„Wir haben nicht weniger Lebensqualität“

Tag der Sehbehinderung am 06. Juni 2020

„Ich wurde in Andernach geboren und habe in Düsseldorf das Licht der Welt erblickt“, Andreas Wagner schmunzelt. Im Alter von drei Monaten wurde er in der nordrhein-westfälischen Hauptstadt wegen eines angeborenen Grauen Stars operiert. Erst danach konnte er sehen, allerdings mit einem Augenzittern, dem Nystagmus. Der 51-jährige Softwareentwickler sieht auf dem linken Auge 30 und auf dem rechten 20 Prozent. Im Alltag orientiert er sich ohne Stock, auch wenn er sich in neuen Räumen zaghaft bewegt. „Ich kann ja nicht sehen, wo ich meinen Mantel aufhängen kann, wo sich der Fahrkartenautomat befindet oder wo es bei einem Fest die Essens- oder Getränkemarken gibt“, erklärt er. Früher sei er wegen des vorsichtigeren Verhaltens öfter in die falsche Schublade gesteckt worden. „Ich wurde behandelt, als sei ich geistig minderbemittelt, statt seheingeschränkt“, berichtet der Essener. Doch das habe sich in den letzten Jahren für ihn geändert. Jetzt habe er den Eindruck, dass viele Menschen die Sehbehinderung erkennen und auch selbstverständlicher damit umgingen.

Für Marianne Preis-Dewey aus Stadtallendorf hat sich auch vieles geändert, - seitdem sie als 20-Jährige begann, einen weißen Stock zu benutzen. „Ich muss jetzt nicht mehr so viel erklären, wenn ich nach Dingen frage, die für sehende Menschen offensichtlich sind. Mein Mann berichtet mir, dass Passanten immer wieder irritiert sind, wenn ich zum Beispiel beim Einkauf mit der Nase dicht am Regal lese. Der weiße Stock steht für viele Menschen für völlige Blindheit“, findet die Geschäftsführerin des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf. Auch sie ist seit ihrer Geburt sehr stark sehbehindert und gilt gesetzlich als blind. „Mein Sehrest ist mir aber sehr wichtig und ich nutze ihn natürlich, so gut und so lange es geht“, erklärt die 53-Jährige. Für viele sehbehinderte Menschen ist es schwierig, den weißen Stock zu nutzen und sich dadurch als blind oder hochgradig sehbehindert zu kennzeichnen. Das Gefühl anders zu sein und aufzufallen wollen viele vermeiden. „Das ist verständlich und auch in Ordnung, solange niemand gefährdet wird“, sagt Andreas Wagner. „Jede Sehbehinderung ist anders, und jeder geht anders damit um.“

Genau deshalb ist es so wichtig, dass das Umfeld interessiert ist und Fragen stellt. Andreas Wagner erklärt das so: „Manche gehen mit einem weißen Stock zur Bushaltestelle, weil sie aufgrund einer Augenerkrankung wie Retinitis Pigmentosa, mit einem stark verkleinerten Blickfeld das Umfeld nicht sehen können und lesen dann im Bus eine Zeitung. Sehschwächen müssen deshalb differenziert erklärt werden, damit Mitmenschen unsere Bedürfnisse verstehen und darauf eingehen können.“

Zum Schluss räumen Andreas Wagner und Marianne Preis-Dewey noch mit der Vorstellung auf, dass der größte Wunsch sehbehinderter Menschen das Sehen sei: „Klar geht nicht alles, aber wir können uns neue Interessen erschließen. Wir müssen kreativer sein, uns mit anderen austauschen und Hilfsmittel einsetzen. Eine Sehbehinderung zu haben bedeutet nicht automatisch, weniger Lebensqualität zu haben oder auf Erfolg im Beruf zu verzichten“, sagen beide überzeugt.


In Deutschland leben rund 155.000 blinde und zwischen 500.000 und 1,1 Millionen sehbehinderte Menschen. Als sehbehindert gilt jemand, wenn er trotz des Tragens von Sehhilfen wie Brille oder Kontaktlinsen, nicht mehr als 30 Prozent eines normal Sehenden sieht und diese Beeinträchtigung dauerhaft ist.

"Nicht sehend - nicht blind. Sehbehinderte Menschen im Beruf" - so heißt der aktuelle Informationsfilm des DVBS. Im Film berichten sehbehinderte Erwerbstätige als Experten in eigener Sache über ihre Arbeitsbedingungen und Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben. Hier der Link zum Film.