Schriftenreihe Rechtsberatung für blinde und sehbehinderte Menschen

Heft 10 der Schriftenreihe:
Rechtsschutz und Rechtsberatung

von Dr. Herbert Demmel und Karl Thomas Drerup

Stand: Januar 2009

Inhaltsverzeichnis


1. Einleitung

Die Rechtsberatung und die Vertretung im außergerichtlichen Bereich und vor Gericht spielen in der Praxis der Selbsthilfeorganisationen der blinden und sehbehinderten Menschen eine große Rolle. Sie, sowie der Rechtsweg, das Verwaltungs- und das Gerichtsverfahren, insbesondere vor den Sozialgerichten, sind Gegenstand dieses Heftes.

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2. Rechtsberatung und Vertretung

Damit die Bürger die ihnen zustehenden Rechte wahrnehmen können, ist eine qualifizierte Beratung und gegebenenfalls Vertretung bei der Rechtsverfolgung erforderlich. Diese Hilfe zu leisten ist Aufgabe der Selbsthilfeorganisationen als Interessenvertretungen, der Leistungserbringer und der Rechtsanwälte.

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2.1 Beratung und Vertretung durch Selbsthilfeorganisationen

Die Selbsthilfeorganisationen für blinde und sehbehinderte Menschen führen Rechtsberatungen in allen mit der Blindheit oder Sehbehinderung zusammenhängenden Angelegenheiten durch. Diese Beratung kann sich auf die verschiedensten Rechtsgebiete beziehen, angefangen vom Zivilrecht über das Arbeitsrecht und das Sozialrecht bis hin zum Steuerrecht.

Über die Beratung hinaus wird, soweit zulässig, auch die Vertretung gegenüber Dritten, z. B. gegenüber Behörden in Verwaltungsverfahren, in Widerspruchsverfahren und in Rechtsstreitigkeiten vor Gericht übernommen.

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2.1.1 Rechtsberatung und Vertretung im außergerichtlichen Bereich

Grundlage für die Rechtsberatung und Vertretung im außergerichtlichen Bereich ist das Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) vom 12.12.2007 (§ 1 Abs. 1 RDG). Es trat am 01.07.2008 in Kraft und löst das Rechtsberatungsgesetz (RBerG) ab.

2.1.1.1 Überblick über das Rechtsdienstleistungsgesetz

Das RDL hat fünf Teile.

Teil 1 (§§ 1 – 5) enthält allgemeine Bestimmungen. U. a. wird hier geregelt:

  • in § 1 der Anwendungsbereich (außergerichtliche Rechtsdienstleistungen),
  • in § 2 der Begriff der Rechtsdienstleistungen und
  • in § 5 die Erbringung von Rechtsdienstleistungen im Zusammenhang mit einer anderen, im Vordergrund stehenden Tätigkeit.

Dabei ist, wie sich aus § 3 RDG ergibt, die Erbringung von Rechtsdienstleistungen im RDG nicht abschließend geregelt. Die Zulässigkeit von Rechtsdienstleistungen, soweit sie in anderen Gesetzen geregelt ist, bleibt bestehen.

In Teil 2 (§§ 6 – 9) werden die Rechtsdienstleistungen durch nicht registrierte Personen geregelt. Diese Bestimmungen sind vor allem für die Erbringung von Rechtsdienstleistungen durch Organisationen bedeutsam.

In § 6 RDG wird die unentgeltliche Erbringung von Rechtsdienstleistungen entweder im Rahmen familiärer, nachbarschaftlicher oder ähnlich enger persönlicher Beziehungen durch jedermann oder außerhalb solcher Beziehungen unter Beachtung bestimmter Qualifikationsvoraussetzungen geregelt.

§ 7 regelt die Erbringung von Rechtsdienstleistungen an Mitglieder durch Vereinigungen und deren Zusammenschlüsse, welche berufliche oder die Wahrung anderer gemeinschaftlicher Interessen zur Aufgabe haben, im Rahmen ihres satzungsmäßigen Aufgabenbereichs.

In § 8 wird die Erbringung von Rechtsdienstleistungen durch genau definierte Organisationen, darunter auch anerkannten Behindertenorganisationen, im Rahmen ihrer Aufgaben an Mitglieder und Nichtmitglieder geregelt.

In Teil 3 (§§ 10 – 15) werden Rechtsdienstleistungen durch registrierte Personen geregelt, und zwar:

  • in § 10 Rechtsdienstleistungen auf Grund besonderer Sachkunde in den Bereichen Inkassodienstleistungen, Rentenberatung und Rechtsdienstleistungen in einem ausländischen Recht,
  • in § 11 der Nachweis der Sachkunde und die zulässigen Berufsbezeichnungen,
  • in § 12 die Registrierungsvoraussetzungen,
  • in § 13 das Registrierungsverfahren und
  • in § 14 der Widerruf der Registrierung.

Teil 4 (§§ 16 – 17) befasst sich mit dem Rechtsdienstleistungsregister. In § 16 wird der Inhalt des Rechtsdienstleistungsregisters geregelt.

Teil 5 (§§ 18 – 20) regelt die Befugnisse zur Übermittlung personenbezogener Daten und die Zuständigkeiten. Ferner enthält § 20 Bußgeldvorschriften. Zuständig für die Durchführung des RDG sind nach § 19 Abs. 1 die Landesjustizverwaltungen.

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2.1.1.2 Begriff der Rechtsdienstleistungen

Im Gegensatz zum früheren Rechtsberatungsgesetz gilt das RDG nach § 1 Abs. 1 S. 1 RDG nur für Rechtsdienstleistungen im außergerichtlichen Bereich. Entscheidend für die Abgrenzung zum gerichtlichen Bereich ist regelmäßig, ob das Gericht Adressat einer Handlung ist, ob also die rechtsdienstleistende Tätigkeit, z.B. eine Prozesshandlung, wie etwa die Erhebung einer Klage, gegenüber dem Gericht vorzunehmen ist. In den Anwendungsbereich des Gesetzes fällt damit, soweit nicht verfahrensrechtliche Sonderregelungen bestehen, auch die Vertretung von Personen im Verfahren vor Behörden. Der Anwendungsbereich des RDG endet erst, wenn das behördliche Verfahren in ein gerichtliches Verfahren übergeht. Die fortlaufende Beratung einer Prozesspartei und die Vorbereitung von Schriftsatzentwürfen an das Gericht auch während eines laufenden Gerichtsverfahrens stellen jedoch außergerichtliche Tätigkeiten dar. Die Zulässigkeit solcher nicht an das Gericht adressierter und damit außergerichtlicher Handlungen richtet sich damit nach dem RDG, soweit keine vorrangige Spezialregelung eingreift. Das RDG dient dazu, die Rechtsuchenden, den Rechtsverkehr und die Rechtsordnung vor unqualifizierten Rechtsdienstleistungen zu schützen (§ 1 Abs. 1 S. 2 RDG).

Nach § 1 Abs. 2 RDG bleiben Regelungen in anderen Gesetzen über die Befugnis, Rechtsdienstleistungen zu erbringen, bestehen.

Das Rechtsdienstleistungsgesetz führt den neuen Begriff der Rechtsdienstleistung ein: Rechtsdienstleistung ist jede Tätigkeit in konkreten fremden Angelegenheiten, sobald sie eine rechtliche Prüfung des Einzelfalles erfordert (§ 2 Abs. 1 RDG). Nicht jede „Tätigkeit, die darauf gerichtet und geeignet ist, konkrete fremde Rechtsangelegenheiten zu verwirklichen oder fremde Rechtsverhältnisse zu gestalten“, ist deshalb auch bereits Rechtsdienstleistung. Erforderlich ist vielmehr, dass die Rechtsberatung oder Rechtsbesorgung eine besondere Prüfung der Rechtslage im Sinn eines juristischen Subsumtionsvorgangs voraussetzt. Darunter fallen die rechtliche Beurteilung eines Sachverhalts, die rechtliche Beratung auf Grund dieser Prüfung und die außergerichtliche Vertretung zur Durchsetzung der Rechte. Die Vertretung erfordert eine Vollmacht. Die rechtliche Beurteilung und Beratung kann sich z. B. darauf beziehen, welche Ausgleichsleistungen (Vergünstigungen) beim Vorliegen einer bestimmten Sehbeeinträchtigung gegeben sind. Die Vertretung richtet sich nach außen, sei es durch Verhandeln mit dem Gegner des Rechtsuchenden, durch das im Wege der Stellvertretung erfolgende Abschließen von Verträgen oder das Stellen von Anträgen bei Behörden. Geschäftsbesorgungen, die wie z. B. das Handeln mit Vollmacht im Geschäftsleben keine besondere rechtliche Prüfung erfordern, fallen dagegen von vornherein nicht unter den Anwendungsbereich des RDG.

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2.1.1.3 Zulässigkeit der Erbringung von Rechtsdienstleistungen

Die selbständige Erbringung außergerichtlicher Rechtsdienstleistungen ist nach § 3 RDG nur in dem Umfang zulässig, in dem sie durch das RDG oder durch oder aufgrund anderer Gesetze erlaubt wird.

Im RDG wird zwischen Rechtsdienstleistungen durch nicht registrierte und registrierte Personen unterschieden. Inwieweit Rechtsdienstleistungen durch nicht registrierte Personen erbracht werden dürfen, ist im Teil 2 mit den §§ 6 bis 9 und inwieweit sie von registrierten Personen erbracht werden dürfen im Teil 3 mit den §§ 10 bis 15 geregelt. Die Registrierung im Rechtsdienstleistungsregister und die Führung einer entsprechenden Berufsbezeichnung ist nach den §§ 10 und 11 RDG nur beim Vorliegen besonderer Sachkenntnisse auf folgenden Gebieten möglich:

  1. Inkassodienstleistungen (§ 2 Abs. 2 Satz 1),
  2. Rentenberatung auf dem Gebiet der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung, des sozialen Entschädigungsrechts, des übrigen Sozialversicherungs- und Schwerbehindertenrechts mit Bezug zu einer gesetzlichen Rente sowie der betrieblichen und berufsständischen Versorgung und
  3. Rechtsdienstleistungen in einem ausländischen Recht.

Für Rechtsdienstleistungen durch Selbsthilfeorganisationen für blinde und sehbehinderte Menschen spielt insbesondere die Erbringung durch nicht registrierte Personen (Teil 2 des RDG) eine Rolle.

Zu unterscheiden ist im Teil 2 des RDG die Zulässigkeit der Erbringung von Rechtsdienstleistungen nach den §§ 6, 7 und 8.

Nach § 6 Abs. 1 RDG wird jedermann die unentgeltliche Erbringung von Rechtsdienstleistungen innerhalb familiärer, nachbarschaftlicher oder ähnlich enger persönlicher Beziehungen erlaubt. Wenn die unentgeltliche Rechtsdienstleistungen außerhalb familiärer, nachbarschaftlicher oder ähnlich enger persönlicher Beziehungen erbracht werden, muss das entweder durch eine Person, der die entgeltliche Erbringung von Rechtsdienstleistungen erlaubt ist (das sind z. B. die auf Grund besonderer Sachkunde registrierten Personen auf den jeweiligen Sachgebieten), durch eine Person mit Befähigung zum Richteramt (erstes und zweites Staatsexamen), also durch einen Volljuristen, oder falls sie durch andere Personen ohne diese Qualifizierung erfolgt, unter Anleitung einer der vorgenannten juristisch qualifizierten Personen geschehen (§ 6 Abs. 2 S. 1 RDG). Die Anleitung erfordert eine an Umfang und Inhalt der von den vor Ort Tätigen zu erbringenden Rechtsdienstleistungen ausgerichtete Einweisung und Fortbildung sowie eine Mitwirkung bei der Erbringung der Rechtsdienstleistung durch die juristisch qualifizierten Personen, soweit dies im Einzelfall erforderlich ist (§ 6 Abs. 2 S. 2 RDG). D.h., die vor Ort tätige Person muss jederzeit auf den Juristen zurückgreifen und diesen einschalten können. Soweit Rechtsdienstleistungen ausschließlich im Bereich des § 10 RDG erbracht werden sollen, genügt für die Mitwirkung als juristisch qualifizierte Person auch eine registrierte Person. Dies kommt namentlich bei unentgeltlicher Rentenberatung in Betracht.

§ 6 RDG ermöglicht insbesondere unentgeltliche Rechtsdienstleistungen durch karitative Organisationen. Eine entgeltliche Dienstleistung liegt auch dann vor, wenn die Gegenleistung nicht konkret für die Rechtsdienstleistung gewährt wird, aber diese ermöglicht. Deshalb fällt die Rechtsberatung und außergerichtliche Vertretung von Mitgliedern eines Vereins nicht unter § 6 RDG, wenn Mitgliedsbeiträge erhoben werden (vgl. amtliche Begründung zu § 6 RDG). Einschlägig ist dann § 7 RDG.

Nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 RDG sind Rechtsdienstleistungen erlaubt, die berufliche oder andere zur Wahrung gemeinschaftlicher Interessen gegründete Vereinigungen und deren Zusammenschlüsse im Rahmen ihres satzungsmäßigen Aufgabenbereichs für ihre Mitglieder oder für die Mitglieder der ihnen angehörenden Vereinigungen oder Einrichtungen erbringen, soweit sie gegenüber der Erfüllung ihrer übrigen satzungsmäßigen Aufgaben nicht von übergeordneter Bedeutung sind. § 7 RDG ist Lex speziales gegenüber § 6; denn wegen der zu entrichteten Mitgliedsbeiträge handelt es sich nicht um unentgeltliche Rechtsdienstleistungen. Da es sich bei Selbsthilfeorganisationen um Zweckvereinigungen handelt, fallen sie unter § 7 Abs. 1 Nr. 1 RDG. Die außergerichtliche rechtliche Beratung und Vertretung ist nach dieser Vorschrift allerdings auf Mitglieder beschränkt. Außerdem muss die Rechtsdienstleistung im Rahmen der satzungsmäßig festgelegten Aufgaben erfolgen. Die Rechtsdienstleistungen dürfen auch gegenüber der Erfüllung der übrigen satzungsmäßigen Aufgaben nicht von übergeordneter Bedeutung sein. Klargestellt wird, dass Zusammenschlüsse von Vereinigungen und damit insbesondere ihre Spitzenorganisationen oder -verbände Rechtsdienstleistungen nicht nur für die ihnen unmittelbar angehörenden Personen oder Vereinigungen, sondern auch für alle Mitglieder der ihnen angeschlossenen Vereinigungen erbringen dürfen.

In § 7 Absatz 2 wird die aus § 6 Abs. 2 übernommene Pflicht zur Beteiligung juristisch qualifizierter Personen ergänzt und erweitert: Die Vereinigungen müssen, soweit sie Rechtsdienstleistungen für ihre Mitglieder erbringen, sicherstellen, dass die Rechtsberatung unter Anleitung einer juristisch qualifizierte Person erfolgt. Diese im Sinn einer Grundanforderung zu verstehende Pflicht lässt, abhängig von der Organisationsstruktur der Einrichtung, der Qualifikation und Berufserfahrung der unmittelbar rechtsberatend tätigen Personen und der Art der zu erbringenden Rechtsdienstleistungen, unterschiedliche Formen der Anleitung zu. Dabei kommt es darauf an, ob die Rechtsdienstleistungen vor Ort durch hauptberuflich tätige und auf ihrem Gebiet rechtlich erfahrene Mitarbeiter oder auf ehrenamtlicher Basis erfolgen. Eine unmittelbare Befassung der juristisch qualifizierten Person im Sinn einer Einzelanleitung wird umso weniger erforderlich sein, je berufserfahrener und qualifizierter der nichtjuristische Mitarbeiter ist. Sicherzustellen ist in diesem Fall ein ausreichender Informationsfluss über neue rechtliche Entwicklungen, z. B. durch Rundschreiben und Publikationen sowie die Möglichkeit, in komplexen, schwierigen Einzelfällen letztlich den Rechtsrat eines entsprechend ausgebildeten Juristen in Anspruch nehmen zu können. Wenn ehrenamtliche Mitarbeiter bei der Rechtsberatung mitwirken, ist darüber hinaus eine intensive Schulung durch Seminare zu empfehlen und eine enge Zusammenarbeit mit rechtlich erfahrenen hauptberuflichen Mitarbeitern der Vereinigung sicherzustellen.

In § 7 Abs. 2 RDG wird über § 6 Abs. 2 hinaus gefordert, dass die Vereinigung über die zur sachgerechten Erbringung der Rechtsdienstleistungen erforderliche personelle, sachliche und finanzielle Ausstattung verfügt.

§ 8 RDG bringt gegenüber den §§ 6 und 7 Erweiterungen. Nach § 8 Abs. 1 Nr. 5 RDG sind Rechtsdienstleistungen erlaubt, welche Verbände der freien Wohlfahrtspflege im Sinn des § 5 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch, anerkannte Träger der freien Jugendhilfe im Sinn des § 75 des Achten Buches Sozialgesetzbuch und nach § 13 Abs. 3 des Behindertengleichstellungsgesetzes anerkannte Verbände zur Förderung der Belange behinderter Menschen im Rahmen ihres Aufgaben- und Zuständigkeitsbereichs erbringen. Die eigenständige Bedeutung des § 8 besteht - insbesondere für die in Nr. 4 und 5 aufgeführten Stellen - im Wesentlichen darin, dass sie, soweit dies ihrem Aufgabenbereich entspricht, Rechtsdienstleistungen abweichend von § 6 auch entgeltlich und abweichend von § 7 auch für Nichtmitglieder erbringen dürfen.

Für Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfeorganisationen ist deshalb besonders § 8 Abs. 1 Nr. 5 RDG von Interesse. Die Anerkennung nach § 13 Abs. 3 BGG, die sich auf das Verbandsklagerecht nach dem BGG bezieht, ist beim DBSV und DVBS gegeben. Das bedeutet, dass die Beratung und Vertretung im außergerichtlichen Bereich auch für Nichtmitglieder zulässig ist, soweit dies die Satzung vorsieht.

Die Organisationen müssen personell und sachlich im erforderlichen Ausmaß ausgestattet sein. Sie müssen sicherstellen, dass die Rechtsdienstleistung durch eine Person, der die entgeltliche Erbringung dieser Rechtsdienstleistung erlaubt ist, durch eine Person mit Befähigung zum Richteramt, also durch einen Volljuristen, oder, falls die Dienstleistung durch eine andere Person, z. B. haupt- oder ehrenamtliche Mitarbeiter der Organisation ohne entsprechende Qualifikation erfolgt, unter Anleitung einer juristisch qualifizierten Person geschieht (§ 8 Abs. 2 i.V.m. § 7 Abs. 2 RDG, welcher wiederum auf § 6 Abs. 2 RDG verweist). Die Anleitung erfordert damit wie in § 6 Abs. 2 RDG festgelegt, eine an Umfang und Inhalt der zu erbringenden Rechtsdienstleistungen ausgerichtete Einweisung und Fortbildung dieser vor Ort tätigen Personen durch den Juristen sowie dessen Mitwirkung bei der Erbringung der Rechtsdienstleistung, soweit dies im Einzelfall erforderlich ist. Dafür ist es nicht notwendig, dass der Jurist in der beratenden Einrichtung ständig zur Verfügung steht. Ausreichend ist es vielmehr, wenn die Möglichkeit der Rückfrage etwa bei einem in der Dachorganisation tätigen Juristen oder bei einem Rechtsanwalt ermöglicht wird, der mit der beratenden Einrichtung zusammenarbeitet. Die Zusammenarbeit kann z. B. auf Honorarbasis oder ehrenamtlich geschehen. Die Einweisung und Fortbildung kann z. B. durch Seminare aber auch durch Rundschreiben und andere Publikationen erfolgen.

Ob und ggf. in welchem Umfang Personen, die außergerichtlich Rechtsdienstleistungen erbringen dürfen, zugleich auch gerichtlich tätig sein dürfen, richtet sich nach den jeweiligen Verfahrensordnungen (vgl. 2.1.2).

Wenn die Rechtsdienstleistungen zum Nachteil der Rechtsuchenden oder des Rechtsverkehrs dauerhaft unqualifiziert durchgeführt werden, kann die für den Wohnsitz einer Person oder den Sitz einer Vereinigung zuständige Behörde den in den §§ 6, 7 Abs. 1 und § 8 Abs. 1 Nr. 4 und 5 genannten Personen und Vereinigungen die weitere Erbringung von Rechtsdienstleistungen für längstens fünf Jahre untersagen (§ 9 Abs. 1 RDG). Diese Voraussetzungen sind insbesondere gegeben, wenn erhebliche Verstöße gegen die Pflichten nach § 6 Abs. 2, § 7 Abs. 2 oder § 8 Abs. 2 vorliegen, also die Anleitung und Mitwirkung einer juristisch qualifizierten Person nicht gegeben ist.

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2.1.2 Vertretung und Beistandschaft in gerichtlichen Verfahren

Das Recht zur Beratung und Vertretung im außergerichtlichen Bereich, welches im RDG geregelt ist, erstreckt sich nicht auf die Vertretung oder Beistandschaft in gerichtlichen Verfahren. Die Befugnis zur gerichtlichen Vertretung und Beistandschaft richtet sich nach der jeweiligen Verfahrensordnung.

Die Regelungen in den großen Verfahrensordnungen (ZPO, FGG, ArbGG, VwGO, SGG, FGO) wurden durch das Rechtsdienstleistungsneuregelungsgesetz geändert und weitgehend harmonisiert (dazu vgl. im Einzelnen 2.1.2.1).

