Informationsverarbeitung

Tony Garis, Knut Graf, Mike Homa, Kevin Ingwersen, Patrick Janßen, Lennart Lehmkuhl und Laura-Luise Schönbohm


"RehaFair" - blista-EDV-Ausstellung 2014

Namhafte Firmen zeigen ihre neuesten Produkte bei der blista-EDV-Ausstellung, die am 14. November 2014, von 10 -16 Uhr, in der Sporthalle der Carl-Strehl-Schule stattfindet. Der blista-Hilfsmittel-Shop im Schlag 8, Erdgeschoss, direkt gegenüber der Sporthalle, ist an diesem Tag von 10 - 16 Uhr geöffnet.