Verweigerte Chancen nach der Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales

Die Umsetzung der EU-Richtlinie zu barrierefreien Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen gleicht einem Trauerspiel: Übereilt und wenig durchdacht wurde im Februar 2018 ein Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales in die Welt gesetzt, bei dem erst gar nicht versucht wurde, die Potenziale der EU-Richtlinie umzusetzen. Vorsichtshalber wurde den Verbänden kaum Zeit eingeräumt, darauf einzugehen.

Diese Zeitnot setzte sich in der parlamentarischen Behandlung fort. Nach einer Sachverständigenanhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales am vergangenen Montag (die Stellungnahmen umfassen mehr als 50 Seiten!), beschloss der zuständige Bundestagsausschuss gestern kleinere Änderungen, damit das Gesetzgebungsverfahren schon heute abgeschlossen werden kann.

„Wir finden das Ergebnis enttäuschend“, sagt Andreas Carstens, Richter am Finanzgericht, der als Sachverständiger für den DVBS e.V. bei der Anhörung war. „Der Entwurf hätte, um zu einem wirklichen Fortschritt zu führen, wesentlicher Verbesserungen bedurft. In einigen Punkten fällt er sogar hinter die bisherigen Regelungen im Behindertengleichstellungsgesetz zurück und baut den verpflichteten öffentlichen Stellen ‚goldene Brücken‘, über die sie einer Umsetzung der Richtlinie entgehen können. Gut begründete und ausformulierte Änderungsvorschläge der Verbände wurden nicht oder nur in einer verwässerten Form berücksichtigt, etwa bei der Einbeziehung der grafischen Programmoberflächen oder der nicht ausreichenden Präzisierung von Ausnahmen von der Barrierefreiheit. Alle beschlossenen Änderungen sind im Ergebnis kaum zielführend.“

Auch Ursula Weber, erste Vorsitzende des DVBS e.V., kritisiert sowohl das Verfahren wie den Entwurf. „Mit diesem Gesetz wird die Chance, behinderte Menschen bei der Digitalisierung gleichberechtigt einzubeziehen und ihnen eine Kommunikation mit den öffentlichen Stellen frei von Barrieren zu ermöglichen, leider weitestgehend verpasst.“

Auch Corinna Rüffer, Sprecherin für Behindertenpolitik der Bundestagsfraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, deren Fraktion den DVBS e.V. zur Anhörung eingeladen hat, zeigt sich ähnlich enttäuscht und schreibt:

"Im „Schweinsgalopp“ und mit unzureichender Beteiligung von behindertenpolitischen Verbänden hat die Bundesregierung den Gesetzentwurf durch das parlamentarische Verfahren geprügelt. Damit hat sie die Chance verpasst, die zugrundeliegende EU-Richtlinie in ein gutes und zukunftsweisendes Gesetz zu gießen."

Hintergrund: Mit Artikel 3 der Bundestagsdrucksache 19/2072 wird das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes an die EU-Richtlinie 2016/2102 angepasst, die bis 23.9.2018 in innerstaatliches Recht umgesetzt sein muss. Am 11.6.2018 führte der Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales dazu eine Sachverständigenanhörung durch, bei der deutliche Verbesserungen des Entwurfs angemahnt wurden (siehe https://www.bundestag.de/).

Am Donnerstag soll das Gesetz vom Bundestag beschlossen werden.

Die entsprechende Stellungnahme sowie Resolution des DVBS e.V. finden Sie auf unserer Homepage unter Aktuelles > Stellungnahmen: http://dvbs-online.de/index.php/aktuelles/stellungnahmen