Im Verwaltungs-, Sozial- und Steuerrecht wurden die Vorschriften über die Vertretung im gerichtlichen Verfahren aneinander und an die Regelung in § 79 ZPO angeglichen. Auch in diesen Verfahren ist wie im Zivilprozess zwischen solchen ohne und mit Vertretungszwang zu unterscheiden. Dabei lässt die Struktur der Vorschriften Raum für Sonderregelungen, wie sie im Bereich des sozialgerichtlichen Verfahrens etwa für die Rentenberater oder im finanzgerichtlichen Verfahren für Lohnsteuerhilfevereine erforderlich sind.

Selbsthilfeorganisationen, die die gesetzlich geforderten Voraussetzungen erfüllen, können Ansprüche behinderter Menschen im Bereich des Rehabilitationsrechts nach dem SGB IX und bei sich aus den Behindertengleichstellungsgesetzen des Bundes und der Länder ergebenden Rechten mit Einwilligung des Betroffenen aber auch selbst geltend machen. Diese Prozessführungsbefugnis im Wege der Prozessstandschaft erleichtert das Agieren vor Gericht erheblich (dazu vgl. 2.1.2.2).

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2.1.2.1 Vertretungsbefugnis und Beistandschaft vor Gericht

Die für die einzelnen Gerichtszweige geltenden Regelungen wurden zwar harmonisiert, einige Unterschiede bleiben aber bestehen. Zu den Begriffen Vertretung und Beistandschaft und die zwischen diesen bestehenden Unterschiede vgl. 3.3.3.2 und 3.3.3.3.

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2.1.2.1.1 Verfahren vor den Zivilgerichten

Für Verfahren vor Zivilgerichten gilt folgendes: In der Zivilprozessordnung (ZPO) ist zwischen Verfahren, in denen eine Vertretung durch Rechtsanwälte erforderlich ist (§ 78 ZPO), und solchen Verfahren, in denen kein Anwaltszwang besteht (§ 79 ZPO), zu unterscheiden. Die entgeltliche Prozessführung bleibt Rechtsanwälten vorbehalten.

Während für Verfahren in der ersten Instanz, also vor den Amtsgerichten, kein Anwaltszwang besteht, müssen sich die Parteien in den Verfahren vor den Landgerichten und Oberlandesgerichten durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen (§ 78 Abs. 1 S. 1 ZPO). Vor dem Bundesgerichtshof müssen sie sich durch einen bei dem Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt vertreten lassen (§ 78 Abs. 1 S. 3 ZPO).

In Verfahren vor den Amtsgerichten wird den Parteien die Befugnis eingeräumt, in eigener Sache vor Gericht aufzutreten, d. h. den Prozess selbst zu führen. Sie können den Rechtsstreit aber auch durch einen Bevollmächtigten führen lassen. Wer als Bevollmächtigter in Frage kommt, ist § 79 Abs. 2 ZPO zu entnehmen. Neben der Vertretung durch Rechtsanwälte, Familienangehörige (§ 15 der Abgabenordnung, § 11 des Lebenspartnerschaftsgesetzes) und Streitgenossen wird nur die Vertretung durch Personen zugelassen, die selbst die Befähigung zum Richteramt besitzen (Volljuristen). Die Vertretung muss in diesem Fall unentgeltlich erfolgen. Fachlich ungeeignete Personen können von der Vertretung durch das Gericht ausgeschlossen werden.

Eine Öffnung der Vertretungsbefugnis für Personen, welche nach den §§ 6, 7 und 8 RDG im außergerichtlichen Bereich Rechtsdienstleistungen erbringen dürfen, ist in § 79 ZPO nicht erfolgt. In der Verhandlung können die Parteien nach § 90 Abs. 1 S. 1 ZPO jedoch mit Beiständen erscheinen. Beistand kann sein, wer in Verfahren, in denen die Partei den Rechtsstreit selbst führen kann, als Bevollmächtigter zur Vertretung in der Verhandlung befugt ist. Im Einzelfall können die Gerichte nach § 90 Abs. 1 S. 3 ZPO jedoch auch solche Personen als Beistand zulassen, die nicht zum Kreis der nach § 79 Abs. 2 ZPO möglichen Prozessvertreter gehören. Hierfür muss aber, damit nicht über die Beistandsregelung eine Aushöhlung der Vorschriften über die Prozessvertretung erfolgt, stets ein besonderes Bedürfnis der Partei dargelegt sein. Auf diesem Weg kann bei Bedarf im Einzelfall Hilfe durch einen Vertreter einer Selbsthilfeorganisation erfolgen. Erleichtert wird das durch § 23 Abs. 2 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG). Danach sind Antidiskriminierungsverbände befugt, im Rahmen ihres Satzungszwecks in gerichtlichen Verfahren, in denen eine Vertretung durch Anwälte und Anwältinnen nicht gesetzlich vorgeschrieben ist, als Beistände Benachteiligter in der Verhandlung aufzutreten. Das trifft auf Selbsthilfeorganisationen behinderter Menschen zu, soweit sich die entsprechende Aufgabenstellung aus der Satzung ergibt. Das von dem Beistand Vorgetragene gilt als von der Partei vorgebracht, insoweit es nicht von dieser sofort widerrufen oder berichtigt wird (§ 90 Abs. 2 ZPO).

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2.1.2.1.2 Verfahren vor den Arbeitsgerichten

Für Verfahren vor Arbeitsgerichten gilt folgendes: Im Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) wurde § 11 an die zivilprozessuale Regelung angepasst. Zu unterscheiden ist auch hier zwischen Verfahren ohne und mit Vertretungszwang.

Vor den Arbeitsgerichten, also in der ersten Instanz, können die Parteien den Rechtsstreit selbst führen. Bis auf wenige Ausnahmen besteht nach § 11 Abs. 1 hier kein Vertretungszwang. Die Parteien können sich aber auch vertreten lassen. Wer als Bevollmächtigter in Frage kommt, ist § 11 Abs. 2 ArbGG zu entnehmen. Dabei wird den Besonderheiten des Arbeitsrechts hinsichtlich des Kreises der vertretungsbefugten Personen Rechnung getragen. Die Vertretung ist stets durch Rechtsanwälte zulässig (§ 11 Abs. 2 S. 1 ArbGG). Im Verfahren der ersten Instanz, also vor den Arbeitsgerichten, ist die Vertretung auch durch volljährige Familienangehörige (§ 15 der Abgabenordnung, § 11 des Lebenspartnerschaftsgesetzes), Personen mit Befähigung zum Richteramt (Volljuristen) und Streitgenossen möglich, wenn die Vertretung unentgeltlich erfolgt (§ 11 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 ArbGG). Außerdem ist für Arbeitnehmer nur die Vertretung durch selbständige Vereinigungen von Arbeitnehmern mit sozial- oder berufspolitischer Zwecksetzung für ihre Mitglieder, bzw. Gewerkschaften zulässig (§ 11 Abs. 2 S. 2 Nrn. 3 und 4 ArbGG). Arbeitgeber können sich durch ihre Verbände vertreten lassen.

Vor den Landesarbeitsgerichten und dem Bundesarbeitsgericht müssen sich die Parteien, nach § 11 Abs. 4 ArbGG außer im Verfahren vor einem beauftragten oder ersuchten Richter und bei Prozesshandlungen, die vor dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle vorgenommen werden können, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Als Bevollmächtigte sind außer Rechtsanwälten nur die in Absatz 2 Satz 2 Nr. 4 und 5 bezeichneten Organisationen, also Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen, zugelassen. Diese müssen in Verfahren vor dem Bundesarbeitsgericht durch Volljuristen handeln.

Eine Öffnung der Vertretungsbefugnis für Personen, welche nach den §§ 6, 7 und 8 RDG im außergerichtlichen Bereich Rechtsdienstleistungen erbringen dürfen, ist in § 11 ArbGG nicht erfolgt. Wie im Zivilprozess kann jedoch die Partei in der Verhandlung mit einem Beistand erscheinen. § 11 Abs. 6 ArbGG entspricht § 90 ZPO. Beistand kann sein, wer in Verfahren, in denen die Parteien den Rechtsstreit selbst führen können, als Bevollmächtigter zur Vertretung in der Verhandlung befugt ist. Das Gericht kann jedoch andere Personen als Beistand zulassen, wenn dies sachdienlich ist und hierfür nach den Umständen des Einzelfalls ein Bedürfnis besteht. Nach § 23 Abs. 2 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) sind Antidiskriminierungsverbände befugt, im Rahmen ihres Satzungszwecks in gerichtlichen Verfahren, in denen eine Vertretung durch Anwälte und Anwältinnen nicht gesetzlich vorgeschrieben ist, als Beistände Benachteiligter in der Verhandlung aufzutreten. Das trifft auf Selbsthilfeorganisationen behinderter Menschen zu, soweit sich die entsprechende Aufgabenstellung aus der Satzung ergibt. Das von dem Beistand Vorgetragene gilt als von der Partei vorgebracht, soweit es nicht von dieser sofort widerrufen oder berichtigt wird. Im Wege der Beistandschaft können Vertreter der Selbsthilfeorganisationen im Bedarfsfall Hilfe leisten.

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2.1.2.1.3 Verfahren vor den Sozialgerichten

Für das Sozialgerichtsverfahren gilt folgendes: Auch für das Sozialgerichtsverfahren werden in Übereinstimmung mit den Regelungen für die übrigen öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten weitgehend die Regelungen der Vertretungsbefugnis im Zivilprozessrecht übernommen. Zu unterscheiden ist zwischen Verfahren ohne und mit Vertretungszwang.

Rechtsgrundlage für die Prozessvertretung und Beistandschaft vor den Sozialgerichten ist § 73 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Vor den Sozialgerichten und den Landessozialgerichten besteht kein Vertretungszwang. Zu den Einzelheiten vgl. 4.2.3.4 a) Vertretung und Beistandschaft vor den Sozialgerichten.

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2.1.2.1.4 Verfahren vor den Verwaltungsgerichten

Für Verfahren vor den Verwaltungsgerichten gilt folgendes: Auch die Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) wurde den übrigen Verfahrensregelungen angepasst. D.h., es wurden weitgehend die Regelungen der Vertretungsbefugnis im Zivilprozessrecht übernommen.

Rechtsgrundlage ist § 67 VwGO. Auch in Verfahren der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist zwischen solchen ohne Vertretungszwang und solchen mit Vertretungszwang zu unterscheiden. Kein Vertretungszwang besteht vor den Verwaltungsgerichten (erste Instanz). Anders als in der Sozialgerichtsbarkeit besteht nicht nur vor dem Bundesverwaltungsgericht, sondern auch vor den Oberverwaltungsgerichten (zweite Instanz) Vertretungszwang. Zu den Einzelheiten vgl. 4.2.3.4 b) Vertretung und Beistandschaft vor den Verwaltungsgerichten.

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2.1.2.1.5 Verfahren vor den Finanzgerichten

Für das Finanzgerichtsverfahren gilt folgendes: Auch für das Finanzgerichtsverfahren werden in Übereinstimmung mit den Regelungen für die übrigen öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten weitgehend die Regelungen der Vertretungsbefugnis im Zivilprozessrecht übernommen.

Rechtsgrundlage ist § 62 Finanzgerichtsordnung (FGO). Auch hier ist zwischen Verfahren ohne Vertretungszwang und solchen mit Vertretungszwang zu unterscheiden.

Vor dem Finanzgericht können die Beteiligten den Rechtsstreit selbst führen (§ 62 Abs. 1 FGO). Sie können sich aber auch durch einen Rechtsanwalt, Steuerberater, Steuerbevollmächtigten, Wirtschaftsprüfer oder vereidigten Buchprüfer als Bevollmächtigten vertreten lassen; zur Vertretung berechtigt sind auch Gesellschaften im Sinne des § 3 Nr. 2 und 3 des Steuerberatungsgesetzes, die durch solche Personen handeln (§ 62 Abs. 2 S. 1 FGO). In § 62 Abs. 2 S. 2 FGO werden weitere Personen und Organisationen genannt, welche zur Vertretung berechtigt sind. Behindertenorganisationen werden hier nicht genannt. Nach § 62 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 sind auch volljährige Familienangehörige (§ 15 der Abgabenordnung, § 11 des Lebenspartnerschaftsgesetzes), Personen mit Befähigung zum Richteramt (Volljuristen) und Streitgenossen, wenn die Vertretung nicht im Zusammenhang mit einer entgeltlichen Tätigkeit steht, vertretungsberechtigt.

Vor dem Bundesfinanzhof müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen (§ 62 Abs. 4 FGO). Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bundesfinanzhof eingeleitet wird. Als Bevollmächtigte sind nur die in § 62 Absatz 2 Satz 1 FGO bezeichneten Personen und Gesellschaften zugelassen. Das sind Rechtsanwälte, Steuerberater, Steuerbevollmächtigte, Wirtschaftsprüfer oder vereidigte Buchprüfer sowie Gesellschaften im Sinne des § 3 Nr. 2 und 3 des Steuerberatungsgesetzes, die durch solche Personen handeln.

In der Verhandlung können die Beteiligten mit Beiständen erscheinen (§ 62 Abs. 7 FGO). Beistand kann sein, wer in Verfahren, in denen die Beteiligten den Rechtsstreit selbst führen können, als Bevollmächtigter zur Vertretung in der Verhandlung befugt ist (s. o.). Das Gericht kann andere Personen als Beistand zulassen, wenn dies sachdienlich ist und hierfür nach den Umständen des Einzelfalls ein Bedürfnis besteht. Das von dem Beistand Vorgetragene gilt als von dem Beteiligten vorgebracht, soweit es nicht von diesem sofort widerrufen oder berichtigt wird.

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2.1.2.2 Prozessführungsbefugnis der Selbsthilfeorganisationen nach dem SGB IX und den Gleichstellungsgesetzen

Ergänzend ist auf das eigenständige Klagerecht hinzuweisen, welches durch Spezialgesetze solchen Organisationen behinderter Menschen eingeräumt worden ist, deren satzungsgemäße Aufgabe die gemeinschaftliche Interessenvertretung, die Beratung und Vertretung der Leistungsempfänger nach dem sozialen Entschädigungsrecht oder die Beratung und Vertretung der behinderten Menschen umfassen und die unter Berücksichtigung von Art und Umfang ihrer bisherigen Tätigkeit sowie ihres Mitgliederkreises die Gewähr für eine sachkundige Erfüllung dieser Aufgaben bieten.

Nach § 63 SGB IX können an Stelle behinderter Menschen, die in ihren Rechten nach dem SGB IX verletzt werden, mit ihrem Einverständnis Verbände klagen, die nach ihrer Satzung behinderte Menschen auf Bundes- oder Landesebene vertreten und nicht selbst am Prozess beteiligt sind. Es handelt sich um eine Prozessstandschaft und kein echtes Verbandsklagerecht, wie z. B. in § 13 BGG; denn es können nur individuelle und keine kollektiven Rechte geltend gemacht werden. Zu achten ist darauf, dass alle Verfahrensvoraussetzungen beim betroffenen behinderten Menschen selbst vorliegen müssen. Dies umfasst namentlich die Sachentscheidungsvoraussetzungen. Das sind durchgeführtes Vorverfahren, Zulässigkeit des Rechtswegs, die ordnungsgemäße Klageerhebung innerhalb der Klagefrist bei dem örtlich und sachlich zuständigen Gericht, die Statthaftigkeit der Klageart, die Beteiligten- und Prozessfähigkeit, die Postulationsfähigkeit, keine anderweitige Rechtshängigkeit und das Fehlen einer rechtskräftigen Entscheidung über den Streitgegenstand und das Rechtsschutzbedürfnis. Wenn z. B. die Klagefrist für den behinderten Menschen abgelaufen ist, kann auch der Verband keine Klage mehr erheben. Die Klagebefugnis nach § 63 SGB IX umfasst alle Streitgegenstände nach dem SGB IX, über die Gerichte zu entscheiden haben, mithin Streitverfahren vor den Gerichten der Arbeits-, Sozial- und Verwaltungsgerichtsbarkeit. Dem steht auch § 42 VwGO nicht entgegen. Nach § 42 Abs. 1 VwGO ist die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt oder seine Ablehnung oder Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. Eine solche gesetzliche Bestimmung stellt § 63 SGB IX dar. Dasselbe gilt für § 54 Abs. 1 Satz 2 SGG im Sozialgerichtsverfahren.

Die Vorschrift des § 63 SGB IX gilt auch für das Verfahren vor den Gerichten der Arbeitsgerichtsbarkeit, soweit sie nach § 2 Abs.1 Nr. 10 ArbGG für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten zwischen behinderten Menschen im Arbeitsbereich von Werkstätten für behinderte Menschen und den Trägern der Werkstätten aus den in §138 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch geregelten arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnissen zuständig sind. § 138 SGB IX hat die Rechtsstellung und das Arbeitsentgelt behinderter Menschen im Arbeitsbereich anerkannter Werkstätten für behinderte Menschen zum Inhalt.

In Angelegenheiten des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) sind durch eine Vertretungsbefugnis von Vereinen und Verbänden der Behindertenselbsthilfe (§ 12 BGG) und ein Verbandsklagerecht (§ 13 BGG) die Möglichkeiten verbessert worden, Ansprüche von behinderten Menschen auf Gleichstellung gerichtlich durchzusetzen. Vgl. dazu im Einzelnen Heft 02 Abschnitt 4.1.3.

Werden behinderte Menschen in ihren Rechten aus § 7 Abs. 2 (Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot durch Bundesbehörden), § 8 (Herstellung von Barrierefreiheit in den Bereichen Bau und Verkehr), § 9 Abs. 1 (Recht auf Verwendung von Gebärdensprache und anderen Kommunikationshilfen), § 10 Abs. 1 Satz 2 (Gestaltung von Bescheiden und Vordrucken) oder § 11 Abs. 1 (barrierefreie Informationstechnik) verletzt, können an ihrer Stelle und mit ihrem Einverständnis Verbände, welche nach § 13 Abs. 3 BGG das Verbandsklagerecht haben, aber nicht selbst am Verfahren beteiligt sind, Rechtsschutz beantragen, d. h. an Stelle des behinderten Menschen das Verfahren als Partei betreiben. Gleiches gilt bei Verstößen gegen Vorschriften des Bundesrechts, die einen Anspruch auf Herstellung von Barrierefreiheit im Sinne des § 4 BGG oder auf Verwendung von Gebärden oder anderen Kommunikationshilfen im Sinne des § 6 Abs. 3 BGG vorsehen. Der Verband tritt hier selbst als Kläger auf. Es handelt sich um eine Prozessstandschaft. Der Verband hat die Befugnis, ein fremdes Recht im eigenen Namen geltend zu machen, während ein Vertreter in fremdem Namen handelt. Die Verfahrensvoraussetzungen müssen aber bei dem in seinen Rechten verletzten behinderten Menschen vorliegen. Es muss also bei diesem die Klagebefugnis gegeben sein. Die Klage muss zulässig sein usw. Selbstverständlich bleibt es dem betroffenen behinderten Menschen überlassen, ob er selbst in eigenem Namen sein Recht verfolgen will, ob er sich dabei eines Vertreters, z. B. eines Rechtsanwaltes oder der Vertretung durch einen Verband bedienen will oder ob er der Wahrnehmung des Rechts im Wege der Prozessstandschaft durch einen Verband zustimmt.

Zusätzlich eröffnet das Gleichstellungsgesetz in § 13 bestimmten staatlich anerkannten Verbänden die Möglichkeit, ohne selbst in eigenen Rechten verletzt zu sein, unabhängig von einem Einzelfall Klage zu erheben und einen Rechtsstreit z.B. mit dem Ziel zu führen, eine konkret bezeichnete Barrierefreiheit durchzusetzen. Es handelt sich hier um ein Verbandsklagerecht. Zu den Einzelheiten vgl. Heft 02 Abschnitt 4.1.3. Der DBSV und der DVBS sind anerkannt worden.

Entsprechende Regelungen enthalten die Behindertengleichstellungsgesetze der Länder.

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2.2 Auskunfts- und Beratungspflicht der Rehaträger

Eine besondere Rolle spielen Fragen der Rehabilitation. Deshalb ist in diesem Zusammenhang auch auf die Beratung durch die Rehabilitationsträger und ihre gemeinsamen Servicestellen hinzuweisen.

Um den Bürgern den Zugang zu ihren Rechten zu erleichtern, wurden mit dem SGB I drei Pflichten für Leistungsträger eingeführt: Sie sind zu Information (§ 13 SGB I), Auskunft (§ 15 SGB I) und Beratung (§ 14 SGB I) über Einzelheiten der Prävention und Rehabilitation verpflichtet.

Diese Begriffe unterscheiden sich folgendermaßen voneinander:

  • Aufklärung (§ 13 SGB I) dient der allgemeinen Information der Bevölkerung (z.B. durch Merkblätter oder Broschüren), damit sie daraus ihre Rechte und Pflichten gegenüber einem Leistungsträger ableiten kann.
  • Unter Auskunft (§ 15 SGB I) versteht man einerseits die Antwort auf die Frage nach dem zuständigen Leistungsträger (die Auskunft hat also Wegweiserfunktion); andererseits erstreckt sich die Auskunft auf alle Sach- und Rechtsfragen, die für den Auskunftssuchenden von Bedeutung sein können und zu deren Beantwortung die Auskunftsstelle imstande ist. Auskunftsstellen sind die Träger der gesetzlichen Krankenkassen und der sozialen Pflegeversicherung und die nach Landesrecht zuständigen Stellen, wie z.B. die Landkreise, Gemeinden und Bezirksämter sowie nach § 22 Abs. 2 S. 2 SGB IX für Leistungen zur Teilhabe behinderter Menschen alle Rehabilitationsträger.
  • Beratung (§ 14 SGB I) ist eine umfassende, auf die persönliche Situation des Ratsuchenden bezogene Information, die genaue Kenntnis der Materie erfordert und deshalb nur vom jeweiligen Träger im Rahmen seiner Zuständigkeiten gegeben werden kann. Zur Beratung über Angelegenheiten der Krankenkassen sind also diese, über Rentenangelegenheiten die Rentenversicherungsträger verpflichtet.

