Zur Frage der Finanzierungssituation von speziellen Fort- und Weiterbildungsangeboten für insbesondere blinde und sehbehinderte Menschen

Vortrag von Dr. Michael Richter

Dr. Michael Richter, Geschäftsführer der Rechte behinderter Menschen rbm gGmbH, berichtete über die Ergebnisse seines Gutachtens, das die Finanzierungssituation von Fort- und Weiterbildungsangeboten insbesondere für blinde und sehbehinderte Menschen untersucht. Wie Dr. Richter betonte, ist der Zeitpunkt für Diskussionen und Änderungen jetzt günstig, da seit Januar das neue „Qualifizierungschancengesetzt“ gilt und ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts über Leistungen der begleitenden Hilfen im Arbeitsleben nach § 185 SGB IX Rückenwind gibt. „Die gesetzliche Basis ist vorhanden! Doch die Umsetzung bedarf viel guten Willens“, so Dr. Richter.

Er plädierte dafür, die Bundesagentur für Arbeit, aber auch Renten- und Unfallversicherungen aufzufordern, Förderempfehlungen für Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen zu erlassen, um Entscheider für die besonderen Bedarfe schwerbehinderter, vor allem blinder und sehbehinderter Menschen, zu sensibilisieren. Außerdem sollten bei der Fort- und Weiterbildungsförderung der Einsatz von Einkommen und Vermögen von Menschen mit einer Behinderung gestrichen und allenfalls durch eine Eigenbeteiligung ersetzt werden. Einen großen Schritt vorwärts wäre eine Gesetzesänderung, die die Aufgabe des Integrationsamtes gem. § 185 SGB IX erweitert, damit Anbieter von Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen für die barrierefreie Gestaltung Förderungen durch das Integrationsamt erhalten könnten.

Im folgenden Video können Sie sich den vollständigen Vortrag von Herrn Dr. Richter ansehen.


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Zum Referenten

Dr. Michael Richter ist Geschäftsführer der Rechte behinderter Menschen gemeinnützige GmbH (rbm), einer Rechtsberatungsgesellschaft speziell für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Als blinder Anwalt berät und vertritt der 51-Jährige Menschen mit Behinderung bundesweit vor Sozial- und Verwaltungsgerichten. Außerdem engagiert er sich ehrenamtlich in der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe.

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Zusätzliche Informationen

  • Dr. Michael Richter, Renate Kohn: Geht doch! Sozialrechtliches Kurzgutachten zur Frage der Finanzierungssituation von speziellen Fort- und Weiterbildungsangeboten für insbesondere blinde und sehbehinderte Menschen, hrsg. von: inklusive berufliche Bildung ohne Barrieren (iBoB), ein Projekt des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V. (DVBS). Marburg, 1. Aufl. März 2019.
    Die Printversion ist beim DVBS kostenlos erhältlich. Das PDF steht auf der iBoB Weiterbildungsplattform zum Herunterladen zur Verfügung.
  • das Qualifizierungschancengesetz im Bundesgesetzblatt (PDF)
  • Lesenswert für die beigefügten Kommentare ist auch der Entwurf des Qualifizierungschancengesetzes
  • die Empfehlung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen (BIH) zur Förderung beruflicher Qualifizierung (PDF zum Herunterladen)
  • anlässlich der Fachtagung hat Dr. Micahel Richter im Deutschlandfunk in der Sendung „Campus und Karriere“ ein Interview gegeben (6.3.2019): Audiobeitrag

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Textauszug aus dem Gutachten

1.   Einführung

In der Begründung zum Entwurf eines sogenannten „Qualifizierungschancengesetz“ vom 12.10.2018 der Bundesregierung, federführend vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) verantwortet, heißt es: „Der Arbeitsmarkt von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit einem qualifizierten Berufsabschluss entwickelt sich weiter in Richtung Vollbeschäftigung. (…)“ (BT-Drucks 19/49/48. QV Nr. 1) Das Qualifizierungschancengesetz wurde am 30.11.2018 verabschiedet und trat ab 01.01.2019 in Kraft.