Neben der Beratungspflicht des SGB I gibt es in Einzelgesetzen noch eine Reihe von Vorschriften über die Beratung behinderter Menschen.

Das SGB IX hat die allgemeinen Regelungen des § 14 SGB I inhaltlich ergänzt, präzisiert und die Einrichtung gemeinsamer örtlicher Servicestellen eingeführt (§§ 22 ff. SGB IX), „um qualifizierte Beratung und Unterstützung unverzüglich, trägerübergreifend, anbieterneutral und zugleich verbindlich zu gewährleisten" (Gesetzesbegründung BT-Drucks. 14/5074, Abschn. B, S. 105 zu § 22).

In den gemeinsamen Servicestellen bieten die Rehabilitationsträger behinderten und von Behinderung bedrohten Menschen, ihren Vertrauenspersonen und Personensorgeberechtigten Beratung und Unterstützung an (§ 22 Abs. 1 S. 1 SGB IX). Die Beratung soll neben Fragen der Zuständigkeit des Rehabilitationsträgers, der Leistungsvoraussetzungen, der zu gewährenden Leistungen und dem Leistungsbedarf bis zur Entscheidung oder Leistung des Rehabilitationsträgers auch eine unterstützende Begleitung beinhalten.

Die Aufgaben der Servicestellen sind in § 22 Abs. 1 SGB IX in einem umfangreichen, dennoch nicht erschöpfenden Katalog aufgeführt.

Aufgabe der Beratungsstellen und der gemeinsamen Servicestellen ist es danach:

  1. über Leistungsvoraussetzungen, Leistungen der Rehabilitationsträger, besondere Hilfen im Arbeitsleben sowie über die Verwaltungsabläufe zu informieren,
  2. bei der Klärung des Rehabilitationsbedarfs, bei der Inanspruchnahme von Leistungen zur Teilhabe, bei der Inanspruchnahme eines persönlichen Budgets und der besonderen Hilfen im Arbeitsleben sowie bei der Erfüllung von Mitwirkungspflichten zu helfen,
  3. zu klären, welcher Rehabilitationsträger zuständig ist, auf klare und sachdienliche Anträge hinzuwirken und sie an den zuständigen Rehabilitationsträger weiterzuleiten,
  4. bei einem Rehabilitationsbedarf, der voraussichtlich ein Gutachten erfordert, den zuständigen Rehabilitationsträger darüber zu informieren,
  5. die Entscheidung des zuständigen Rehabilitationsträgers in Fällen, in denen die Notwendigkeit von Leistungen zur Teilhabe offenkundig ist, so umfassend vorzubereiten, dass dieser unverzüglich entscheiden kann,
  6. bis zur Entscheidung oder Leistung des Rehabilitationsträgers den behinderten oder von Behinderung bedrohten Menschen unterstützend zu begleiten,
  7. bei den Rehabilitationsträgern auf zeitnahe Entscheidungen und Leistungen hinzuwirken und
  8. zwischen mehreren Rehabilitationsträgern und Beteiligten auch während der Leistungserbringung zu koordinieren und zu vermitteln.

Zu den Rehabilitationsträgern gehören nach § 6 SGB IX die gesetzlichen Krankenkassen, die Bundesagentur für Arbeit, die Träger der gesetzlichen Unfall- und Rentenversicherung, die Träger der Kriegsopferversorgung und -Fürsorge, die Träger der öffentlichen Jugendhilfe und die Träger der Sozialhilfe.

Die Beratung umfasst unter Beteiligung der Integrationsämter auch die Klärung eines Hilfebedarfs nach Teil 2 des SGB IX (Schwerbehindertenrecht). Die Pflegekassen werden bei drohender oder bestehender Pflegebedürftigkeit an der Beratung und Unterstützung durch die gemeinsamen Servicestellen beteiligt. Die Verbände behinderter Menschen einschließlich der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege, der Selbsthilfegruppen und der Interessenvertretungen behinderter Frauen werden mit Einverständnis der behinderten Menschen an der Beratung beteiligt (§ 22 Abs. 1 S. 5 SGB IX).

Eine Liste der bisher im gesamten Bundesgebiet eröffneten gemeinsamen Servicestellen ist auf der Internetseite der Deutschen Rentenversicherung unter www.reha-servicestellen.de abrufbar.

Auch die Pflegekassen haben den Versicherten und ihren Angehörigen gegenüber eine Beratungspflicht hinsichtlich der mit der Pflegebedürftigkeit zusammenhängenden Fragen (§ 7 SGB XI). Bei drohender oder bestehender Pflegebedürftigkeit werden die Pflegekassen ohnehin an den Beratungen der Servicestellen beteiligt (§ 22 Abs. 2 SGB IX). Nach dem seit 01.07.2008 geltenden § 7a SGB XI mit der Überschrift „Pflegeberatung“ wurde die Beratungspflicht durch die Pflegekassen im Interesse der Qualitätssicherung der Pflege erheblich erweitert. Nach § 7a Abs. 1 haben Personen, die Leistungen nach dem SGB XI erhalten, ab dem 1. Januar 2009 Anspruch auf individuelle Beratung und Hilfestellung durch einen Pflegeberater oder eine Pflegeberaterin bei der Auswahl und Inanspruchnahme von bundes- oder landesrechtlich vorgesehenen Sozialleistungen sowie sonstigen Hilfsangeboten, die auf die Unterstützung von Menschen mit Pflege-, Versorgungs- oder Betreuungsbedarf ausgerichtet sind (Pflegeberatung). Aufgabe der Pflegeberatung ist es insbesondere,

  1. den Hilfebedarf unter Berücksichtigung der Feststellungen der Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung systematisch zu erfassen und zu analysieren,
  2. einen individuellen Versorgungsplan mit den im Einzelfall erforderlichen Sozialleistungen und gesundheitsfördernden, präventiven, kurativen, rehabilitativen oder sonstigen medizinischen sowie pflegerischen und sozialen Hilfen zu erstellen,
  3. auf die für die Durchführung des Versorgungsplans erforderlichen Maßnahmen einschließlich deren Genehmigung durch den jeweiligen Leistungsträger hinzuwirken,
  4. die Durchführung des Versorgungsplans zu überwachen und erforderlichenfalls einer veränderten Bedarfslage anzupassen sowie
  5. bei besonders komplexen Fallgestaltungen den Hilfeprozess auszuwerten und zu dokumentieren.

Der Versorgungsplan beinhaltet insbesondere Empfehlungen zu den im Einzelfall erforderlichen Maßnahmen nach Nr. 3, Hinweise zu dem dazu vorhandenen örtlichen Leistungsangebot sowie zur Überprüfung und Anpassung der empfohlenen Maßnahmen. Bei Erstellung und Umsetzung des Versorgungsplans ist Einvernehmen mit dem Hilfesuchenden und allen an der Pflege, Versorgung und Betreuung Beteiligten anzustreben. Soweit Leistungen nach sonstigen bundes- oder landesrechtlichen Vorschriften erforderlich sind, sind die zuständigen Leistungsträger frühzeitig mit dem Ziel der Abstimmung einzubeziehen. Eine enge Zusammenarbeit mit anderen Koordinierungsstellen, insbesondere den gemeinsamen Servicestellen nach § 23 des SGB IX, ist sicherzustellen. Ihnen obliegende Aufgaben der Pflegeberatung können die Pflegekassen ganz oder teilweise auf Dritte übertragen. Ein Anspruch auf Pflegeberatung besteht auch dann, wenn ein Antrag auf Leistungen nach dem SGB XI gestellt wurde und erkennbar ein Hilfe- und Beratungsbedarf besteht. Es muss sichergestellt werden, dass im jeweiligen Pflegestützpunkt nach § 92c SGB XI Pflegeberatung im Sinne dieser Vorschrift in Anspruch genommen werden kann und die Unabhängigkeit der Beratung gewährleistet ist (SGB XI § 7a Abs. 1 letzter Satz). Nach § 7a Abs. 2 S. 1 SGB XI erfolgt die Pflegeberatung auf Wunsch unter Einbeziehung von Dritten, insbesondere Angehörigen und Lebenspartnern, und in der häuslichen Umgebung oder in der Einrichtung, in der der Anspruchsberechtigte lebt. Die Pflegeberatung muss durch Pflegeberater und Pflegeberaterinnen mit entsprechender Qualifikation erfolgen. In Frage für die Pflegeberatung kommen insbesondere Pflegefachkräfte, Sozialversicherungsfachangestellte oder Sozialarbeiter mit der jeweils erforderlichen Zusatzqualifikation (§ 7a Abs. 3 SGB XI).

Weitere spezialgesetzliche Regelungen für die Pflicht der Ärzte und Krankenhäuser zur Beratung von behinderten Menschen enthalten die §§ 92 Abs. 1 Nr. 8, 112 Abs. 2 Nr. 4 SGB V und für die Beratungspflicht der Versicherungsämter § 93 SGB VI. Gemäß § 11 SGB XII müssen die Sozialämter über ihre Beratungspflicht in Rehabilitationsfragen hinaus (vgl. oben) auch in sozialhilferechtlichen Fragestellungen, wie zum Beispiel der Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt, beraten.

Bei zu Unrecht unterlassener, unvollständiger oder unrichtiger Beratung haftet der Leistungsträger wegen Amtspflichtverletzung (sog. Amtshaftung nach Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGB), sofern ein Verschulden eines Amtsträgers vorliegt. Die Beweislast hierfür trifft allerdings den Ratsuchenden, dessen Lage aber dadurch sehr schwierig ist, dass er keinen Anspruch auf schriftliche Bestätigung einer mündlich erteilten Beratung hat. Neben dem Schadensersatzanspruch aus Amtshaftung hat das BSG für Bürger, die durch eine mangelhafte Beratung geschädigt wurden, einen so genannten sozialrechtlichen Herstellungsanspruch entwickelt, mit dessen Hilfe der Geschädigte so gestellt werden kann, wie wenn er bei richtiger Beratung seine Rechte wahrgenommen hätte. Wird z. B. die Antragsfrist wegen falscher Beratung versäumt und deshalb der Antrag zu spät gestellt, so gilt die Frist als gewahrt. Auf ein Verschulden der Behörde kommt es hierbei nicht an.

Wer die Aufklärungs-, Auskunfts- und Beratungspraxis eines Sozialversicherungsträgers (z. B. einer Berufsgenossenschaft oder einer AOK) unzureichend findet, kann eine Überprüfung dieser Praxis bei den Aufsichtsbehörden der Sozialversicherungsträger (§§ 87 ff. SGB IV) anregen. Diese Behörden sind vor allem das Bundesversicherungsamt (in Bonn) für bundesunmittelbare Versicherungsträger (z.B. die Deutsche Rentenversicherung Bund) und die Länderarbeitsminister (bzw. die entsprechenden Senatoren der Stadtstaaten) bei landesunmittelbaren Versicherungsträgern (z. B. AOK).

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2.3 Rechtliche Beratung und Vertretung durch Leistungserbringer

Leistungserbringer sind u. a. die Lieferanten von Hilfsmittel für blinde und sehbehinderte Menschen, Mobilitätstrainer und Rehabilitationslehrer.

Vielfach beraten und unterstützen sie blinde und sehbehinderte Menschen bei der Beantragung auf Ausstattung mit Hilfsmitteln (z. B. elektronischen Lesegeräten oder Braillezeilen) bzw. auf Kostenübernahme für das Mobilitätstraining oder die Vermittlung lebenspraktischer Fähigkeiten bei den in Frage kommenden Kostenträgern. Mitunter werden selbst die Anträge im Namen und Auftrag der Kunden gestellt.

Diese Tätigkeit stellt eine außergerichtliche Rechtsdienstleistung dar (vgl. zum Begriff der Rechtsdienstleistungen 2.1.1.2). Da diese Rechtsdienstleistungen im Rahmen der Haupttätigkeiten der oben genannten Leistungserbringer nur eine Nebentätigkeit darstellt, ist sie nach § 5 Abs. 1 S. 1 RDG zulässig. Danach sind Rechtsdienstleistungen im Zusammenhang mit einer anderen Tätigkeit erlaubt, wenn sie als Nebenleistung zum Berufs- oder Tätigkeitsbild gehören. Kenntnisse über mögliche Kostenträger müssen diese Leistungserbringer haben. Der wirtschaftliche Schwerpunkt der Tätigkeit liegt aber nicht in der Beratung, sondern in der Erbringung der Leistung.

Eine Vertretung der Kunden vor Gericht ist grundsätzlich nicht möglich (vgl. 2.1.2.1). Wenn dies zweckmäßig ist, kann ein Leistungserbringer seinen Kunden aber in der mündlichen Verhandlung vor Gericht als Beistand unterstützen (vgl. die Ausführungen zur Beistandschaft unter 2.1.2.1).

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2.4 Beratung und Vertretung durch Rechtsanwälte

Empfohlen kann auch die Beratung und Vertretung durch einen Rechtsanwalt werden.

Die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte sind berufene unabhängige Berater und Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten (§ 3 Abs. 1 Bundesrechtsanwaltsordnung - BRAO). Nach § 3 Abs. 3 BRAO hat Jedermann im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften das Recht, sich in Rechtsangelegenheiten aller Art durch einen Rechtsanwalt seiner Wahl beraten und vor Gerichten, Schiedsgerichten oder Behörden vertreten zu lassen. Wichtig ist, dass ein für das in Rede stehende Rechtsgebiet erfahrener Anwalt gefunden wird. Einen Hinweis auf eine entsprechende Qualifizierung gibt die Zulassung als Fachanwalt. U. a. gibt es Fachanwälte für Sozialrecht und Familienrecht. Wenn es z. B. in einer Familienrechtssache um die Berücksichtigung des Blindengeldes im Unterhaltsrecht geht (vgl. dazu Heft 06 Nr. 6.3), kann die Einschaltung eines Fachanwaltes für Familienrecht hilfreich sein. Bei der Suche nach einem Fachanwalt können Auskünfte der Anwaltskammern oder Anwaltsvereine bzw. Anwaltssuchdienste im Internet (z.B. über die Seite http://www.anwalt-suchservice.de bzw. http://www.anwaltsuche.de.) hilfreich sein. Ferner gibt es telefonische Anwaltsuchdienste. Auch die Selbsthilfeorganisationen der Blinden und Sehbehinderten verfügen häufig über Kontakte zu erfahrenen Anwälten, so dass sie entsprechende Hinweise geben können.

Mit der Einschaltung eines Rechtsanwaltes sind mitunter erhebliche Kosten verbunden. Trotzdem muss die Inanspruchnahme eines Rechtsanwaltes nicht am Geld scheitern. Dazu vgl. unten 6.

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3. Das Verwaltungsverfahren

Das Verwaltungsverfahren hat die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Behörden zum Gegenstand.

Rechtsquelle für das Verwaltungsverfahren im Sozialrecht ist vor allem das zehnte Buch des Sozialgesetzbuches (SGB X). Das sozialrechtliche Verwaltungsverfahren deckt sich zwar weitgehend mit dem Verwaltungsverfahren der inneren Verwaltung. Im SGB X werden sich aus dem Sozialrecht ergebende Besonderheiten berücksichtigt.

Vorschriften für das Verwaltungsverfahren im Sozialrecht finden sich außer im SGB X aber auch im SGB I und im SGB X. Die Blindengeldgesetze, welche auf das SGB X verweisen, enthalten ebenfalls ergänzende und teilweise abweichende Regelungen (vgl. Heft 6 Abschn. 8.1 dieser Schriftenreihe). In den Verfahrensvorschriften der Landesblindengeldgesetze sind vor allem geregelt: die Zuständigkeit für den Vollzug des Gesetzes, die Ermächtigung zum Erlass von Verwaltungsvorschriften oder Weisungen, die Antragstellung sowie Bestimmungen über den Nachweis der medizinischen Voraussetzungen.

Rechtsquellen für das Verwaltungsverfahren für die innere Verwaltung sind das Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes (VwVfG) und die Verwaltungsverfahrensgesetze der Länder. Letztere sind für die Blindengeldgesetze in Baden-Württemberg, Hamburg und Hessen maßgebend. Zu berücksichtigen sind zusätzlich die speziellen Verfahrensvorschriften in diesen Blindengeldgesetzen (vgl. Heft 6 Abschn. 8.1 dieser Schriftenreihe). Die Landesverwaltungsverfahrensgesetze sind anzuwenden, wenn eine Landesbehörde tätig wird.

Für das Steuerrecht ist das Verwaltungsverfahren in der Abgabenordnung geregelt. Das steuerrechtliche Verwaltungsverfahren findet hier keine Berücksichtigung.

Wegen seiner Bedeutung für blinde und sehbehinderte Menschen wird im Folgenden vor allem auf das sozialrechtliche Verwaltungsverfahren eingegangen. Die Regelungen für das sozialrechtliche Verwaltungsverfahren und für das Verwaltungsverfahren der inneren Verwaltung entsprechen sich weitgehend. Neben den einschlägigen Bestimmungen des SGB X „Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz“ werden auch die entsprechenden Paragrafen aus dem Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) zitiert. Das VwVfG gilt für die innere Bundesverwaltung. Die für die Landesverwaltungen geltenden Landesgesetze entsprechen ihrerseits weitgehend dem VwVfG. Eine Zitierung der Landesgesetze unterbleibt im Interesse der Übersichtlichkeit dieser Darstellung. Zum Verwaltungsverfahren im Einzelnen vgl. 3.1 bis 3.7.

Zum Verwaltungsverfahren gehört auch das Vorverfahren (Widerspruchsverfahren), welches in vielen Fällen Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Klage und damit der gerichtlichen Überprüfung ist. Weil es für die Erforderlichkeit des Vorverfahrens auf die Klageart ankommt, wird es erst im 4. Kapitel nach der Darstellung der Klagearten im Abschnitt 4.2 unter 4.3 behandelt.

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3.1 Begriff des Verwaltungsverfahrens

Die gesetzliche Definition des Verwaltungsverfahrens lautet: „Das Verwaltungsverfahren im Sinne dieses Gesetzes ist die nach außen wirkende Tätigkeit der Behörden, die auf die Prüfung der Voraussetzungen, die Vorbereitung und den Erlass eines Verwaltungsaktes oder auf den Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrages gerichtet ist; es schließt den Erlass des Verwaltungsaktes oder den Abschluss des öffentlich-rechtlichen Vertrags ein.“ (§ 8 SGB X, § 9 VwVfG). Zum Begriff und den Wirkungen des Verwaltungsaktes vgl. 3.2. Auf den Verwaltungsvertrag wird nicht näher eingegangen.

Behörde im Sinne des SGB X ist jede Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung nach dem SGB X wahrnimmt (§ 1 Abs. 2 SGB X,). Behörde im Sinne des VwVfG ist jede Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung außer nach dem SGB X wahrnimmt (§ 1 Abs. 4 VwVfG).

Erforderlich für die Behördeneigenschaft ist, dass sie die Zuständigkeit zur selbständigen Ausübung öffentlich-rechtlicher Verwaltungstätigkeit nach außen hat. Vgl. dazu näher Haufe Onlinekommentar Rz. 6 und 7 zu § 1 SGB X.

Ziel des Verwaltungsverfahrens ist die Sicherstellung des geordneten Vollzuges der Gesetze und die Gewährleistung eines rechtsstaatlichen Verfahrens zur Verwirklichung und Durchsetzung der Rechte und Pflichten, die der Einzelne gegenüber der Verwaltung besitzt (vgl. BVerfG v. 20.12.1979, 1 BvR 385/77, NJW 1980 S. 759, 763).

Die Tätigkeit der Behörde muss nach außen („zum Bürger hin“) wirken.

Vom Verwaltungsverfahren im Sinn von § 8 SGB X, § 9 VwVfG ist „schlichtes Verwaltungshandeln“ zu unterscheiden (vgl. BR-Drs. 170/78 S. 31), da es keinen Regelungscharakter besitzt und nicht auf den Erlass eines Verwaltungsaktes oder den Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrages gerichtet ist (vgl. BSG, Urteil v. 30.11.1994, 11 RAr 8/94, NJW 1995 S. 47). Nicht zum Verwaltungsverfahren gehören deshalb z.B. Beratung, Auskunft, Information. Ferner gehören dazu nicht verwaltungsinterne Verfahren ohne unmittelbare Außenwirkung, wie z. B. Datenspeicherung, Rechnungsprüfung sowie innerbehördliche Maßnahmen, die im Vorbereitungsstadium zum Erlass eines Verwaltungsakts notwendig sind, wie z.B. die Einholung von Daten im Wege der Amtshilfe oder Ermittlung von Daten durch Nachfrage beim Arbeitgeber des Versicherten. Auch die behördeninterne Vorprüfung, ob ein Verfahren durchgeführt werden soll oder muss, stellt noch kein Verwaltungsverfahren dar.

Vom Verwaltungsverfahren ist schließlich rein fiskalisches Handeln, wie z. B. der Einkauf von Büromaterial, zu unterscheiden. Für das fiskalische Handeln gilt das Privatrecht.

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3.2 Der Verwaltungsakt und seine Wirkung im Verwaltungsverfahren

Von zentraler Bedeutung im Verwaltungsverfahren ist der Verwaltungsakt. Auch für die Frage, ob ein Vorverfahren (Widerspruchsverfahren) als Voraussetzung für die Erhebung einer Klage vor den Verwaltungs- oder Sozialgerichten erforderlich ist und welche Klageart gewählt werden muss, kommt es auf das Vorliegen eines Verwaltungsaktes an. Zum Vorverfahren vgl. 3.8.1. Im Folgenden werden Begriff, Form und Inhalt des Verwaltungsaktes sowie die Bekanntgabe und Wirksamkeit im Verwaltungsverfahren behandelt.

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3.2.1 Begriff, Form und Inhalt des Verwaltungsaktes

Ein Verwaltungsakt ist nach der Legaldefinition in § 31 S. 1 SGB X bzw. § 35 S. 1 VwVfG jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Es handelt sich um einen Verwaltungsakt in materiell-rechtlichem Sinn.

Durch die Zielsetzung, einen Einzelfall zu regeln, unterscheiden sich Verwaltungsakte von Rechtssetzungsakten, welche in der Form von Gesetzen, Verordnungen, oder Satzungen generelle und abstrakte Regelungen treffen.

Ferner sind Verwaltungsakte von schlichtem Verwaltungshandeln zu unterscheiden. Während z. B. die Genehmigung einer Leistung einen Verwaltungsakt darstellt, ist die Auszahlung des genehmigten Betrages schlichtes Verwaltungshandeln. Weitere Beispiele für schlichtes Verwaltungshandeln sind: andere tatsächliche Handlungen im Verwaltungsverfahren, z.B. die Weiterleitung eines Antrags nach § 14 SGB IX (dazu vgl. 3.3.8), Auskünfte, Beratung, Gewährung von Akteneinsicht, geforderte Erhebung eines Beweises, Ausstellen von Bescheinigungen etc. Die Ablehnung einer solchen Handlung soll jedoch einen VA darstellen (z.B. BSG, Urteil vom 12.11.1980, 1 RA 45/79.

Eine Einzelfallregelung besteht in der Begründung, Erweiterung, Einschränkung, Bestätigung (Feststellung) oder Ablehnung eines Rechts oder Rechtsanspruchs Betroffener.

Ein Verwaltungsakt besteht notwendigerweise aus dem Verfügungssatz und der Angabe des Adressaten. Weitere Bestandteile sind, soweit das vorgeschrieben ist, die Begründung sowie die Rechtsbehelfsbelehrung (Verwaltungsakt in formellrechtlichem Sinn).

Aus dem Verfügungssatz und der Bestimmung des Adressaten muss sich (gegebenenfalls durch Auslegung) eindeutig ergeben, was von wem durch den Verwaltungsakt verlangt oder wem gegenüber etwas festgestellt wird. Dieser Bestimmtheitsgrundsatz gilt für den Verfügungssatz und für Nebenbestimmungen nach § 32 SGB X bzw. § 36 VwVfG. Wenn der Verwaltungsakt an einem auch nicht mehr durch Auslegung ermittelbaren unklaren Inhalt leidet, ist er wegen Rechtswidrigkeit aufzuheben, wenn nicht sogar wegen Nichtausführbarkeit Nichtigkeit vorliegt.

Die Begründung ist dem Verwaltungsakt beizufügen, was zusammen mit dem Verfügungssatz oder getrennt davon gesondert geschehen kann. Die Begründung gehört jedoch nicht mit zum Verfügungssatz des Verwaltungsaktes und wird damit auch nicht von dessen Bestandskraft erfasst.

Wenn die Rechtsbehelfsbelehrung fehlt, unrichtig oder unvollständig ist hat das keinen Einfluss auf die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes selbst, sondern lediglich auf die Rechtsmittelfrist.

Verwaltungsakte lassen sich nach verschiedenen Merkmalen unterscheiden:

  1. nach ihrer Rechtsgrundlage und Regelungskompetenz: gestaltende Verwaltungsakte (z.B. bei Ermessensentscheidungen); feststellende deklaratorische Verwaltungsakte (z.B. über das Bestehen von Versicherungspflicht kraft Gesetzes);
  2. nach dem Anlass des Tätigwerdens: einseitige Verwaltungsakte (z.B. Beitragsfestsetzungen); mitwirkungsbedürftige Verwaltungsakte, welche einen Antrag erfordern (z.B. Rentenfestsetzung, Befreiungsbescheide);
  3. nach der inhaltlich möglichen Entscheidungsfreiheit: gebundene Verwaltungsakte, Beurteilungs- und Ermessensentscheidungen;
  4. nach den Auswirkungen für den Betroffenen: nicht begünstigende Verwaltungsakte (z.B. Beitragsbescheide); begünstigende Verwaltungsakte (z.B. Leistungsbewilligung dem Grunde und der Höhe nach); begünstigende und belastende Verwaltungsakte (z.B. bei nur teilweiser Leistungsgewährung);
  5. nach der zeitlichen Geltung der Entscheidung: einmaliger Verwaltungsakt (z.B. Zuerkennung eines bestimmten konkreten Leistungs- oder Erstattungsanspruchs); Verwaltungsakte mit Dauerwirkung (z.B. Anerkennung einer Gesundheitsbeeinträchtigung als Schädigungsfolge von Kriegs- oder Wehrdienst oder als Folge eines Arbeitsunfalles).

Diese Aufstellung ist Haufe Onlinekommentar Rz. 21 zu § 31 SGB X entnommen. Die Feststellung der Art des Verwaltungsaktes hat insbesondere für die Fragen der Aufhebung, Rücknahme oder den Widerruf Bedeutung.

Verwaltungsakte auf dem Gebiet des Sozialrechts sind z. B.

  • die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft (§ 69 SGB IX),
  • die Genehmigung oder Ablehnung des Blindengeldes nach einem Landesblindengeldgesetz oder der Blindenhilfe nach § 72 SGB XII,
  • die Genehmigung oder Ablehnung eines Hilfsmittels, etwa eines Lesegerätes, einer Braillezeile, des Langstockes und Mobilitätstrainings, der Ausstattung mit einem Blindenhund durch die gesetzliche Krankenkasse (§ 33 SGB V),
  • die Genehmigung oder Ablehnung einer Eingliederungsleistung durch den Sozialhilfeträger (§§ 53 ff. SGB XII),
  • die Genehmigung oder Ablehnung einer Rente wegen Erwerbsminderung (§ 43 SGB VI) sowie
  • die Feststellungen vor dem späteren Rentenbescheid, z.B. die Berücksichtigung von Beitragszeiten im Versicherungsverlauf.
  • 33 SGB X bzw. § 37 VwVfG regeln, welche Anforderungen an die Bestimmtheit und Form des Verwaltungsaktes zu stellen sind.

Ein Verwaltungsakt muss inhaltlich hinreichend bestimmt sein (§ 33 Abs. 1 SGB X, § 37 Abs. 1 VwVfG).

Der im nichtförmlichen Verwaltungsverfahren erlassene Verwaltungsakt kann formlos erlassen werden, sofern eine bestimmte Form nicht gesetzlich vorgeschrieben ist. § 33 Abs. 2 S. 1 SGB X bzw. § 37 Abs. 2 S. 1 VwVfG bestimmen, dass er schriftlich, elektronisch, mündlich oder in anderer Weise erlassen werden kann. Ein mündlicher Verwaltungsakt ist schriftlich oder elektronisch zu bestätigen, wenn hieran ein berechtigtes Interesse besteht und der Betroffene dies unverzüglich verlangt. Unverzüglich heißt ohne schuldhaftes Zögern (§ 121 BGB). Ein berechtigtes Interesse an einer schriftlichen Bestätigung kann sich daraus ergeben, dass Rechtsbehelfe eingelegt werden sollen oder der Nachweis eines bestimmten Verwaltungsaktes gegenüber einem Dritten Bedeutung hat. Ein elektronischer Verwaltungsakt ist unter denselben Voraussetzungen schriftlich zu bestätigen. Die schriftliche Bestätigung ist mit der einfachen Leistungsklage durchsetzbar (Haufe Onlinekommentar Rz. 18 zu § 33 SGB X).

Die Abs. 3 bis 5 von § 33 SGB X bzw. § 37 VwVfG enthalten für die schriftliche und elektronische Form nähere Einzelheiten. Nach § 33 Abs. 5 S. 1 SGB X, § 37 Abs. 5 S. 1 VwVfG können bei einem Verwaltungsakt, der mit Hilfe automatischer Einrichtungen erlassen wird, Unterschrift und Namenswiedergabe fehlen. Die erlassende Behörde muss aber auf jeden Fall erkennbar sein. Damit wird den Erfordernissen der Massenverwaltung, bei der gleichartige Entscheidungen in vielen Fällen ergehen, Rechnung getragen.

Bei einem elektronischen Verwaltungsakt muss in diesem Fall das der Signatur zugrunde liegende Zertifikat nur die erlassende Behörde erkennen lassen.

Die nach § 33. Abs. 2 SGB X grundsätzlich gegebene Formfreiheit für den Verwaltungsakt wird durch eine Vielzahl von Sonderregelungen eingeschränkt. So ist z. B. für den Rückforderungsbescheid nach § 50 Abs. 3 SGB X und den Widerspruchsbescheid (§ 85 Abs. 3 SGG) ein schriftlicher Verwaltungsakt erforderlich. In einzelnen Spezialgesetzen ist geregelt, dass Entscheidungen über Leistungen der Schriftform bedürfen (z.B. § 117 SGB VI).

Für die Ablehnung und Entziehung von Kindergeld schreiben § 14 BKGG, § 70 EStG das Erfordernis eines schriftlichen Bescheides vor. Für das Verfahrensrecht der Kriegsopferversorgung ist in § 22 Abs. 1 VwVfG-KOV Schriftform gefordert.

Die §§ 35 SGB X und 39 VwVfG regeln die Pflicht zur Begründung von Verwaltungsakten. Die Begründungspflicht hat den Zweck, die Entscheidung verständlich und nachvollziehbar zu machen. Ferner soll sie die Möglichkeit der Überprüfung des tatsächlichen Sachverhaltes und der rechtlichen Begründung bieten, um die Frage von Rechtsbehelfen prüfen zu können. Während Abs. 1 die Begründungspflicht für Verwaltungsakte anordnet, lässt Abs. 2 davon Ausnahmen zu. Abs. 3 gibt den Beteiligten wiederum die Möglichkeit, für einen Teil der nicht zu begründenden Verwaltungsakte doch innerhalb eines Jahres eine Begründung zu verlangen.

Nach § 35 Abs. 1 SGB X, § 39 Abs. 1 VwVfG ist ein schriftlicher oder elektronischer sowie ein schriftlich oder elektronisch bestätigter Verwaltungsakt mit einer Begründung zu versehen.

Inhaltlich umfasst die Begründungspflicht die Darlegung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhaltes und der darauf angewandten Rechtsvorschriften. Die Begründung kann sich auf die wesentlichen, die Entscheidung im Einzelfall tragenden Gründe konzentrieren, muss also nicht auf alle Einzelheiten eingehen. Zur Begründung gehört die Benennung der Rechtsnormen, auf die der Erlass des Verwaltungsaktes gestützt ist. Auslegungsbedürftige und unbestimmte Rechtsbegriffe müssen erläutert werden, ggf. auch unter Hinweis auf eine durch die Rechtsprechung vorgenommene Auslegung, der gefolgt werden muss oder kann. Die rechtliche Begründung muss allerdings nicht in allen Fällen eine vollständige Subsumtion des Sachverhaltes unter die Rechtsnorm beinhalten, sondern kann sich auf das für eine Ablehnung entscheidende Tatbestandsmerkmal beschränken.

Die Begründung von Ermessensentscheidungen ist dahin erweitert, dass sie auch die Gesichtspunkte erkennen lassen muss, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist.

Die Darlegung der Gründe und Gesichtspunkte ist insbesondere für die Fälle der Leistungsgewährung nach Ermessen von Bedeutung, da hier die gerichtliche Überprüfung der Ermessensentscheidung auf die Überprüfung eines Ermessensfehlgebrauchs durch Überschreiten oder zweckwidrigen Gebrauch des Ermessens begrenzt ist (§ 54 Abs. 2 S. 2 SGG).

Ausnahmen von der Begründungspflicht enthalten die §§ 35 Abs. 2 SGB X und 39 Abs. 2 VwVfG. Eine Begründung ist nach diesen Vorschriften nicht erforderlich:

  1. soweit die Behörde einem Antrag entspricht oder einer Erklärung folgt und der Verwaltungsakt nicht in Rechte eines anderen eingreift,
  2. soweit demjenigen, für den der Verwaltungsakt bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, die Auffassung der Behörde über die Sach- und Rechtslage bereits bekannt oder auch ohne Begründung für ihn ohne weiteres erkennbar ist,
  3. wenn die Behörde gleichartige Verwaltungsakte in größerer Zahl oder Verwaltungsakte mit Hilfe automatischer Einrichtungen erlässt und die Begründung nach den Umständen des Einzelfalles nicht geboten ist (z. B. die Anpassung von Leistungen nach einem bestimmten Rechenfaktor, wie etwa Renten- oder Leistungsanpassungen nach einem gesetzlich vorgesehenen Faktor),
  4. wenn sich dies aus einer Rechtsvorschrift ergibt.

In den Fällen der Nrn. 1 bis 3 ist der Verwaltungsakt jedoch schriftlich oder elektronisch zu begründen, wenn der Beteiligte, dem der Verwaltungsakt bekannt gegeben ist, es innerhalb eines Jahres seit Bekanntgabe verlangt (§ 35 Abs. 3 SGB X).

Die Begründungspflicht entsteht aber auch für einen an sich nach Abs. 2 begründungsfreien VA im Falle eines Widerspruchsbescheides, da dieser immer zu begründen ist (§ 85 Abs. 3 SGG).

Schriftliche Verwaltungsakte oder schriftlich bestätigte Verwaltungsakte sind nach § 36 SGB X mit einer schriftlichen Rechtsbehelfsbelehrung zu versehen. Das VwVfG enthält keine solche allgemeine Verpflichtung zu einer Rechtsbehelfsbelehrung. Die Rechtsbehelfsbelehrung muss die Behörde oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, deren Sitz (Postanschrift), die einzuhaltende Frist und die Form bezeichnen.

Für die Rechtsbehelfsbelehrung bei einem Widerspruchsbescheid gelten § 85 Abs. 3 SGG bzw. § 73 Abs. 3 VwGO.

Die fehlende, unrichtige oder unvollständige Rechtsbehelfsbelehrung hat keinen Einfluss auf die Rechtmäßigkeit oder Vollstreckbarkeit des Verwaltungsaktes selbst. Sie eröffnet lediglich die Möglichkeit, noch innerhalb eines Jahres den Rechtsbehelf einzulegen (§ 66 Abs. 2 SGG bzw. § 58 Abs. 2 VwGO).

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3.2.2 Bekanntgabe und Wirksamkeit des Verwaltungsaktes

Die Bekanntgabe des Verwaltungsaktes ist in § 37 SGB X bzw. § 41 VwVfG geregelt. § 37 SGB X entspricht weitgehend § 41 VwVfG. Diese Bestimmungen treffen die formellen Voraussetzungen für die Wirksamkeit eines Verwaltungsaktes und regeln, an wen (Abs. 1) und in welcher Form (Abs. 2 bis 4) ein Verwaltungsakt bekannt zu geben ist. Von der Bekanntgabe hängen die Wirksamkeit (§ 39 SGB X, § 43 VwVfg) und die Rechtsbehelfsfristen (§ 84 SGG) ab. Die Bekanntgabe hat darüber hinaus z.B. auch Bedeutung für das Entstehen von Ansprüchen bei Ermessensleistungen nach § 40 Abs. 2 SGB I, die Verzinsungspflicht nach § 44 Abs. 2 SGB I, die Rücknahmefrist des § 45 Abs. 3 SGB X und die Frage der Änderung der Verhältnisse nach § 48 Abs. 1 SGB X.

Die Bekanntgabe ist grundsätzlich mit dem Zugang in den Machtbereich des Empfängers vollzogen. Die tatsächliche Kenntnisnahme ist aber nicht erforderlich, ausreichend für die Bekanntgabe ist die Möglichkeit der Kenntnisnahme (§ 130 BGB). Anders ist es jedoch bei der Bekanntgabe eines elektronischen Verwaltungsaktes, da gemäß § 36a Abs. 1 SGB I die Zulässigkeit der Übermittlung davon abhängig ist, dass der Empfänger hierfür einen Zugang eröffnet hat.

Nach § 37 Abs. 1 SGB X bzw. § 41 Abs. 1 VwVfG ist ein Verwaltungsakt demjenigen Beteiligten bekannt zu geben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird. Das sind die Beteiligten i.S.v. § 12 SGB X bzw. § 13 VwVfG. Wenn mehrere Personen Beteiligte des Verwaltungsverfahrens sind, hat die Bekanntgabe an jeden von ihnen stattzufinden. Wenn ein Bevollmächtigter bestellt ist, kann die Bekanntgabe mit Wirkung für den Beteiligten dem Bevollmächtigten gegenüber vorgenommen werden. Die Behörde hat bei gewillkürter Vertretung anders als bei einem gesetzlichen Vertreter die Wahlmöglichkeit. Die Bekanntgabe kann entweder gegenüber dem Beteiligten oder dem bestellten Bevollmächtigten erfolgen. Die Bekanntgabe kann auch gegenüber beiden erfolgen. Wenn ein Verwaltungsakt förmlich zuzustellen ist, muss dies an den bestellten Bevollmächtigten stattfinden (§ 7 VwZG).

Die Bekanntgabe ist, soweit gesetzlich nichts anderes vorgeschrieben ist, mündlich, schriftlich, elektronisch oder in sonstiger Weise möglich. Die Bekanntgabe eines mündlichen, elektronischen oder sonstigen Verwaltungsaktes kann nur in tatsächlicher Weise erfolgen. Die schriftliche Bekanntgabe kann durch Aushändigung des schriftlichen Verwaltungsaktes, Übersendung mit einfachem Brief, per Einschreiben (mit oder ohne Rückschein oder Postzustellungsurkunde) oder in den Fällen der Abs. 3 und 4 von § 37 SGB X bzw. 41 VwVfG durch öffentliche Bekanntgabe geschehen. Der elektronische Verwaltungsakt setzt, neben der erforderlichen Eröffnung des Zugangs (vgl. § 36a SGB I), den Zugang im Wege eines elektronischen Mediums und die (technische) Möglichkeit der Umsetzung des elektronischen Dokuments in lesbaren Text voraus. Sofern besondere Vorschriften die förmliche Zustellung vorschreiben, richtet sich das Verfahren nach dem Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG).

Schriftliche Verwaltungsakte werden im Regelfall mit der Post übersandt. In diesen Fällen gilt im Inland nach § 37b Abs. 2 SGB X bzw. § 41 Abs. 2 VwVfG zugunsten des Adressaten der dritte Tag nach Aufgabe zur Post als frühester Zugangszeitpunkt. Ein tatsächlich früherer Zugang ist unbeachtlich. Auch für den elektronischen Verwaltungsakt gilt nach § 37 Abs. 2 bzw. § 41 Abs. 2 VwVfG die Zugangsfiktion von drei Tagen ab dem Datum der Absendung des elektronischen Dokumentes, obwohl die Übermittlungsdauer in diesen Fällen an sich so kurz ist, dass die Entfernung zum Bestimmungsort bedeutungslos wird. Für elektronische Verwaltungsakte besteht daher die Beschränkung der Vermutungsregelung auf das Inland nicht.

Die Fiktion des Zugangszeitpunktes gilt nicht, wenn geltend gemacht wird, dass der Verwaltungsakt nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen. Ferner sind die Verwaltungszustellungsgesetze des Bundes (VwZG) und der Länder zu beachten; sie regeln den Zeitpunkt der Zustellung und damit auch der Bekanntgabe. So ist nach § 4 Abs. 1 VwZG bei der Zustellung mittels eingeschriebenen Briefes die Zustellung und damit auch die Bekanntgabe erst mit dem dritten Tag nach der Aufgabe zur Post bewirkt, soweit das Schriftstück nicht zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist.

Blinde und sehbehinderte Menschen können verlangen, dass ihnen Bescheide kostenfrei zusätzlich zum Originalbescheid in einer für sie wahrnehmbaren Form zugänglich gemacht werden, soweit dies zur Wahrnehmung eigener Rechte im Verwaltungsverfahren erforderlich ist. Für Bundesbehörden ist das in § 10 Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) und in der Verordnung über barrierefreie Dokumente in der Bundesverwaltung (VBD) geregelt. Entsprechende Regelungen enthalten die Behindertengleichstellungsgesetze der Länder und die jeweils dazu ergangenen Verordnungen. Die Gesetzestexte der Behindertengleichstellungsgesetze sind in Heft 11 dieser Schriftenreihe wiedergegeben. Die Dokumente können nach § 3 VBD bzw. den entsprechenden Bestimmungen der in den Ländern erlassenen Rechtsverordnungen den Berechtigten schriftlich, elektronisch, akustisch, mündlich oder in sonstiger Weise zugänglich gemacht werden. Die schriftliche Wiedergabe erfolgt in Brailleschrift oder in Großdruck, die akustische Wiedergabe auf einem Tonträger. Hinsichtlich der Art der Wiedergabe besteht ein Wahlrecht des Betroffenen. Die Dokumente sollen den Berechtigten, soweit möglich, gleichzeitig mit der Bekanntgabe auch in der für sie wahrnehmbaren Form zugänglich gemacht werden (§ 4 VBD und entsprechende Regelungen in den Rechtsverordnungen der Länder). Für den Beginn von Fristen ist der Zugang des Originaldokuments, nicht des Dokuments in angepasster Form maßgebend. Da es um die Rechte des Betroffenen geht, hat nur dieser den Anspruch auf die Wiedergabe des Bescheides in angepasster Form. Ein Bevollmächtigter, z. B. ein blinder Mitarbeiter einer Selbsthilfeorganisation oder ein blinder Rechtsanwalt, der Rechte eines Mandanten wahrnimmt, könnte nicht verlangen, dass ihm die Bescheide usw. in angepasster Form zugehen. Vgl. im Einzelnen auch Heft 2 dieser Schriftenreihe, Abschn. 4.1.2.