Andererseits darf die gute Entwicklung aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich der Arbeitsmarkt in Zukunft in immer kürzeren Zeiträumen wandeln wird. Auf diese Entwicklung müssen sich Beschäftigte und Arbeitgeber aktiv vorbereiten: Die demografische Entwicklung führt in einigen Berufen und Regionen bereits heute zu Fachkräfteengpässen. Dies gilt nicht nur für akademische Berufe, sondern auch für anerkannte Ausbildungsberufe. Der demografische und der technologische Wandel werden die wirtschaftliche und strukturelle Veränderung des Arbeitsmarktes beschleunigen und massive qualifikatorische Anpassungen fordern. Die Entwicklungen am Arbeitsmarkt stellen zudem veränderte Anforderungen an den sozialen Schutz bei Arbeitslosigkeit. Die Digitalisierung verändert auch die Anforderungen, die Arbeitgeber an ihr Personal stellen. (Kurzbericht 12/2017 des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). QV Nr. 2) Der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die in einem Beruf mit einem hohen Substituierbarkeitspotenzial durch Digitalisierungs- und Automatisierungsprozesse arbeiten, ist von 15 Prozent im Jahr 2013 auf 25 Prozent im Jahr 2016 gestiegen. (Kurzbericht 12/2018 des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung(IAB). QV Nr. 3)

Die Bundesregierung hat sich vor diesem Hintergrund zum Ziel gesetzt, die Weiterbildungsförderung für arbeitslose und beschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu verstärken und zu flexibilisieren mit dem Ziel, zukünftig allen Beschäftigten, deren berufliche Tätigkeiten durch Technologien ersetzt werden können, in sonstiger Weise vom Strukturwandel betroffen sind oder in Engpassberufen eine Weiterbildung anstreben, unabhängig von Qualifikation, Lebensalter und Betriebsgröße den Zugang zur beruflichen Weiterbildungsförderung zu ermöglichen und die Fördervoraussetzungen und -leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) und dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) auf aktuelle und künftige Herausforderungen auszurichten. Ergänzend soll die Weiterbildungs- und Qualifizierungsberatung der Bundesagentur für Arbeit (BA) gestärkt werden (aaO).

Dies ist auch ein Beitrag für die Entwicklung einer Nationalen Weiterbildungsstrategie von Bund, Ländern und Verbänden, die sich entlang der Bedarfe von Beschäftigten und Unternehmen ausrichten soll. Dies entspricht dem Koalitionsvertrag der Regierungsfraktionen, nach dem u. a. die Zugangsmöglichkeiten zur beruflichen Weiterbildung erweitert, die Weiterbildung von Geringqualifizierten und Älteren verbessert und die gemeinsame Verantwortung von Arbeitgebern sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der Weiterbildung gestärkt werden soll (aaO).

Diese Ausführungen zur Begründung verbesserter Fördermöglichkeiten für Arbeitslose und Erwerbstätige in Sachen Weiterbildung zeigen ganz deutlich, dass auch in der Politik das Bewusstsein um die immer größer werdende Wichtigkeit des zeitnahen und flexiblen Erwerbs neuer Qualifikationen in einer sich immer schneller wandelnden Arbeitswelt erkannt wurden. Neben dieser ganz allgemeinen Erkenntnis besteht jedoch gerade für Menschen mit einer Behinderung und hier insbesondere für sehbehinderte und blinde Menschen ganz besonders die Notwendigkeit des erleichterten Weiterbildungszugangs. Dies wird deutlich, wenn man sich klar macht, dass jede allgemeine Veränderung, z.B. die Einführung neuer digitalisierter Arbeitsvorgänge für den sehbehinderten oder blinden Erwerbstätigen eine Mehrfach-Anforderung bedeutet. Er muss sich mit der digitalen Innovation auseinandersetzen. Darüber hinaus steht er aber auch in aller Regel noch vor der zusätzlichen Herausforderung, die digitale Innovation auch mit seiner angepassten oder anzupassenden behinderungsspezifischen Arbeitsplatzausstattung bewältigen zu können. Mit anderen Worten, bedingt in aller Regel jede innovative Veränderung des Arbeitsplatzes eines sehbehinderten oder blinden Menschen zwei Weiterbildungsbedarfe, denn zum einen muss ein Einsatz der technischen Innovation erlernt werden und zum anderen der zumeist hierdurch notwendig veränderte Umgang mit Hilfsmitteltechnologie. Im Ergebnis gilt demnach, dass schwerbehinderte Menschen und insbesondere sehbehinderte und blinde Menschen durch den Wandel der Arbeitswelt einen besonders hohen Bedarf an allgemeiner und spezieller Weiterbildung zur Sicherung ihrer Wettbewerbsfähigkeit im eingangs beschriebenen Sinn haben und mithin sollen spezielle und allgemeine Förderungsmöglichkeiten für diesen Personenkreis im folgenden Kurzgutachten besonders untersucht werden.