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3.3 Verlauf und Grundsätze des Verwaltungsverfahrens

Die Einzelheiten des Verwaltungsverfahrens sind in den §§ 8 bis 66 SGB X und 9 bis 62 VwVfG (abgesehen von den Regelungen für besondere Verwaltungsverfahren) enthalten.

Die Regelungen und die Verfahrensgrundsätze im SGB X und in den Verwaltungsverfahrensgesetzen für die innere Verwaltung entsprechen sich weitgehend.

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3.3.1 Nichtförmlichkeit des Verwaltungsverfahrens

Das Verwaltungsverfahren soll möglichst bürgerfreundlich durchgeführt werden. Das gilt nicht nur für die Stellung von Anträgen, sondern für das gesamte Verfahren.

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3.3.1.1 Allgemeines zur Nichtförmlichkeit

Die Grundregel für das Verwaltungsverfahren lautet: „Das Verwaltungsverfahren ist an bestimmte Formen nicht gebunden, soweit keine besonderen Rechtsvorschriften für die Form des Verfahrens bestehen. Es ist einfach, zweckmäßig und zügig durchzuführen“ (§ 9 SGB X, § 10 VwVfG). Die Vorschrift gilt für das gesamte Verwaltungsverfahren und ist auch im Vorverfahren (vgl. unten 3.8.1) anzuwenden. Das Verfahren ist damit sehr bürgerfreundlich und kommt auch im Umgang mit Behörden unerfahrenen Personen zugute.

Bei der Gestaltung des Verwaltungsverfahrens sind die allgemeinen Verfahrensgrundsätze (z.B. Gebot der Rechtsstaatlichkeit, Willkürverbot, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel) zu beachten. Die für das Verwaltungsverfahren gesetzlich festgelegten Grundsätze, z. B. der Amtsermittlungsgrundsatz (§ 20 SGB X bzw. 24 VwVfG) müssen beachtet werden.

Aus der Nichtförmlichkeit des Verwaltungsverfahrens folgt, dass im Allgemeinen kein Formzwang für Anträge besteht (dazu vgl. 3.3.1.2), eine mündliche Verhandlung während des Verwaltungsverfahrens nicht zwingend vorgeschrieben ist und an die Entscheidung und ihre Bekanntgabe keine besonderen Formerfordernisse gestellt werden (BSG, Urteil v. 27.3.1980, 12 RAr 1/79, ZfSH 1980 S. 369).

Die Formfreiheit des Verwaltungshandelns bezieht sich auf die Beziehungen zwischen Behörde und Beteiligten. Sie verbietet es der Behörde aber nicht, durch Verwaltungsvorschriften oder innerdienstliche Anweisungen für bestimmte Verwaltungshandlungen Formvorschriften zu erlassen, z.B. die Verwendung von Vordrucken oder Formularen einzuführen. § 9 Satz 1 schränkt auch die Befugnis der Behörde, nach § 60 Abs. 2 SGB I Vordrucke zu verwenden, nicht ein. Nach dieser Vorschrift sollen Vordrucke zur Angabe von Tatsachen oder Veränderungen in den Verhältnissen verwendet werden, wenn jemand Sozialleistungen beantragt oder erhält. Wenn Vordrucke – auch solche nach § 62 SGB I – nicht verwendet werden, hat das keine negativen Folgen. Die Nichtverwendung von Vordrucken hat auch nicht zur Folge, dass wegen fehlender Mitwirkung nach § 66 SGB I die Sozialleistung bis zur Nachholung, d.h. bis zur Verwendung der Formulare, versagt werden kann, sofern die erforderlichen Angaben ohne Verwendung der Vordrucke vollständig gemacht werden.

Der Grundsatz der Nichtförmlichkeit des Verwaltungsverfahrens gilt dann nicht, wenn besondere Rechtsvorschriften eine bestimmte Verfahrensform vorschreiben, wie dies z.B. § 117 SGB VI für einen schriftlichen Leistungsbescheid in der gesetzlichen Rentenversicherung oder § 102 SGB VII bei bestimmten Leistungsbescheiden in der gesetzlichen Unfallversicherung vorschreiben. Nach § 46 Abs. 1 SGB I kann auf Ansprüche auf Sozialleistungen nur durch schriftliche Erklärung gegenüber dem Leistungsträger verzichtet werden. Formvorschriften können sich auch aus Satzungen von Leistungsträgern ergeben.

Vom formlosen Verwaltungsverfahren ist auch das förmliche Verwaltungsverfahren zu unterscheiden. Ein förmliches Verwaltungsverfahren findet nur aufgrund besonderer gesetzlicher Anordnung statt. Es ist z. B. für die innere Verwaltung in den §§ 63 bis 78 VwVfG geregelt. Den Normalfall bildet aber auch für die innere Verwaltung gemäß § 10 VwVfG das nichtförmliche Verfahren. Ein förmliches Verwaltungsverfahren ist z. B. das Enteignungsverfahren gemäß §§ 104 ff. Baugesetzbuch (BauGB). Weil das förmliche Verwaltungsverfahren im Zusammenhang mit dieser Schriftenreihe keine Rolle spielt, wird darauf nicht weiter eingegangen.

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3.3.1.2 Auswirkung des Grundsatzes der Nichtförmlichkeit auf Anträge

Sozialleistungen werden meist nur auf Antrag gewährt. So werden nach § 19 S. 1 SGB IV „Leistungen in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung, nach dem Recht der Arbeitsförderung sowie in der sozialen Pflegeversicherung auf Antrag erbracht, soweit sich aus den Vorschriften der einzelnen Versicherungszweige nichts Abweichendes ergibt." Für die gesetzliche Unfallversicherung bestimmt § 19 S. 2 SGB IV: „Leistungen in der gesetzlichen Unfallversicherung werden von Amts wegen erbracht, soweit sich aus den Vorschriften aus der gesetzlichen Unfallversicherung nichts Abweichendes ergibt." Ein Antrag ist z.B. erforderlich, wenn jemand gemäß § 6 SGB VII der gesetzlichen Unfallversicherung freiwillig beitritt.

Sozialhilfe setzt nach § 18 Abs. 1 SGB XII mit Ausnahme der Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zwar ein, „sobald dem Träger der Sozialhilfe oder den vom ihm beauftragten Stellen bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Leistung vorliegen." Ein Antrag ist deshalb nicht notwendig. Trotzdem ist die Stellung eines Antrags dringend zu empfehlen, da auf diese Weise der Hilfebedarf bekannt wird. Für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung gilt gemäß § 41 Abs. 1 SGG XII das Antragserfordernis.

Nach § 69 Abs. 1 SGB IX stellen „Auf Antrag der behinderten Menschen"... „die zur Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden das Vorliegen der Behinderung und den Grad der Behinderung fest". § 69 Abs. 5 SGB IX enthält eine parallele Regelung zur Ausstellung des Schwerbehindertenausweises.

Das Blindengeld nach einem Landesblindengeldgesetz wird ebenfalls nur auf Antrag gewährt. Dazu vgl. Heft 6 Nr. 5.2.5.2.1 und 5.2.5.2.2.

Anträge können, sofern gesetzlich nichts anderes vorgeschrieben ist, formlos gestellt werden. Das ergibt sich aus § 9 SGB X. Wegen des Grundsatzes der Nichtförmlichkeit des Verwaltungsverfahrens kann die Behörde eine Leistungsgewährung nicht von der Verwendung eines bestimmten Formvordrucks für die Stellung von Anträgen oder der Einreichung von Anträgen in mehrfacher Ausfertigung abhängig machen, außer das Formular ist durch eine besondere Rechtsvorschrift vorgeschrieben. Wenn ein formlos eingereichter Antrag sämtliche für die Gewährung einer Leistung erforderlichen Angaben enthält, ist die Behörde gehalten, den Antrag zu bearbeiten. Dem Antragsteller dürfen daraus keine Nachteile entstehen.

Als Antrag gilt jede Willenserklärung, mit der ein bestimmtes Verhalten einer Behörde in einem Einzelfall begehrt wird.

Trotz des Grundsatzes der Formfreiheit ist zur eigenen Dokumentation und zu Beweiszwecken zu empfehlen, Anträge stets schriftlich zu stellen. Sofern die Behörde für die Antragstellung Formulare eingeführt hat, sollten diese aus praktischen Gründen verwendet werden, auch wenn dazu keine Verpflichtung besteht.

Sprachbehinderte Personen können ihren Antrag in Gebärdensprache oder mit Hilfe anderer Kommunikationshilfen vortragen und haben Anspruch auf deren Bereitstellung (vgl. § 9 BGG, dazu die KHV und parallele Regelungen). Blinde können nach § 10 BGG und entsprechenden Bestimmungen in den Landesgleichstellungsgesetzen unter anderem „Vordrucke" in einer für sie wahrnehmbaren Form beanspruchen. Eine Antragstellung in Blindenschrift ist dort freilich nicht geregelt. Von der Antragstellung in Blindenschrift ist jedoch abzuraten, weil sie die Bearbeitung verzögern wird. Wenn die Stellung des Antrags in schriftlicher Form Schwierigkeiten bereitet, ist die persönliche Vorsprache bei der Behörde und die Stellung des Antrages in mündlicher Form zu empfehlen.

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3.3.2 Beteiligtenfähigkeit

Zu unterscheiden ist zwischen der Fähigkeit, überhaupt Beteiligter eines Verwaltungsverfahrens zu sein (§ 10 SGB X bzw. § 11 VwVfG) und der Stellung als Beteiligter in einem konkreten Verwaltungsverfahren (§ 12 SGB X bzw. § 13 VwVfG).

Beteiligte an einem Verwaltungsverfahren können nach § 10 SGB X, § 11 VwVfG sein:

  1. natürliche und juristische Personen,
  2. Vereinigungen, soweit ihnen ein Recht zustehen kann und
  3. Behörden.

Unter Beteiligungsfähigkeit versteht das öffentliche Recht die Fähigkeit, Subjekt eines Verwaltungsverfahrens, d.h. Initiator, Empfänger oder sonstiger Beteiligter eines solchen Verfahrens zu sein. Dazu gehört insbesondere auch die Fähigkeit, durch einen Antrag ein Verwaltungsverfahren einzuleiten und dadurch ein Verfahrensrechtsverhältnis zu begründen.

Beteiligt an einem konkreten Verwaltungsverfahren können nur solche Personen sein, denen die allgemeine Beteiligungsfähigkeit nach § 10 SGB X bzw. § 12 VwVfG zusteht. Beteiligte eines konkreten Verfahrens sind nach § 12 SGB X, § 13 VwVfG:

  1. der Antragsteller und der Antragsgegner,
  2. diejenigen, an die die Behörde den Verwaltungsakt richten will oder gerichtet hat,
  3. diejenigen, mit denen die Behörde einen öffentlich-rechtlichen Vertrag schließen will oder geschlossen hat und
  4. diejenigen, die, weil ihre rechtlichen Interessen berührt werden, von Amts wegen oder auf Antrag von der Behörde zu dem Verfahren hinzugezogen worden sind.

Wenn der Ausgang des Verfahrens rechtsgestaltende Wirkung für einen Dritten hat, ist dieser auf Antrag als Beteiligter zu dem Verfahren hinzuzuziehen. Soweit er der Behörde bekannt ist, hat diese ihn von der Einleitung des Verfahrens zu benachrichtigen (§ 12 Abs. 2 S. 2 SGB X).

Mit der Beteiligungsfähigkeit ist noch nicht die Befugnis verbunden, selbständig Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Ein Beteiligter, der selbst nicht handlungsfähig ist, muss sich vertreten lassen. Die Handlungsfähigkeit beurteilt sich nach § 11 SGB X bzw. § 12 VwVfG. Dazu vgl. 3.3.3.

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3.3.3 Handlungsfähigkeit, Vertretung und Beistandschaft

In diesem Abschnitt wird behandelt, unter welchen Voraussetzungen Handlungen im Verwaltungsverfahren rechtserheblich vorgenommen werden können, sei es als Beteiligter, als Vertreter oder als Beistand.

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3.3.3.1 Handlungsfähigkeit

Von der Beteiligtenfähigkeit ist die Handlungsfähigkeit zu unterscheiden. Handlungsfähigkeit im Verwaltungsverfahren ist die Fähigkeit, rechtlich bedeutsame Handlungen selbst, d.h. ohne das Erfordernis eines Bevollmächtigten oder Vertreters, vornehmen zu können oder durch einen selbst bestellten Vertreter vornehmen zu lassen. Dabei bedeutet „Vornahme" sowohl die Abgabe als auch die Entgegennahme verwaltungsverfahrensrechtlicher Erklärungen (vgl. BT-Drs. 8/2034 S. 31). Sie entspricht der Geschäftsfähigkeit im bürgerlichen Recht (§ 104 BGB) und der Prozessfähigkeit im gerichtlichen Verfahren (§ 51 ZPO für die Zivilgerichtsbarkeit, § 71 für die Sozialgerichtsbarkeit und § 62 VwGO für die Verwaltungsgerichtsbarkeit).

Handlungsfähig sind nach § 11 Abs. 1 SGB X, § 12 VwVfG:

  1. natürliche Personen, die nach bürgerlichem Recht geschäftsfähig sind, also das 18. Lebensjahr vollendet haben (§ 2 BGB),
  2. natürliche Personen, die nach bürgerlichem Recht in der Geschäftsfähigkeit beschränkt sind, soweit sie für den Gegenstand des Verfahrens durch Vorschriften des bürgerlichen Rechts als geschäftsfähig oder durch Vorschriften des öffentlichen Rechts als handlungsfähig anerkannt sind,
  3. juristische Personen und Vereinigungen durch ihre gesetzlichen Vertreter oder durch besonders Beauftragte und
  4. Behörden durch ihre Leiter, deren Vertreter oder Beauftragte.

Eine geschäftsfähige, aber unter Betreuung stehende Person ist nur insoweit zur Vornahme von Verfahrenshandlungen fähig, als sie nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts ohne Einwilligung des Betreuers handeln kann oder durch Vorschriften des öffentlichen Rechts als handlungsfähig anerkannt ist, wenn ein Einwilligungsvorbehalt nach § 1903 des Bürgerlichen Gesetzbuches den Gegenstand des Verfahrens betrifft. Eine Betreuung ist möglich, wenn ein Volljähriger aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen kann (§ 1896 Abs. 1 BGB).

Zu den beschränkt Geschäftsfähigen gehören neben den unter Betreuung stehenden Personen Minderjährige, die das 7., aber noch nicht das 18. Lebensjahr vollendet haben (§ 106 BGB).

Ohne Mitwirkung des gesetzlichen Vertreters ist die Vornahme einer Rechtshandlung eines beschränkt Geschäftsfähigen wirksam, wenn er lediglich einen rechtlichen Vorteil erlangt (§ 107 BGB). Diese Regelung ist auch im Sozialrecht anzuwenden.

Zu beachten ist für Personen, die das 15. aber noch nicht das 18. Lebensjahr vollendet haben, insbesondere § 36 Abs. 1 SGB I. Danach können Minderjährige, die das 15. Lebensjahr vollendet haben, Anträge auf Sozialleistungen stellen und verfolgen sowie Sozialleistungen entgegennehmen. Allerdings kann diese partielle Handlungsfähigkeit vom gesetzlichen Vertreter durch schriftliche Erklärung gegenüber dem Leistungsträger eingeschränkt werden.

Nach § 19 Abs. 1 S. 2 SGB X haben Hörbehinderte das Recht, zur Verständigung im Verwaltungsverfahren Gebärdensprache zu verwenden. Aufwendungen für Dolmetscher sind von der Behörde oder dem für die Sozialleistung zuständigen Leistungsträger zu tragen. Dies gilt auch für die Aufwendungen, die die Verständigung mit einem taubblinden Beteiligten erfordert.

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3.3.3.2 Vertretung

Ein Beteiligter kann sich nach § 13 SGB X, § 14 VwVfG durch einen Bevollmächtigten vertreten lassen und zu Verhandlungen oder Besprechungen einen Beistand zuziehen. § 13 SGB X entspricht weitgehend § 14 VwVfG.

Im Verwaltungsverfahren besteht kein Vertretungszwang. Bevollmächtigte und Beistände können nur natürliche, nie juristische Personen sein. Sie müssen stets handlungsfähig (vgl. § 11 SGB X bzw. § 13 VwVfG und oben 3.3.3.1) und damit voll geschäftsfähig sein. Auch der Vollmachtgeber selbst muss handlungsfähig sein.

Die Vollmacht kann gegenüber der zu bevollmächtigenden Person, der Behörde oder anderen Verfahrensbeteiligten formlos oder stillschweigend erteilt werden. Eine schriftliche Vollmacht ist nicht Voraussetzung für deren Gültigkeit, sondern dient lediglich zu Beweiszwecken. Auf Verlangen muss der Bevollmächtigte seine Vollmacht allerdings schriftlich nachweisen (§ 13 Abs. 1 S. 3 SGB X bzw. § 14 Abs. 1 S. 3 VwVfG), etwa dann, wenn Zweifel an der Vollmacht bestehen.

Der Umfang der Vollmacht ist nach § 13 Abs. 1 S. 2 SGB X, bzw. § 14 Abs. 1 S. 2 VwVfG unbeschränkt, sofern sich aus ihrem Inhalt nicht etwas anderes ergibt. Die Vollmacht ermächtigt zu allen Verfahrenshandlungen, die das Verwaltungsverfahren betreffen. Der Bevollmächtigte kann Anträge stellen, Vergleiche schließen, Tatsachenbehauptungen und Rechtsansichten vortragen, Akten einsehen sowie der Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen beiwohnen. Auch zu privatrechtlichen Willenserklärungen (z.B. Vergleich, Verzicht, Anerkenntnis) dient die Vollmacht. Verfahrenshandlungen, die von Beteiligten nur höchstpersönlich vorgenommen werden können (z.B. eidesstattliche Versicherung oder persönliche Anhörung), werden von der Vollmacht nicht gedeckt. Insoweit bleibt der Beteiligte trotz erteilter Vollmacht weiterhin dazu verpflichtet, persönlich am Verfahren mitzuwirken. Auch ist die Befugnis der Beteiligten zu einem eigenen Sachvortrag durch die Vollmacht nicht eingeschränkt (vgl. Haufe Onlinekommentar Rz. 4 zu § 13 SGB X).

Die Vollmacht endet mit dem Tod bzw. dem Verlust der Handlungsfähigkeit des Bevollmächtigten. Sie erlischt hingegen nicht mit dem Tod bzw. dem Verlust der Handlungsfähigkeit des Vollmachtgebers. Für diesen Fall hat der Bevollmächtigte auf Verlangen der Behörde die Bevollmächtigung durch den Rechtsnachfolger des Beteiligten beizubringen (§ 13 Abs. 2 SGB X bzw. § 14 Abs. 2 VwVfG).

Dazu, wer als Bevollmächtigter in Frage kommt, vgl. die Abschn. 2, insbesondere 2.1.1 und dessen Unterabschnitte.

Wenn für das Verfahren ein Bevollmächtigter bestellt ist, muss sich die Behörde an ihn wenden. Wendet sich die Behörde unmittelbar an den Beteiligten selbst, ohne den Bevollmächtigten zu unterrichten, beginnen Fristen nicht zu laufen. Es obliegt dem pflichtgemäßen Ermessen der Behörde, inwieweit sie auch den Beteiligten einschalten will. Sie kann sich insbesondere an den Beteiligten selbst wenden, soweit dieser zur Mitwirkung verpflichtet ist. Wenn sich die Behörde an den Beteiligten wendet, muss der Bevollmächtigte verständigt werden (§ 13 Abs. 3 SGB X, § 14 Abs. 3 VwVfG).

Bei fehlender Vertretung hat das Vormundschaftsgericht in den Fällen der §§ 15 Abs. 1 SGB X, 16 Abs. 1 VwVfG auf Ersuchen der Behörde von Amts wegen einen geeigneten Vertreter zu bestellen. Vormundschaftsgericht ist nach § 35 FGG grundsätzlich das Amtsgericht. Nach § 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X bzw. § 16 Abs. 1 Nr. 4 VwVfG hat es einen Vertreter für einen Beteiligten, der infolge einer psychischen Krankheit oder körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung nicht in der Lage ist, in dem Verwaltungsverfahren selbst tätig zu werden, zu bestellen. Eine psychische Krankheit oder körperliche, geistige bzw. seelische Behinderung (z.B. Taubheit, Blindheit, Stummheit, Altersgebrechlichkeit, starke Schwerhörigkeit oder Sehschwäche) rechtfertigt die Bestellung eines Vertreters jedoch nur, wenn sie den Beteiligten außerstande setzt, selbst das Verwaltungsverfahren zu betreiben. Allein die Ungeeignetheit zum schriftlichen oder mündlichen Vortrag reicht dafür nicht aus. Die psychische Krankheit oder körperliche, geistige bzw. seelische Behinderung muss ursächlich dafür sein, dass der Beteiligte nicht imstande ist, im Verwaltungsverfahren selbst tätig zu werden (Haufe Onlinekommentar Rz. 6 zu § 15 SGB X). Die Behörde hat die Feststellungen hinsichtlich der Krankheit und Behinderung selbst zu treffen. Die Behörde sollte im Zweifelsfall ein ärztliches Zeugnis beiziehen. Wenn ein Betreuer i.S.d. §§ 1896 ff. BGB bestellt ist, dessen Aufgabenbereich das Verwaltungsverfahren mit umfasst, hat der Beteiligte einen Vertreter, so dass § 15 SGB X bzw. § 16 VwVfG nicht anwendbar ist. Für die Bestellung und für das Amt des Vertreters gelten in diesem Fall die Vorschriften des BGB über die Betreuung (§§ 1896 bis 1908k BGB), in den übrigen Fällen die Vorschriften über die Pflegschaft (§§ 1909 Bis 1921 BGB) entsprechend. Der amtlich bestellte Vertreter hat die Stellung eines gesetzlichen Vertreters inne.