(…)

3.   Ansätze zur Verbesserung der aktuellen Förderungspraxis

(...)

3.3 Politische Forderungen

Größerer Gesetzesänderungen bedarf es zur Verbesserung der Fördermöglichkeiten für insbesondere Menschen mit einer Behinderung derzeit nicht, da, wie bereits in Punkt 2.7 ausgeführt, der geltende rechtliche Rahmen bereits eine angemessene und ausreichende Förderbarkeit von Weiterbildungen für diesen Personenkreis vorsieht. Hingegen bedarf es dringend der Klarstellung in untergesetzlichen Ausführungsverordnungen (z.B. der SchwbAV), Empfehlungen (Empfehlung der BIH) oder der entsprechenden Arbeitsanweisung zur Umsetzung von Ansprüchen (Handlungsempfehlung und Geschäftsanweisung der BA) um den, in der Gewährungspraxis verfestigten Ziel der Maßnahmen, der Vermeidung von individueller Arbeitslosigkeit, hin zur Verbesserung von Qualifikationsprofilen von Menschen mit einer Behinderung zur Stärkung deren Wettbewerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, eine größere Bedeutung in der Förderpraxis zu verhelfen. Zur Bestärkung dieses Anliegens sollte dringend auf die Begründung des „Qualifizierungschancengesetzes“ und auf die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichtes zum gesetzlich vorgesehenen Ziel der begleitenden Hilfen im Arbeitsleben verwiesen werden. Der in diesem Rahmen augenscheinlich verbreiteten „Angst“ vor einer vermeintlichen Besserstellung von Menschen mit einer Behinderung könnte mit dem Hinweis auf die aktuell deutlich schlechtere Beschäftigungssituation dieses Personenkreises entgegen getreten werden. Weiterhin scheint die entsprechende Fort- und Weiterbildung von leistungsgewährenden Sachbearbeitern bei den Leistungsträgern oder/und Sensibilisierungsmaßnahmen für diese Mitarbeiter für die vorbenannte Problematik sinnvoll (z.B. Erarbeitung eines leistungsträgerspezifischen Aktionsplans).

Ganz besonders wichtig wäre die Umsetzung der beiden letztgenannten Maßnahmen bei den Rentenversicherungsträgern, bei den Berufsgenossenschaften und bei den Trägern der Eingliederungshilfe, da diese Leistungsträger weder direkt durch das „Qualifizierungschancengesetz“, noch durch die dargestellte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes betroffen sind und dementsprechend keinen positiven Impuls zur Erweiterung ihrer Weiterbildungsförderung erfahren haben.

Weiterhin wäre gegenüber der BA zu fordern, dass sicherzustellen ist, dass eine Anerkennung als zugelassener „Weiterbildungsträger“ nach § 82 Abs. 1, Nr. 5 SGB III nur dann erfolgen kann, wenn sich dieser zur Barrierefreiheit seiner Angebotsgestaltung verpflichtet oder zumindest ausreichend „angemessene Vorkehrungen“ anbietet um jedem Menschen mit einer Behinderung die Teilnahme sinnvoll zu ermöglichen.