Die Vertretung durch den von Amts wegen bestellten Vertreter ist vom Vormundschaftsgericht auf Antrag oder von Amts wegen aufzuheben, wenn der Grund für die Bestellung weggefallen ist. Dies ist auch dann der Fall, wenn der Beteiligte einen Bevollmächtigten nach § 13 SGB X bzw. § 14 VwVfG bestellt, weil die freiwillige Vertreterbestellung stets Vorrang hat.

Bevollmächtigte sind zurückzuweisen, wenn sie geschäftsmäßig fremde Rechtsangelegenheiten besorgen, ohne dazu befugt zu sein (§ 13 Abs. 5 SGB X, § 14 Abs. 5 VwVfG). Die Befugnis richtet sich nach dem Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG). Dazu vgl. oben Abschn. 2, insbesondere 2.1.1.3. Bevollmächtigte können gemäß § 13 Abs. 6 SGB X bzw. § 14 Abs. 6 VwVfG vom Vortrag zurückgewiesen werden, wenn sie hierzu ungeeignet sind. Für den Vortrag ungeeignet sind Bevollmächtigte, die nicht fähig sind, sich schriftlich so klar auszudrücken, dass erkennbar wird, was sie vortragen wollen. Bloße Ungewandtheit reicht nicht aus. Vom mündlichen Vortrag können sie nach diesen Bestimmungen nur zurückgewiesen werden, wenn sie zu einem sachgemäßen Vortrag nicht fähig sind, d.h. häufig von der Sache abschweifen oder Sachundienliches vorbringen. Hier ist allerdings eine mehrfache Abmahnung durch die Behörde notwendig (Haufe Onlinekommentar Rz. 11 zu § 13 SGB X). Nicht zurückgewiesen werden können Personen, die zur geschäftsmäßigen Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten befugt sind.

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3.3.3.3 Beistandschaft

Sachkundige Hilfe kann nicht nur durch Bevollmächtigte geleistet werden. Ein Beteiligter kann zu seiner Unterstützung einen Beistand zuziehen (§ 13 Abs. 4 SGB X, bzw. § 14 Abs. 4 VwVfG). Beistände sind Personen, die in mündlichen Verhandlungen, bei Erörterungsterminen oder in Besprechungen während eines Verwaltungsverfahrens nicht anstelle des Beteiligten, sondern neben ihm seine Rechte und Pflichten wahrnehmen (vgl. auch § 90 ZPO).

In gleicher Weise wie ein Bevollmächtigter muss der Beistand eine handlungsfähige natürliche Person sein. Eine schriftliche Ermächtigung braucht der Beistand nicht, da sich seine Legitimation durch den anwesenden Beteiligten ergibt. Verfahrensleitende Anträge für den Beteiligten können und dürfen Beistände nicht stellen. Sie dienen lediglich zur Unterstützung der Beteiligten und besitzen keine Vertretungsbefugnis. Bei Nichterscheinen des Beteiligten kann ein Beistand nicht das Wort ergreifen. Vgl. dazu Haufe Onlinekommentar Rz. 8 zu § 13 SGB X. Was der Beistand vorträgt, gilt als von dem Beteiligten vorgebracht, soweit dieser nicht unverzüglich widerspricht. Ein unverzüglicher Widerspruch ist als rechtzeitig anzusehen, wenn er vor Schluss der Verhandlung erfolgt ist, weil sich die Behörde von da ab auf die Erklärung einrichtet (Haufe Onlinekommentar Rz. 9 zu § 13 SGB X).

Beistände sind zurückzuweisen, wenn sie geschäftsmäßig fremde Rechtsangelegenheiten besorgen, ohne dazu befugt zu sein (§ 13 Abs. 5 SGB X, § 14 Abs. 5 VwVfG). Die Befugnis richtet sich nach dem Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG). Dazu vgl. oben Abschn. 2, insbesondere 2.1.1.3. Beistände können gemäß § 13 Abs. 6 SGB X bzw. § 14 Abs. 6 VwVfG vom Vortrag zurückgewiesen werden, wenn sie hierzu ungeeignet sind. Für den Vortrag ungeeignet sind Beistände, die nicht fähig sind, sich schriftlich so klar auszudrücken, dass erkennbar wird, was sie vortragen wollen. Bloße Ungewandtheit reicht nicht aus. Vom mündlichen Vortrag können sie nach diesen Bestimmungen nur zurückgewiesen werden, wenn sie zu einem sachgemäßen Vortrag nicht fähig sind, d.h. häufig von der Sache abschweifen oder Sachundienliches vorbringen. Hier ist allerdings eine mehrfache Abmahnung durch die Behörde notwendig (Haufe Onlinekommentar Rz. 11 zu § 13 SGB X). Nicht zurückgewiesen werden können Personen, die zur geschäftsmäßigen Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten befugt sind.

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3.3.4 Beginn des Verwaltungsverfahrens auf Antrag oder von Amts wegen

In § 18 SGB X, § 22 VwVfG ist geregelt, wann das Verwaltungsverfahren beginnt. Zu unterscheiden ist zwischen Verfahren, welche von Amts wegen eingeleitet werden und solchen, welche auf einem Antrag beruhen. Die Behörde entscheidet nach pflichtgemäßem Ermessen, ob und wann sie ein Verwaltungsverfahren durchführt, es sei denn sie ist auf Grund von Rechtsvorschriften oder auf Grund eines Antrags zur Durchführung eines Verwaltungsverfahrens verpflichtet. Die Behörde darf auch kein Verwaltungsverfahren einleiten, wenn sie nur auf Grund eines Antrags tätig werden darf und kein Antrag vorliegt.

In der Praxis steht die Einleitung eines Verwaltungsverfahrens auf Grund eines Antrags im Vordergrund. Als Antrag ist jede Erklärung anzusehen, durch die jemand gegenüber der zuständigen Stelle das Begehren zum Ausdruck bringt, Leistungen zu erhalten (BSG, Urteil v. 24.08.1955, 9 RV 352/55, SozR § 1 BVA, Bl, Aa 2 Nr. 8). Über gestellte Anträge muss die Behörde sachlich entscheiden, und zwar durch Erlass eines Verwaltungsaktes.

Beispiele für die Verfahrenseinleitung von Amts wegen finden sich vor allem in der gesetzlichen Unfallversicherung (SGB VII). So bestimmen die Unfallversicherungsträger nach § 26 Abs. 4 SGB VII im Einzelfall Art, Umfang und Durchführung der Heilbehandlung und der Leistungen zur Teilhabe sowie die Einrichtungen, die diese Leistungen erbringen, nach pflichtgemäßem Ermessen. Dabei prüfen sie auch, welche Leistungen geeignet und zumutbar sind, Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, zu überwinden, zu mindern oder ihre Verschlimmerung zu verhüten. Die in den §§ 27 ff SGB VII geregelten Leistungen werden in aller Regel ohne Antrag von Amts wegen gewährt. In der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung (SGB V bzw. SGB VI) sowie in der Arbeitslosenversicherung (SGB III) werden demgegenüber die Leistungen grundsätzlich auf Antrag festgestellt. So werden z. B. Hilfsmittel nach § 33 SGB V auf Antrag gewährt.

Nach § 16 Abs. 1 SGB I sind Anträge auf Sozialleistungen beim zuständigen Sozialleistungsträger zu stellen. Sie werden auch von allen anderen Leistungsträgern, von allen Gemeinden und bei Personen, die sich im Ausland aufhalten, auch von den amtlichen Vertretungen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland entgegengenommen. Anträge, die bei einem unzuständigen Leistungsträger, bei einer für die Sozialleistung nicht zuständigen Gemeinde oder bei einer amtlichen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland im Ausland gestellt werden, sind unverzüglich an den zuständigen Leistungsträger weiterzuleiten. Ist die Sozialleistung von einem Antrag abhängig, gilt der Antrag als zu dem Zeitpunkt gestellt, in dem er bei einer der in Satz 1 genannten Stellen eingegangen ist. Eine Pflicht zur Weiterleitung bei eigener Unzuständigkeit ergibt sich auch aus § 14 SGB IX. Dazu vgl. 3.3.8 „Zuständigkeitsklärung“.

Wenn bei einem Sozialleistungsträger ein Antrag gestellt worden ist, muss er unter allen rechtlichen Gesichtspunkten geprüft werden (vgl. BSG, Urteil v. 16.8.1973,

3 RK 94/72, BSGE 36 S. 120, 122). Daraus kann sich eine Belehrungs-, Aufklärungs- oder Beratungspflicht der Behörde ergeben (vgl. insoweit §§ 13 bis 15 SGB I).

Wenn sich der gestellte Antrag als zu eng erweist, ist der Antragsteller auf weitergehende Ansprüche hinzuweisen. Nach § 16 Abs. 3 SGB I sind die Leistungsträger verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass unverzüglich klare und sachdienliche Anträge gestellt und unvollständige Angaben ergänzt werden.

Für die angegangene Behörde muss bei verständiger Würdigung erkennbar sein, dass und aus welchem Sozialleistungsbereich der Antragsteller Sozialleistungen begehrt (vgl. BSG, Urteil v. 15.4.1958, 4 RJ 89/58, BSGE 7 S. 118).

Wenn eine fehlerhafte Beratung durch die Behörde erfolgt ist, haftet der Sozialleistungsträger nach den Grundsätzen über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch, ggf. auch nach den Regelungen über die Amtshaftung (BSG, Urteil v. 28.2.1984, 12 RK 31/83, ZfSH/SGB 1985 S. 220).

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3.3.5 Ermittlung des Sachverhalts, Beweiserhebung

Im Gegensatz zum gerichtlichen Verfahren ist das Verwaltungsverfahren vom Grundsatz der Nichtförmlichkeit bestimmt (§ 9 SGB X, § 10 VwVfG - vgl. dazu oben 3.3.1). Die für das Verwaltungsverfahren bestehenden Grundsätze müssen aber beachtet werden. Die Behörde hat gemäß § 20 Abs. 1 SGB X bzw. § 24 Abs. 1 VwVfG nach der Einleitung des Verwaltungsverfahrens von Amts wegen alle Ermittlungen anzustellen, die zur Feststellung des erhobenen Leistungsbegehrens erforderlich sind. Das gilt unabhängig davon, ob das Verwaltungsverfahren von Amts wegen oder auf Antrag eingeleitet worden ist. Art und Umfang der Ermittlungen richten sich ausschließlich nach dem Verfahrensgegenstand. Bei der Bestimmung von Art und Umfang ihrer Ermittlungen ist die Behörde frei. Dies ergibt sich aus dem Grundsatz der Amtsermittlung. Die Behörde kann sich jeder für erforderlich gehaltenen Erkenntnisquelle bedienen, ohne dabei an eine bestimmte Reihenfolge gebunden zu sein. In Betracht kommen dabei Zeugen, Sachverständige, Augenschein, Urkunden oder behördliche Auskünfte (§ 21 Abs. 1 SGB X, § 26 Abs. 1 VwVfG). Sie hat im Rahmen der Untersuchungspflicht den wesentlichen entscheidungserheblichen Sachverhalt nach pflichtgemäßem Ermessen zu erforschen und überflüssige Ermittlungen zu unterlassen; die Sachaufklärung muss erschöpfend sein und alle sich anschließenden Möglichkeiten einschließen. Sowohl die Klärung von Tatsachen als auch von rechtlichen Vorfragen kann für die Entscheidung erheblich sein. Ermittlungen können dabei nicht nur für die materiell-rechtliche Entscheidung, sondern auch für Verfahrensentscheidungen notwendig werden. Die Behörde hat alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch die für die Beteiligten günstigen Umstände zu berücksichtigen (§ 20 Abs. 2 SGB X, § 24 Abs. 2 VwVfG), d.h. in die rechtliche Wertung mit einzubeziehen. Günstig sind alle Umstände, die hilfreich für die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung sein können. Die Behörde darf von Ermittlungen nur absehen, wenn es auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt, wenn sie als wahr unterstellt werden kann oder unerreichbar ist. Keiner Ermittlung bedürfen bereits allgemein bekannte und behördenkundige Tatsachen (BSG, Urteil v. 17.12.1971, 1 RA 245/70, BSGE 33 S. 278) sowie gesetzlich unwiderleglich vermutete Tatsachen (Haufe Onlinekommentar Rz. 7 zu § 20 SGB X).

Auf Verlangen des Versicherungsträgers hat das zuständige Versicherungsamt den Sachverhalt aufzuklären, Beweismittel beizufügen und sich ggf. zu den entscheidungserheblichen Tatsachen zu äußern (§ 93 Abs. 2 S. 2 SGB IV).

Von der Richtigkeit und Vollständigkeit des ermittelten und entscheidungserheblichen Sachverhalts muss die Behörde überzeugt sein. Sie braucht dabei aber nicht weit entfernt liegenden Möglichkeiten nachzugehen. Die Sachaufklärung findet ihre Grenzen dort, wo weitere Bemühungen der Behörde im Verhältnis zum Erfolg nicht mehr vertretbar und zumutbar wären.

Grenzen der Amtsermittlung ergeben sich auch im Rahmen der besonderen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 64 SGB I. Diese beziehen sich auf Personen, die Sozialleistungen beantragen oder erhalten und betreffen die Angabe von Tatsachen, das persönliche Erscheinen und die Teilnahme an Untersuchungen, Heilbehandlungen und berufsfördernden Maßnahmen.

Werden solche Mitwirkungspflichten trotz Zumutbarkeit und Verhältnismäßigkeit nicht eingehalten, kann der Leistungsträger, wenn die Aufklärung des Sachverhalts hierdurch erheblich erschwert wird, von weiteren Ermittlungen absehen und die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen (§§ 65, 66 SGB I).

Den Parteien bleibt es trotz des Amtsermittlungsgrundsatzes jedoch überlassen, in ihrem Interesse Beweismittel, wie z. B. Urkunden, die den Anspruch begründen, vorzulegen. Nach § 21 Abs. 2 SGB X bzw. § 26 Abs. 2 VwVfG sollen die Beteiligten bei der Ermittlung des Sachverhalts mitwirken. Sie sollen insbesondere ihnen bekannte Tatsachen und Beweismittel angeben.

Die Behörde darf die Entgegennahme von Erklärungen oder Anträgen, die in ihren Zuständigkeitsbereich fallen, nicht deshalb verweigern, weil sie die Erklärung oder den Antrag in der Sache für unzulässig oder unbegründet hält (§ 20 Abs. 3 SGB X, § 24 Abs. 3 VwVfG).

Im Sozialhilferecht darf sich die Behörde nicht auf die Prüfung der Voraussetzungen einer konkret beantragten Hilfeart beschränken; denn die Sozialhilfe ist von Amts wegen zu leisten, sobald dem Sozialhilfeträger die den Anspruch begründenden Tatsachen bekannt werden (§ 18 SGB XII). Liegt die Gewährung einer anderen Hilfeart den Umständen nach nahe, so ist die Behörde verpflichtet, alle in Betracht kommenden Hilfemöglichkeiten zu prüfen und den Fall insgesamt zu regeln (BVerwG, Urteil v. 10.11.1965, C 104.64, DVBl. 1966 S. 386). Gleiches gilt auch für das Sozialversicherungsrecht (vgl. BSG, Urteil v. 16.8.1973, 3 RK 934/72, BSGE 36 S. 120, 122).

In den §§ 21 bis 23 SGB X, 26 und 27 VwVfG wird das Beweisverfahren näher geregelt.

Die Aufzählung der Beweismittel in § 21 Abs. 1 SGB X bzw. 26 Abs. 1 VwVfG ist nicht abschließend. Von der Behörde kann daneben jedes andere Beweismittel herangezogen werden (z.B. eine Untersuchung nach § 62 SGB I), soweit es rechtsstaatlichen Prinzipien genügt. Beweismittel, deren Inanspruchnahme gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, sind unzulässig, etwa der Einsatz eines Lügendetektors oder heimliche Tonbandaufnahmen. Gleiches gilt bei Verstößen gegen den Datenschutz. Die dadurch erlangten Informationen dürfen regelmäßig nicht verwertet werden. Die Auswahl unter den in Betracht kommenden Beweismitteln richtet sich nach den Gesichtspunkten der Erforderlichkeit, Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit; aber auch die Grundsätze der Sparsamkeit und zügigen Durchführung eines Verwaltungsverfahrens sollen bei der Beweiserhebung berücksichtigt werden. Von mehreren geeigneten Beweismitteln kann sich die Behörde für dasjenige entscheiden, das für die Beteiligten, aber auch für sie selbst mit den geringsten Belastungen und mit dem geringsten finanziellen Aufwand verbunden ist (Haufe Onlinekommentar Rz. 3 zu § 21 SGB X).

Im Vergleich mit den Gerichten sind einer Behörde bei der Aufklärung des Sachverhalts gewisse Grenzen gezogen. So dürfen Behörden keinen Eid abnehmen und nur in Ausnahmefällen eine Versicherung an Eides Statt verlangen (vgl. insoweit § 23 SGB X, § 27 VwVfG).

Nur im Fall einer besonderen Rechtsvorschrift besteht gegenüber Behörden eine Pflicht der Beteiligten zum persönlichen Erscheinen oder zur Aussage (§ 21 Abs. 2 S. 3 SGB X bzw. § 26 Abs. 2 S. 3 VwVfG) bzw. eine Pflicht für Zeugen und Sachverständige zur Aussage oder zur Erstattung von Gutachten (§ 21 Abs. 3 S. 1 SGB X).

Zeugen und Sachverständige sind zur Aussage bzw. Erstattung von Gutachten in den Fällen verpflichtet, in denen die Voraussetzungen des § 407 ZPO gegeben sind (z.B. öffentliche Bestellung) und ihre Aussagen bzw. ihr Gutachten zur Entscheidung über die Entstehung einer Sozialleistung sowie deren Höhe unabweisbar sind. Unabweisbarkeit ist dann gegeben, wenn andere Aufklärungsmöglichkeiten den Beweis der erforderlichen Tatsachen nicht erbringen können.

Die Vorschriften der Zivilprozessordnung über das Recht, ein Zeugnis oder ein Gutachten zu verweigern, über die Ablehnung von Sachverständigen sowie über die Vernehmung von Angehörigen des öffentlichen Dienstes als Zeugen oder Sachverständige (§§ 376, 383 bis 385, 408 ZPO) gelten entsprechend (§ 21 Abs. 3 S. 3 SGB X). Wenn Zeugen oder Sachverständige in diesen Fällen ohne Vorliegen eines der in den §§ 376, 383 bis 385 und 408 der ZPO bezeichneten Gründe die Aussage oder die Erstattung des Gutachtens verweigern, kann die Behörde je nach dem gegebenen Rechtsweg das für den Wohnsitz oder den Aufenthaltsort des Zeugen oder des Sachverständigen zuständige Sozial- oder Verwaltungsgericht um die Vernehmung ersuchen. Wenn sich der Wohnsitz oder der Aufenthaltsort des Zeugen oder des Sachverständigen nicht am Sitz eines Sozial- oder Verwaltungsgerichts oder einer Zweigstelle eines Sozialgerichts oder einer besonders errichteten Kammer eines Verwaltungsgerichts befindet, kann auch das zuständige Amtsgericht um die Vernehmung ersucht werden (§ 22 Abs. 1 SGB X). Die Behörde kann wegen der Bedeutung der Aussage oder zur Herbeiführung einer wahrheitsgemäßen Aussage um die Vereidigung durch das Gericht ersuchen.

Zulässigkeit und Form der Glaubhaftmachung durch eine eidesstattliche Versicherung sind in § 23 SGB X, § 27 VwVfG geregelt. Wenn eine Rechtsvorschrift vorsieht, dass für die Feststellung der erheblichen Tatsachen deren Glaubhaftmachung genügt, kann auch die Versicherung an Eides statt zugelassen werden. Eine Tatsache ist dann als glaubhaft anzusehen, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist.

Nach § 23 Abs. 2 SGB X, § 27 Abs. 1 VwVfG darf die Behörde bei der Ermittlung des Sachverhalts eine Versicherung an Eides statt nur verlangen und abnehmen, wenn die Abnahme der Versicherung über den betreffenden Gegenstand und in dem betreffenden Verfahren durch Gesetz oder Rechtsverordnung vorgesehen und die Behörde durch Rechtsvorschrift für zuständig erklärt worden ist. Beispiele sind die §§ 49 Satz 2, § 286a Abs. 1 Satz 3, § 286b Abs. 1 Satz 3 SGB VI bzw. § 63 Abs. 4 Satz 2 SGB VII) Eine Versicherung an Eides statt soll nur gefordert werden, wenn andere Mittel zur Erforschung der Wahrheit nicht vorhanden sind, zu keinem Ergebnis geführt haben oder einen unverhältnismäßigen Aufwand erfordern. Von eidesunfähigen Personen im Sinne des § 393 der Zivilprozessordnung darf eine eidesstattliche Versicherung nicht verlangt werden. Das sind Personen, die zur Zeit der Vernehmung das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet oder wegen mangelnder Verstandesreife oder wegen Verstandesschwäche von dem Wesen und der Bedeutung des Eides keine genügende Vorstellung haben.

Die Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung kann nicht erzwungen werden. Die Weigerung kann aber bei der Beweiswürdigung berücksichtigt werden.

Die Finanzbehörden haben, was für das Sozialrecht von besonderer Bedeutung ist, nach § 21 Abs. 4 SGB X, soweit es im Verwaltungsverfahren erforderlich ist, Auskunft über die ihnen bekannten Einkommens- oder Vermögensverhältnisse des Antragstellers, Leistungsempfängers, Erstattungspflichtigen, Unterhaltsverpflichteten, Unterhaltsberechtigten oder der zum Haushalt rechnenden Familienmitglieder zu erteilen.

Nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast sind die Folgen der objektiven Beweislosigkeit oder einer nicht festgestellten Tatsache von demjenigen Beteiligten zu tragen, der aus dieser Tatsache ein Recht herleiten will. Welcher Beteiligte das ist, ergibt sich aus der für den Rechtsstreit erheblichen Norm des materiellen Rechts (BSG in ständ. Rspr., zuletzt in BSGE 30 S. 121). Kann z. B. bei einem Antrag auf Blindengeld nach einem Landesblindengeldgesetz die Blindheit nicht nachgewiesen werden, so geht das zu Lasten des Antragstellers, selbst wenn Blindheit vorliegen sollte. Im Rahmen der freien Beweiswürdigung kann auch der Umstand Berücksichtigung finden, dass der Beteiligte schuldhaft die Aufklärung des Sachverhalts erschwert hat. Beispielsweise wird sich die versuchte Täuschung über medizinische Gegebenheiten, etwa der Versuch, ein schlechteres Sehvermögen als das tatsächlich vorhandene, vorzutäuschen (sogenannte Aggravation) auf die Beweiswürdigung negativ auswirken.

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3.3.6 Recht auf Anhörung und Akteneinsicht

Die Rechte auf Anhörung (§ 24 SGB X, § 28 VwVfG) und Akteneinsicht (§ 25 SGB X, § 29 VwVfG) dienen der Wahrnehmung der Rechte der Verfahrensbeteiligten.

Nach § 24 Abs. 1 SGB X, § 28 Abs. 1 VwVfG ist bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern.

Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs gehört zu den tragenden Prinzipien eines rechtsstaatlichen Verwaltungsverfahrens, der es gebietet, den Einzelnen vor einer Entscheidung zu Wort kommen zu lassen, damit er Einfluss auf das Verwaltungsverfahren und sein Ergebnis nehmen kann.

Der Anhörungspflicht nach § 24 Abs. 1 SGB X unterliegen vor allem Bescheide, die Sozialleistungen entziehen, umwandeln oder herabsetzen, insbesondere Geldleistungen einstellen oder mindern sowie erbrachte Leistungen zurückfordern. Die Anhörung ist vor allem dort von Bedeutung, wo ein Sozialleistungsträger von sich aus tätig wird und einen belastenden Verwaltungsakt erlassen will. Die Behörde muss das in der Anhörung vom Beteiligten Vorgetragene berücksichtigen. Sie muss sich vor allem in der Begründung ihres Verwaltungsakts damit auseinandersetzen, wenn sie anderer Auffassung als der Beteiligte ist.

Einer Verwaltungsentscheidung dürfen nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden, zu denen die Beteiligten Stellung nehmen konnten.

Es genügt nicht, dass der Beteiligte überhaupt Gelegenheit hatte, sich zur Sache zu äußern. Die Anhörung muss zeitlich so bestimmt sein, dass sich der Beteiligte zu dem gesamten Sachverhalt äußern kann. Die Frist muss so bemessen sein, dass der Beteiligte Auskünfte einholen und Beweismittel sammeln kann. Ihm muss deshalb genügend Zeit verbleiben, sich mit der Angelegenheit vertraut zu machen und vorbereitende Überlegungen anzustellen (BSG, Urteil v. 24.7.1980, 5 RKnU 1/79, SozR 1200 § 34 Nr. 12). Eine dem Versicherten vom Leistungsträger eingeräumte Äußerungsfrist von einer Woche ist grundsätzlich als nicht ausreichend anzusehen (BSG, Urteil v. 14.11.1984, 1 RA 3/84, DRV 1985 S. 241). Die Frist zur Anhörung sollte mindestens 2 Wochen betragen (BSG, Urteil v. 6.8.1992, 8/5a RKnU 1/87, BSGE 71 S. 104). Berücksichtigt man die Postlaufzeiten und sonstigen Erschwernisse bei der Vorbereitung einer Äußerung zu entscheidungserheblichen Tatsachen, so ist bei einem Aufenthalt des Beteiligten im Ausland eine Mindestanhörungszeit von einem Monat zu fordern. Wenn dem Beteiligten keine angemessene Frist zur Äußerung gegeben wird, ist das Gebot der Anhörung verletzt. Die Behörde muss dem Beteiligten eine weitere Gelegenheit zur Anhörung geben, wenn er ohne sein Verschulden die ihm gebotene Gelegenheit zur Äußerung versäumt. Die Bemessung der Anhörungsfrist steht nicht im Ermessen des Sozialleistungsträgers. Deshalb ist eine volle Nachprüfung durch die Gerichte möglich (BSG, Urteil v. 24.7.1980, 5 RKnU 1/79, SozR 1200 § 34 Nr. 12). Auch eine mündliche Anhörung ist möglich, etwa aus Anlass einer Vorsprache des Beteiligten beim Sozialleistungsträger. Eine fernmündliche Anhörung ist rechtlich zulässig, wenn eine angemessene Frist zwischen der Bekanntgabe der entscheidungserheblichen Tatsache und dem Bescheid eingeräumt wurde (BSG, Urteil v. 31.3.1982, 4 RJ 21/81, USK 8250). Aus Gründen der Beweissicherung empfiehlt es sich, eine Niederschrift über das Telefonat zu fertigen, die von den Beteiligten unterzeichnet werden sollte. Vgl. Haufe Onlinekommentar Rz. 5 zu § 24 SGB X.

Von der Anhörung kann nach § 24 Abs. 2 SGB X abgesehen werden, wenn

  1. eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug oder im öffentlichen Interesse notwendig erscheint,
  2. durch die Anhörung die Einhaltung einer für die Entscheidung maßgeblichen Frist in Frage gestellt würde,
  3. von den tatsächlichen Angaben eines Beteiligten, die dieser in einem Antrag oder einer Erklärung gemacht hat, nicht zu seinen Ungunsten abgewichen werden soll,
  4. Allgemeinverfügungen oder gleichartige Verwaltungsakte in größerer Zahl erlassen werden sollen,
  5. einkommensabhängige Leistungen den geänderten Verhältnissen angepasst werden sollen, was z. B. bei einkommensabhängigen Blindengeld- und Blindenhilfeleistungen der Fall ist,
  6. Maßnahmen in der Verwaltungsvollstreckung getroffen werden sollen oder
  7. gegen Ansprüche oder mit Ansprüchen von weniger als 70,00 Euro aufgerechnet oder verrechnet werden soll.

Ein Beispiel für Nr. 4 sind Bescheide über die Anpassung des Blindengeldes nach einem Landesblindengeldgesetz, und zwar gerade auch dann, wenn auf Grund einer Gesetzesänderung eine Kürzung vorgenommen wird.

Abgesehen von den Nrn. 5 und 7 entspricht § 28 Abs. 2 VwVfG § 24 Abs. 2 SGB X. Der Ausnahmekatalog in § 24 Abs. 2 SGB X enthält eine abschließende Aufzählung, die keine weiteren Ausnahmen erlaubt (BSG, Urteil v. 9.3.1978, 2 RU 99/77, SozR 1200 § 34 Nr. 3).

Für die Anhörung ist zu beachten, dass nach § 19 Abs. 1 S. 2 SGB X Hörbehinderte das Recht haben, zur Verständigung im Verwaltungsverfahren Gebärdensprache zu verwenden. Aufwendungen für Dolmetscher sind von der Behörde oder dem für die Sozialleistung zuständigen Leistungsträger zu tragen. Dies gilt auch für die Aufwendungen, die die Verständigung mit einem Taubblinden erfordert.

Ein trotz unterlassener Anhörung ergangener Verwaltungsakt ist nicht nichtig, aber fehlerhaft und damit anfechtbar. Der Mangel kann durch Nachholung der Anhörung bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens (das ist die Zustellung des Widerspruchsbescheides) oder wenn ein Vorverfahren nicht stattfindet, bis zur Erhebung der Klage, geheilt werden (§ 41 Abs. 1 Nr. 3 in Verbindung mit Abs. 2 SGB X). Eine Leistungsentziehung ist erst für Zeiten nach der Anhörung möglich. Die nachgeholte Anhörung wirkt nicht zurück (Haufe Onlinekommentar Rz. 14 zu § 24 SGB X).

Das Gericht hat den wegen unterlassener Anhörung bzw. mangelhafter Anhörung gemäß § 24 Abs. 1 anfechtbaren Verwaltungsakt des Sozialleistungsträgers – falls der Mangel nicht geheilt ist - aufzuheben; denn der Verstoß bewirkt einen sachlich-rechtlichen Fehler.

Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird durch den Anspruch auf Akteneinsicht ergänzt. Er wird in den §§ 25 SGB X und 29 VwVfG geregelt, wobei § 25 SGB X nur in den Abs. 1, 2 und 4 mit § 29 VwVfG übereinstimmt. Die Vorschriften bestimmen sowohl die Voraussetzungen wie auch die Grenzen der Akteneinsicht. Grenzen ergeben sich grundsätzlich nur aus ihrer Beschränkung auf Verfahrensbeteiligte, aus ihrer Beschränkung auf Angaben, deren Kenntnis zur Geltendmachung oder Verteidigung der rechtlichen Interessen eines Beteiligten notwendig ist, und aus dem Sozialgeheimnis (vgl. § 35 SGB I). Der Anspruch auf Akteneinsicht kann nur unter den Voraussetzungen des § 25 Abs. 2 SGB X modifiziert bzw. nach § 25 Abs. 3 SGB X verweigert werden.

Nach § 25 Abs. 1 S. 1 SGB X, § 29 Abs. 1 S. 1 VwVfG hat die Behörde den Beteiligten Einsicht in die das Verfahren betreffenden Akten zu gestatten, soweit deren Kenntnis zur Geltendmachung oder Verteidigung ihrer rechtlichen Interessen erforderlich ist. Der Begriff „Akten" ist in einem umfassenden Sinn zu verstehen. Er umfasst die Gesamtheit der Schriftstücke, die die Behörde im Original, als Abschrift oder in Ablichtung für das konkrete Verfahren angefertigt oder beigezogen hat, daneben Berichte, Zeichnungen, Pläne, EDV-Produkte, Tonbänder, Filme, Fotos, Gutachten, Zeugnisse u.ä., wenn sie sich auf ein bestimmtes Verwaltungsverfahren beziehen. Der Akteneinsicht unterliegen auch die von der Behörde im Wege der Amtshilfe beigezogenen Akten anderer Behörden, der Gerichte und sonstiger anderer Stellen. Das Recht des Bürgers beschränkt sich nicht auf die Einsicht in „seine" Akte, wenn für die Entscheidung relevante Unterlagen in anderen Akten abgelegt sind. Der Anspruch auf Akteneinsicht erstreckt sich jedoch nicht auf Entwürfe oder Arbeiten, die der Vorbereitung der Entscheidung dienen (§ 25 Abs. 1 S. 2 SGB X, § 29 Abs. 1 S. 2 VwVfG).

Das Recht auf Akteneinsicht steht auch Bevollmächtigten (§ 13 SGB X, § 14 VwVfG), nicht hingegen Beiständen im Hinblick auf ihre durch § 13 Abs. 4 SGB X bzw. 14 Abs. 4 VwVfG begrenzten Befugnisse zu.

Unter bestimmten Voraussetzungen und abweichend von § 29 VwVfG kann die Behörde die Einsichtnahme in die Akten verweigern, wenn Angaben und Vorgänge der in § 25 Abs. 2 und 3 SGB X genannten Art Gegenstand der Akten sind. Die Akteneinsicht kann aber von der Behörde nicht vollständig verweigert werden. Das Recht auf Akteneinsicht ist vielmehr durch diese Bestimmungen modifiziert. Gegebenenfalls sind die von der Einsichtnahme ausgeschlossenen Aktenteile zuvor aus der Akte zu entfernen. Die Entscheidung darüber, ob und welche Aktenteile von der Einsichtnahme ausgenommen werden, obliegt dem pflichtgemäßen Ermessen der Behörde. Sie hat dabei zu berücksichtigen, dass sie ihre Entscheidung nicht auf Beweiserhebungen und Unterlagen stützen darf, die für den Berechtigten ungünstig sind und deren Bekanntgabe sie ihm verweigert hat.

Soweit die Akten Angaben über gesundheitliche Verhältnisse eines Beteiligten enthalten, kann die Behörde an Stelle der Akteneinsicht den Inhalt der Akten dem Beteiligten durch einen Arzt vermitteln lassen. Sie soll den Inhalt der Akten durch einen Arzt vermitteln lassen, soweit zu befürchten ist, dass die Akteneinsicht dem Beteiligten einen unverhältnismäßigen Nachteil, insbesondere an der Gesundheit, zufügen würde. Soweit die Akten Angaben enthalten, die die Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit des Beteiligten beeinträchtigen können, gilt das mit der Maßgabe entsprechend, dass der Inhalt der Akten auch durch einen Bediensteten der Behörde vermittelt werden kann, der durch Vorbildung sowie Lebens- und Berufserfahrung dazu geeignet und befähigt ist. Eine entsprechende Bestimmung fehlt im VwVfG.

Eine Einschränkung des Rechts auf Akteneinsicht enthält § 25 Abs. 3 SGB X: Danach ist die Behörde zur Gestattung der Akteneinsicht nicht verpflichtet, soweit die Vorgänge wegen der berechtigten Interessen der Beteiligten oder dritter Personen geheim gehalten werden müssen. Die Regelung greift nur ein, wenn die Akten Angaben über andere Beteiligte oder bzw. und über dritte, nicht am Verfahren beteiligte Personen enthalten. Die Beschränkung dient privaten Interessen und damit gleichzeitig dem Gemeinwohl. Als berechtigte Interessen rechtlicher, wirtschaftlicher und ideeller Art kommen die Intimsphäre, das allgemeine Persönlichkeitsrecht, Gesundheits- oder Rechtsangelegenheiten Dritter, Betriebsgeheimnisse u.ä. in Betracht. Davon betroffen sind nicht die Interessen des Antragstellers; denn diesem gegenüber kann die Behörde hinsichtlich seiner persönlichen Verhältnisse keine Geheimnisse haben. Beteiligter i.S.v. Abs. 3 ist der in § 12 SGB X genannte Personenkreis. Wenn die Voraussetzungen für die Akteneinsicht nach § 25 Abs. 1 SGB X vorliegen, hat die Behörde bei der Gewährung von Akteneinsicht hinsichtlich der Geheimhaltung jeweils zu prüfen, ob in der Verfahrensakte personenbezogene Daten anderer Beteiligter oder dritter Personen, Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse anderer Beteiligter oder Dritter oder sonstige geheimhaltungsbedürftige Angaben enthalten sind. Wenn keine Einwilligung bzw. Zustimmung des Betroffenen vorliegt, darf Akteneinsicht in diese Akten nicht gewährt werden (Haufe Onlinekommentar Rz. 9 zu § 25 SGB X).

Anders als nach dem VwVfG besteht in einem Verwaltungsverfahren nach dem SGB für die Beteiligten ein Anspruch darauf, sich Auszüge oder Abschriften selbst zu fertigen oder ablichten und durch die Behörde erteilen zu lassen (§ 25 Abs. 5 S. 1 SGB X). Abschriften, Auszüge oder Ablichtungen werden dem Berechtigten nur auf Antrag, der bei der aktenführenden Behörde zu stellen ist, erteilt. Die Behörde kann Ersatz ihrer Aufwendungen in angemessenem Umfang verlangen (§ 25 Abs. 5 S. 2 SGB X). In keinem Fall darf der geforderte Aufwendungsersatz die tatsächlichen Unkosten übersteigen.

Im VwVfG sind die Beschränkungen der Akteneinsicht in § 29 Abs. 2 abweichend geregelt. Die Beschränkungen gehen hier weiter: Die Behörde ist danach zur Gestattung der Akteneinsicht nicht verpflichtet, soweit durch sie die ordnungsgemäße Erfüllung der Aufgaben der Behörde beeinträchtigt, das Bekanntwerden des Inhalts der Akten dem Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile bereiten würde oder soweit die Vorgänge nach einem Gesetz oder ihrem Wesen nach, namentlich wegen der berechtigten Interessen der Beteiligten oder dritter Personen, geheim gehalten werden müssen.

Nach § 25. Abs. 4 SGB X, § 29 Abs. 3 VwVfG erfolgt die Akteneinsicht bei der Behörde, die die Akten führt. Im Einzelfall kann die Einsicht auch bei einer anderen Behörde oder bei einer diplomatischen oder berufskonsularischen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland im Ausland erfolgen; weitere Ausnahmen kann die Behörde, die die Akten führt, gestatten.

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3.3.7 Fristen und Termine, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Rückwirkung eines Antrages

Fristen, Termine sowie Möglichkeiten bei Fristversäumung sind Gegenstand dieses Abschnitts.

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3.3.7.1 Fristen und Termine

Im Verwaltungsverfahren spielen Fristen und Termine eine nicht unerhebliche Rolle. Rechtsgrundlagen sind die §§ 26 SGB X und 31 VwVfG. Diese Vorschriften stimmen überein. Sie regeln im Interesse einer möglichst einheitlichen Handhabung die Berechnung von Fristen und die Bestimmung von Terminen. Weitere vergleichbare Vorschriften finden sich in § 57 VwGO, §§ 64, 65 SGG, § 54 FGO und §§ 221 ff. ZPO.

Für die Berechnung von Fristen und für die Bestimmung von Terminen gelten nach § 26 Abs. 1 SGB X, § 31 Abs. 1 VwVfG grundsätzlich die §§ 187 bis 193 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Durch die Abs. 2 bis 7 werden diese Vorschriften geringfügig modifiziert bzw. ergänzt, soweit es für die besonderen Belange des Verwaltungsverfahrens erforderlich ist.

Auch im sich an das Verwaltungsverfahren anschließenden Vorverfahren (vgl. §§ 68 ff. VwGO, §§ 78 ff. SGG) sind § 26 SGB X bzw. § 31 VwVfG anzuwenden.

Die Begriffe „Frist und Termin" sind in den §§ 26 SGB X und 31 VwVfG nicht bestimmt. Die Vorschriften unterscheiden auch nicht zwischen den einzelnen Arten von Fristen. Es sind daher die für die §§ 187 ff. BGB gebräuchlichen Definitionen heranzuziehen, die nicht nur für das Privatrecht, sondern auch für das öffentliche Recht gelten. Das Sozialrecht kennt Leistungs-, Melde-, Ausschluss-, Verjährungs-, Warte- und Antragsfristen. Auch dann, wenn ein Zeitraum ohne festen Anfangstermin nur durch einen Endzeitpunkt bestimmt wird, liegt eine Frist vor.

Zu unterscheiden ist zwischen gesetzlichen Fristen, nämlich solchen, die in Rechtsvorschriften geregelt sind, und behördlichen Fristen. Letztere werden hinsichtlich Dauer, Beginn und Ende von einer Behörde im Rahmen ihrer Verfahrensherrschaft festgesetzt, ohne dass sie gesetzlich bestimmt sind. Eine Frist kann z. B. gesetzt werden, wenn die Vornahme einer Handlung innerhalb einer angemessenen Frist verlangt werden kann. Anwendungsfälle für behördliche Fristen finden sich bei der Mitwirkung des Versicherten (§§ 60 ff. SGB I), bei der Bestellung eines Empfangsbevollmächtigten (§ 14 SGB X), beim Verlangen nach Übersetzungen (§ 19 Abs. 2 und 4 SGB X), bei der Ermittlung des Sachverhalts (§ 21 Abs. 2 SGB X) sowie bei der Akteneinsicht (§ 25 SGB X). Die Festsetzung der Frist steht grundsätzlich im Ermessen der Behörde.

Termine sind feste Zeitpunkte, die im Voraus gesetzt werden, an denen etwas geschehen oder nicht geschehen soll oder eine Rechtswirkung eintritt.

Für den Beginn von Fristen bestimmt § 187 BGB, dass bei der Berechnung der Frist der Tag nicht mitgerechnet wird, in den das Ereignis oder der Zeitpunkt fällt, der für den Anfang der Frist maßgebend ist. Wenn der Beginn eines Tages der für den Fristbeginn maßgebende Zeitpunkt ist, zählt dieser Tag jedoch mit, beispielsweise bei der Berechnung des Lebensalters (§ 187 Abs. 2 S. 2 BGB). Bei nach Stunden bemessenen Fristen ist entsprechend § 187 BGB nur nach vollen Stunden zu rechnen. Für den Beginn von Fristen, die von einer Behörde gesetzt sind, wird § 187 Abs. 1 BGB durch § 26 Abs. 2 SGB X bzw. § 31 Abs. 2 VwVfG näher konkretisiert. Danach gilt: Der Lauf einer solchen Frist beginnt mit dem auf die Bekanntgabe der Frist folgenden Tag, falls dem Betroffenen von der Behörde nichts anderes mitgeteilt wird. Der Beginn kann also auch anders, aber nicht zu einem früheren Zeitpunkt, festgelegt werden. Ansonsten wird auf die Bekanntgabe der Frist durch die Behörde abgestellt. Die Frist beginnt in diesem Fall also um 0 Uhr des nächsten Tages. Die Vorschrift ist nachrangig gegenüber speziellen Rechtsvorschriften, die den Fristbeginn abweichend regeln (z.B. § 66 Abs. 1 SGG für den Beginn der Rechtsbehelfsfrist).