Letztlich erscheint es auch sinnvoll zu fordern, dass Weiterbildungsangebote, die insbesondere dem adäquatem Umgang mit einer Behinderung im Arbeitsleben fördern sollen, die vielfach nur durch Selbsthilfeorganisationen oder durch spezielle Einrichtungen angeboten werden können, nur einer grundsätzlichen Anerkennung bedürfen (z.B. durch das örtlich zuständige Integrationsamt) und nicht noch einmal eine Prüfung der Geeignetheit im Einzelfall erfolgt. Durch eine solche Verfahrensweise könnte das derzeit sehr überschaubare Angebot an diesen, sehr wichtigen Weiterbildungen deutlich, aufgrund einer dann deutlich verbesserten Plan- und Kalkulierbarkeit für die wenigen in Betracht kommenden Anbieter, erweitert werden. (...)

3.5 Handlungsempfehlungen

Der derzeit günstige Zeitpunkt für eine sensibilisierte Leistungsträgerlandschaft durch das in Kraft getretene "Qualifizierungschancengesetz" und durch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes zum Zweck von Leistungen der begleitenden Hilfen im Arbeitsleben nach § 185 SGB IX sollte für eine Diskussion bezüglich erforderlicher Anpassungen für Menschen mit einer Behinderung genutzt werden.

Dies bedeutet im Einzelnen:

  1. Insbesondere die Bundesagentur für Arbeit, aber auch Renten- und Unfallversicherungen sollten aufgefordert werden, Förderempfehlungen für Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen im Sinne des "Qualifizierungschancengesetzes" zu erlassen um Entscheider für die besonderen Bedarfe dieses Personenkreises zu sensibilisieren. Ergänzend könnte diese Aufklärung auch durch die Erarbeitung trägerspezifischer Aktionspläne erfolgen. Für die Notwendigkeit solcher Maßnahmen könnte auf die anhaltend dramatisch schlechtere Beschäftigungssituation von Menschen mit einer Behinderung hingewiesen werden. Letztlich sollte ein Musterfall zur Anwendbarkeit von § 17 SGB I für die Zulassung von Fort- und Weiterbildungsträgern und die hierbei verbindliche Vorgabe von Aspekten der Barrierefreiheit identifiziert werden. Hierdurch könnte ebenfalls eine Sensibilisierung der BA und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für dieses Thema gefördert werden.
  2. Es ist dringend Kontakt mit der BIH aufzunehmen um eine "zeitgemäße" Überarbeitung der Empfehlungen zur Förderung von Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen zu fordern. Folgende Punkte sollten bei einer Überarbeitung dringend Berücksichtigung finden:
    1. Der Wortlaut einer neuen BIH-Empfehlung sollte deutlich die Wichtigkeit der Förderung des Erwerbs eines arbeitsmarktgerechten Qualifikationsprofils herausheben.
    2. Eine verbindliche Anerkennung über die Geeignetheit von insbesondere Weiterbildungsmaßnahmen für einen bestimmten Adressatenkreis von Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen gegenüber dem Anbieter durch das örtlich zuständige Integrationsamt müsste hergestellt werden. Die Verbindlichkeit muss sich zumindest auf die Geeignetheit des Angebotes für einen benannten Adressatenkreis – z.B. blinde und sehbehinderte Erwerbstätige in Büroberufen - beziehen und muss eine erneute Prüfung durch die, jeweils für die Betroffenen zuständigen Integrationsämter, ausschließen.
    3. Der Einsatz von Einkommen und Vermögen von Menschen mit einer Behinderung im Rahmen einer Fort- und Weiterbildungsförderung ist zu streichen und allenfalls durch eine Eigenbeteiligung im Umfang einer sogenannten "häuslichen Ersparnis" zu ersetzen.
    4. Zur Förderung eines breiteren barrierefreien Angebotes von Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen könnten die Aufgaben des Integrationsamtes gem. § 185 SGB IX dahingehend erweitert werden, dass auch Anbieter von solchen Maßnahmen für deren barrierefreie Gestaltung Förderungen durch das Integrationsamt erhalten können (Notwendigkeit einer Gesetzesänderung).
  3. Das Angebot von Veranstaltungen, die als Bildungsurlaub anerkennbar, barrierefrei zugänglich sind und insbesondere Inhalte vermitteln, die für Menschen mit einer Behinderung einen besonderen Mehrwert bieten, sollten dringend gefördert und erweitert werden.

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