Wann eine Verfügung der Verwaltungsbehörde als bekannt gegeben gilt, bemisst sich nach § 37 Abs. 2 SGB X bzw. § 41 Abs. 2 VwVfG oder speziellen gesetzlichen Regelungen. Nach § 37 Abs. 2 SGB X bzw. § 41 Abs. 2 VwVfG gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt bei der Übermittlung durch die Post im Inland am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post, ein Verwaltungsakt, der elektronisch übermittelt wird, am dritten Tage nach der Absendung als bekannt gegeben. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen. Ferner sind die Verwaltungszustellungsgesetze des Bundes (VwZG) und der Länder zu beachten; sie regeln den Zeitpunkt der Zustellung und damit auch der Bekanntgabe. So ist nach § 4 Abs. 1 VwZG bei der Zustellung mittels eingeschriebenen Briefes die Zustellung und damit auch die Bekanntgabe erst mit dem dritten Tag nach der Aufgabe zur Post bewirkt, soweit das Schriftstück nicht zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Erst wenn dieser Zeitpunkt der Zustellung und Bekanntgabe bestimmt ist, kann nach § 26 Abs. 2 SGB X bzw. § 31 Abs. 2 VwVfG der Lauf der Frist berechnet werden.

Im Gegensatz zum Fristablauf haben Sonnabende, Sonntage und gesetzliche Feiertage auf den Fristbeginn keinen Einfluss.

Für den Fristablauf regeln § 26 Abs. 3, 4 und 6 SGB X bzw. § 31 Abs. 3, 4 und 6 VwVfG die Auswirkungen von Sonn- und Feiertagen sowie von Sonnabenden. Sie tragen sowohl der Sonn- und Feiertagsruhe als auch der Fünf-Tage-Woche Rechnung. Fällt das Ende einer Frist auf einen Sonntag, gesetzlichen Feiertag oder auf Sonnabende, so endet die gesetzliche, behördliche oder vertragliche Frist mit Ablauf des nächstfolgenden Werktages (§ 26 Abs. 3 S. 1 SGB X bzw. § 31 Abs. 3 S. 1 VwVfG). Für die Frage, ob ein gesetzlicher Feiertag besteht, kommt es auf den Ort an, an dem die Handlung vorzunehmen ist. Die Regelungen über den Fristablauf nach § 26 Abs. 3 S. 1 SGB X bzw. § 31 Abs. 3 S. 1 VwVfG gelten gemäß § 26 Abs. 3 S. 2 SGB X bzw. § 31 Abs. 3 S. 2 VwVfG nicht, wenn dem Betroffenen unter Hinweis auf diese Vorschrift ein bestimmter Tag als Ende der Frist mitgeteilt worden ist. Das kann dann auch ein Sonn- oder Feiertag oder ein Sonnabend sein.

Abweichend von § 26 Abs. 3 Satz 1 bzw. § 31 Abs. 3 S. 1 VwVfG endet ein Zeitraum mit dem Ablauf seines letzten Tages, wenn für diesen Zeitraum Leistungen von einer Behörde zu erbringen sind (§ 26 Abs. 4 SGB X bzw. § 31 Abs. 4 VwVfG). Damit ist klargestellt, dass die Verpflichtung zur Gewährung von zeitlich befristeten Leistungen (z.B. Mutterschaftsgeld, Waisenrente, Übergangsgeld, Arbeitslosengeld) auch dann mit dem Ablauf des letzten Tages endet, wenn dieser Tag ein Sonntag, gesetzlicher Feiertag oder Sonnabend ist und nicht erst mit dem Ablauf des nächstfolgenden Werktages.

Ein Schriftstück kann der Behörde grundsätzlich am Tag des Fristendes bis Mitternacht zugehen. Eine während der Abend- oder Nachtstunden in den Briefkasten der Behörde eingeworfenes Schriftstück geht dieser noch am selben Tag zu, auch wenn die Behörde erst am nächsten Tag Kenntnis vom Inhalt des Schriftstücks erhält.

Für von einer Behörde gesetzte Termine gilt anders als für den Fristablauf, dass diese auch dann einzuhalten sind, wenn sie auf einen Sonntag, gesetzlichen Feiertag oder Sonnabend fallen (§ 26 Abs. 5 SGB X bzw. § 31 Abs. 5 VwVfG). Die Festsetzung eines Termins auf einen dieser Tage ist allerdings nur dann nicht ermessensfehlerhaft, wenn sie durch besondere Umstände gerechtfertigt ist.

Wichtig sind § 26 Abs. 7 SGB X und § 31 Abs. 7 VwVfG. Nach Abs. 7 S. 1 dieser Bestimmungen können von einer Behörde gesetzte Fristen, nicht jedoch gesetzliche Fristen, nach pflichtgemäßem Ermessen auf Antrag oder von Amts wegen verlängert werden. Sind solche Fristen bereits abgelaufen, können sie rückwirkend verlängert werden, insbesondere wenn es unbillig wäre, die durch den Fristablauf eingetretenen Rechtsfolgen bestehen zu lassen (Abs. 7 S. 2 dieser Bestimmungen). Diese Verlängerungsmöglichkeit ist deshalb wichtig, weil bei Versäumung einer behördlichen Frist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht möglich ist. Die Behörde kann gemäß Abs. 7 S. 3 die Verlängerung der Frist nach § 32 SGB X bzw. § 36 VwVfG mit einer Nebenbestimmung verbinden, z. B. mit der Bestimmung dass innerhalb dieser Frist bestimmte Handlungen vorgenommen werden.

Die Festsetzung von behördlichen Fristen und Terminen kann nicht gesondert sondern nur im Rahmen der Rechtsbehelfe der Hauptsache angefochten werden.

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3.3.7.2 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

Für die Versäumung gesetzlicher, also nicht von der Behörde festgesetzter Fristen bestimmen § 27 Abs. 1 SGB X, § 32 Abs. 1 VwVfG, dass auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, diese Fristen einzuhalten. Die Bedeutung im Verwaltungsverfahren ist allerdings gering, weil die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Ausschlussfristen nicht möglich ist. Wenn ein Vertreter die gesetzliche Frist versäumt hat, kommt es für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand darauf an, ob dieser das Versäumnis verschuldet hat oder nicht. Durch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand werden die Rechtsfolgen der Fristversäumung aufgehoben, d. h. eine verspätet vorgenommene Verfahrenshandlung wird als rechtzeitig vorgenommen angesehen.

§ 27 SGB X und § 32 VwVfG gelten nicht für das Vorverfahren, weil die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in den §§ 67, 84 Abs. 2 S. 3 SGG und §§ 60,70 Abs. 2 VwGO für das sozial- und verwaltungsgerichtliche Verfahren und das Vorverfahren abschließend geregelt ist.

Voraussetzung für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 27 Abs. 1 S. 1 SGB X bzw. § 32 Abs. 1 S. 1 VwVfG ist, dass der Betroffene bzw. sein Vertreter eine gesetzliche Frist, in der Regel eine Antragsfrist, versäumt hat, die Fristversäumung auf einer Verhinderung und nicht auf Verschulden beruhte. Verschulden liegt vor, wenn die einem gewissenhaft und sachgemäß handelnden Verfahrensbeteiligten gebotene und nach den Umständen des Einzelfalles zumutbare Sorgfalt nicht eingehalten worden ist. Zumutbarkeit und Gebotenheit sind nach objektiven Kriterien zu beurteilen, ohne Rücksicht auf individuelle Besonderheiten. Es ist nicht darauf abzustellen, ob jemand besondere Sach- oder Rechtskenntnis besitzt. Vielmehr kommt es auf den konkreten Einzelfall an.

Kein Verschulden liegt z.B. bei einer plötzlichen schweren Erkrankung vor; ebenso ist Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn durch langsamen und verzögerten Postlauf die Frist nicht eingehalten wurde; denn gesetzliche Fristen dürfen voll ausgenutzt werden, und auf normale Postbeförderungsdauer können die Beteiligten vertrauen.

Arbeitsüberlastung stellt keinen Wiedereinsetzungsgrund dar, ebenso wenig Krankheit, wenn der Beteiligte selbst das Nötige noch veranlassen, insbesondere einen anderen mit der Vornahme der Handlung hätte beauftragen können. Ein Verschulden ist nur dann nicht anzunehmen, wenn der Beteiligte infolge ernsthafter Erkrankung die Frist nicht selbst wahren oder einen Bevollmächtigten beauftragen konnte.

Nach Abs. 1 Satz 2 der §§ 27 SGB X bzw. 32 VwVfG ist dem Betroffenen das Verschulden eines Vertreters zuzurechnen. Es richtet sich danach, ob dieser die im Geschäftsverkehr erforderlichen Sorgfaltspflichten beachtet hat. An die Sorgfaltspflicht von Rechtsanwälten und Verbandsvertretern sind dabei strenge Anforderungen zu stellen. Haben Bedienstete des Vertreters die Fristversäumung verursacht, so kann dies dem Vertreter nur dann zugerechnet werden, wenn er im Rahmen seiner Organisations-, Kontroll- und Beaufsichtigungspflicht die notwendige Sorgfalt nicht hat walten lassen. Das Verschulden von Hilfspersonen eines Vertreters ist diesem nur dann zuzurechnen, wenn der Vertreter diese Personen nicht mit der erforderlichen Sorgfalt ausgewählt, angeleitet und überwacht hat.

Auf die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand besteht ein Rechtsanspruch.

Bei der Gewährung der Wiedereinsetzung sind zwei Fristen zu beachten:

  1. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist nach § 27 Abs. 2 SGB X, § 32 Abs. 2 VwVfG innerhalb von zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Nach § 187 Abs. 1 BGB wird der Tag des Wegfalls nicht mitgerechnet. Die Frist endet mit Ablauf desjenigen Tages der letzten Woche, der durch seine Benennung dem Tag entspricht, an dem das Hindernis weggefallen ist (§ 26 Abs. 1 SGB X, § 31 Abs. 1 VwVfG i.V.m. § 188 Abs. 2 BGB). Innerhalb der 2-Wochen-Frist ist nicht nur der Antrag auf Wiedereinsetzung zu stellen, sondern auch die versäumte Handlung nachzuholen. Die Tatsachen zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags müssen ebenfalls innerhalb der 2-Wochen-Frist geltend und glaubhaft gemacht werden. Glaubhaftmachung, die sich auf die Tatsachen erstreckt, die zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrages vorgetragen werden, umfasst weniger als volle Beweisführung, sondern bedeutet die Darlegung einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit. Bestehen trotz Glaubhaftmachung Zweifel an der Richtigkeit des Sachverhalts, müssen die Behörden bzw. Leistungsträger diese aufgrund der ihnen obliegenden Amtsermittlungspflicht selbst aufzuklären versuchen. Die Glaubhaftmachung kann noch im Verfahren über den Wiedereinsetzungsantrag nachgeholt werden, d.h. solange über den Antrag noch nicht endgültig entschieden ist. Wenn die versäumte Handlung innerhalb von zwei Wochen nach Ablauf der Frist nachgeholt wird, kann Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden (§ 27 Abs. 2 S. 4 SGB X, § 32 Abs. 2 S. 4 VwVfG). Dabei ist eine Ermessensentscheidung nicht möglich, wenn die von Amts wegen vorgenommene Prüfung ergibt, dass die Fristversäumnis unverschuldet war; denn es entspricht der das Verwaltungsverfahren nach dem SGB X beherrschenden Offizialmaxime, dass die Behörde auch ohne Antrag prüfen muss, ob die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung gegeben sind (Haufe Onlinekommentar Rz. 13 zu § 27 SGB X).
  2. Nach einem Jahr seit dem Ende der versäumten Frist kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt oder die versäumte Handlung nicht mehr nachgeholt werden, außer wenn dies vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war (§ 27 Abs. 3 SGB X, § 32 Abs. 3 VwVfG). Diese Vorschrift dient der Rechtssicherheit. Der Begriff „höhere Gewalt" entspricht inhaltlich den Naturereignissen oder anderen unabwendbaren Zufällen, also Ereignissen, die auch durch die größte, nach den Umständen des Einzelfalles vernünftigerweise von den Betreffenden zu erwartende und zumutbare Sorgfalt nicht abgewendet werden können oder wie es das BSG formuliert hat: „Als „höhere Gewalt" ist im Rahmen des Abs. 3 jedes Geschehen zu werten, das auch durch die größtmögliche, von dem Betroffenen unter Berücksichtigung seiner Lage, Bildung und Erfahrung vernünftigerweise zu erwartende und zumutbare Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte (BSG, Urteil v. 27.5.2004, B 10 EG 11/03 R, unveröffentlicht)“. Auch in diesen Fällen muss die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand innerhalb von 2 Wochen nach Wegfall der „höheren Gewalt" beantragt und die versäumte Handlung innerhalb dieser Frist nachgeholt werden.

Die Glaubhaftmachung ist eine Form der Beweisführung, durch die es ermöglicht werden soll, auf einen gewissen Grad von Wahrscheinlichkeit zu schließen. Anders als beim Strengbeweis, der nur die Verwendung bestimmter Beweismittel, z. B. Zeugenaussagen, Sachverständigengutachten, Augenscheinseinnahme und Urkunden zulässt, kann die Glaubhaftmachung mit Hilfe aller Beweismittel geführt werden, u.a. z.B. auch mit eidesstattlichen Versicherungen, anwaltlichen Versicherungen und schriftlichen Aussagen.

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3.3.7.3 Rückwirkung von Anträgen in bestimmten Fällen

Von der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist die Rückwirkung eines Antrags in den Fällen des § 28 SGB X zu unterscheiden. § 28 SGB X hat keine Entsprechung im VwVfG. § 28 SGB X stellt sicher, dass ein Berechtigter einen Antrag auf eine Sozialleistung (Dienst-, Sach- und Geldleistungen nach § 11 SGB I) nachträglich stellen kann, wenn er darauf in Erwartung eines positiven Bescheids auf eine andere Sozialleistung verzichtet hat oder diese ihm versagt worden ist. Die Vorschrift gilt nur für antragsabhängige und fristgebundene Leistungen. Der Antrag ist dabei grundsätzlich als auf alle Leistungen gerichtet anzusehen, die nach Lage des Falles in Betracht kommen (BSG, Urteil v. 21.5.1980, 7 RAr 19/79, USK 80135).

Die Regelung mildert Leistungsnachteile auch in den Fällen, in denen ein Sozialleistungsberechtigter deshalb auf die zunächst in Betracht kommende Antragstellung verzichtete, weil ihm die um Beratung angegangene Behörde eine unrichtige Auskunft gegeben hatte. Eine wiederholte, wirksam nachgeholte Antragstellung schafft hierbei einen gewissen Ausgleich, zumal sich ein Amtshaftungsprozess oder sozialrechtlicher Herstellungsanspruch oft nur schwer realisieren lässt (vgl. Haufe Onlinekommentar Rz. 2 zu § 28 SGB X).

In § 28 SGB X werden zwei Fälle unterschieden: Einmal Fälle, in welchen der Anspruchsberechtigte die Anspruchsvoraussetzungen für eine Sozialleistung kannte (S. 1) und die Fälle, in welchen die Stellung eines Antrags aus Unkenntnis über deren Voraussetzungen unterblieben ist (S. 2).

Wenn ein Leistungsberechtigter von der Stellung eines Antrages auf eine Sozialleistung abgesehen hat, weil er einen Anspruch auf eine andere Sozialleistung geltend gemacht hat und diese Leistung versagt wird oder wenn sie zwar zunächst erbracht worden ist, aber dann wieder nach § 50 SGB X erstattet werden musste, wirkt der nunmehr nachgeholte Antrag bis zu einem Jahr zurück, wenn er innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf des Monats gestellt ist, in dem die Ablehnung oder Erstattungspflicht der anderen Leistung bindend geworden ist.

Beispiel: A. hat bei einem Verkehrsunfall am 01.02.2008 das Augenlicht verloren. Er hält den Unfall für einen Wegeunfall nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII und stellt deshalb einen Antrag auf Leistungen zur Pflege nach § 44 SGB VII und keinen Antrag auf Blindengeld nach dem für ihn zuständigen Landesblindengeldgesetz. Wenn der Anspruch auf Pflegegeld nach § 44 SGB VII rechtskräftig abgelehnt wird, weil kein Unfall auf dem Arbeitsweg vorlag, kann der Antrag auf das Landesblindengeld bis zu einem Jahr rückwirkend gestellt werden. Erfolgt die rechtswirksame Ablehnung im Februar 2009, so kann der Antrag noch mit Wirkung zum 01.02.2008 gestellt werden. Würde der Antrag erst zu einem späteren Zeitpunkt, z. B. im März 2009 gestellt, käme eine Rückwirkung nur bis 01.03.2008 in Frage.

Die Voraussetzungen von § 28 S. 1 SGB X sind nicht gegeben, wenn ein Antrag auf Sozialleistungen in einem Verwaltungsverfahren zurückgenommen worden ist. Es muss vielmehr eine ablehnende Entscheidung ergangen sein.

Voraussetzung für eine nachträgliche Antragstellung nach § 28 S. 2 ist einmal, dass der Leistungsberechtigte nicht gewusst hat, dass ihm auch eine andere als die ursprünglich beantragte Sozialleistung zustand und er deshalb diese Sozialleistung nicht rechtzeitig beantragt hat. Aus Unkenntnis unterlassen ist die Antragstellung, wenn die mangelnde Kenntnis der Anspruchsvoraussetzungen ursächlich für die unterbliebene Antragstellung war. An den Nachweis der Unkenntnis über die Anspruchsvoraussetzungen sind dabei keine besonders strengen Anforderungen zu stellen. Es kommt nicht darauf an, ob die Unkenntnis verschuldet oder unverschuldet ist (vgl. Haufe Onlinekommentar Rz. 4 zu § 28 SGB X). Ferner muss die durch den späteren Antrag verlangte Sozialleistung gegenüber der im ersten Antrag verfolgten Leistung, wenn diese erbracht worden wäre, subsidiär, d.h. nachrangig sein.

Die Nachholung des neuen Antrags muss sowohl bei Kenntnis (Fälle von § 28 S. 1) wie auch bei Unkenntnis der Anspruchsvoraussetzungen (Fälle von § 28 S. 2) soweit für bestimmte Sozialleistungen nach den für diese geltenden Rechtsgrundlagen nichts anderes bestimmt ist, innerhalb von 6 Monaten nach Ablauf des Monats erfolgen, in dem die Ablehnung oder die Erstattung der ursprünglichen Leistung bindend wird. Die Frist berechnet sich nach § 26 SGB X und beginnt mit Ablauf des Monats, in dem der Ablehnungs- oder Erstattungsbescheid bestandskräftig, d.h. unanfechtbar wird. Nach dem Ablauf der 6-Monats-Frist, d.h. bei späterer Antragstellung, ist eine wirksame Nachholung des Antrags und damit der anderen Leistung nicht mehr möglich.

Wie in den Fällen von § 28 S. 1 SGB X wirkt der nachgeholte Antrag vom Zeitpunkt, in welchem er gestellt worden ist, auch in den Fällen von § 28 S. 2 SGB X bis zu einem Jahr zurück. Der nachgeholte Antrag kann damit bis zur ersten erfolglosen Antragstellung zurückwirken, wenn seit seiner Stellung noch keine längere Zeit als ein Jahr vergangen ist. Allerdings ist die Rückwirkung auf ein Jahr begrenzt. Wenn seit dem erfolglos gestellten Antrag mehr als ein Jahr vergangen ist, gehen Leistungen, die bei rechtzeitiger Antragstellung erbracht worden wären, für den ein Jahr übersteigenden Zeitraum verloren. Die Rückwirkung bezieht sich nur auf den Antrag. Für den Zeitpunkt, ab welchem rückwirkend Sozialleistungen erbracht werden, kommt es noch darauf an, ab wann die übrigen Anspruchsvoraussetzungen gegeben waren.

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3.3.8 Zuständigkeitsklärung nach § 14 SGB IX

Für Teilhabeleistungen - das sind gemäß § 5 SGB IX Leistungen der medizinischen Rehabilitation (§§ 26ff. SGB IX), zur Teilhabe am Arbeitsleben (§§ 33ff. SGB IX), unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen (§§ 44 ff SGB IX) und zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (§§ 55ff SGB IX) -, auf welche behinderte und von Behinderung bedrohte Menschen einen Rechtsanspruch haben (§ 10 SGB I, §§ 1 und 4 SGB IX), ist wegen des im Sozialrecht bestehenden gegliederten Systems die Zuständigkeitsklärung nach § 14 SGB IX im Verwaltungsverfahren von zentraler Bedeutung. Vgl. dazu ausführlich: Ulrich, Peter in SGb 8/08 S. 452 ff. Das gegliederte System machte eine solche der Harmonisierung und Beschleunigung des Verwaltungsverfahrens dienende Vorschrift erforderlich; denn eines der gravierendsten Probleme dieses Systems ist es, im Einzelfall in möglichst kurzer Zeit den zuständigen Rehabilitationsträger zu bestimmen (vgl. das grundlegende Urteil BSG Urteil vom 26.10.2004 - B 7 AL 16/04 R = SozR 4-3250 § 14 Nr. 1). Diesem Ziel dient § 14 SGB IX. Er enthält für alle Rehabilitationsträger erstmals eine konkrete Verpflichtung, innerhalb einer verhältnismäßig kurzen Frist nach Eingang eines Antrages auf Teilhabeleistungen den leistungspflichtigen Rehabilitationsträger nach § 6 SGB IX zu bestimmen und über den Antrag zu entscheiden. Zuständigkeitsstreitigkeiten sollen nicht auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen, sondern möglichst rasch und abschließend gelöst werden.

Es muss sich um Teilhabeleistungen handeln. Wenn z.B. ein Hilfsmittel nach § 33 SGB V, etwa ein Lese-Sprechgerät oder ein Blindenlangstock beantragt wird, ist die Frage, ob eine Teilhabeleistung vorliegt und deshalb die Zuständigkeitsklärung nach § 14 SGB IX erfolgt. Dazu vgl. 3.3.8.7.

Damit die gesetzliche Verpflichtung zur raschen Zuständigkeitsklärung von den Rehabilitationsträgern in der Praxis auch umgesetzt wird, werden die Erstattungsansprüche des Trägers, der die Fristen nicht einhält, gemäß § 14 Abs. 4 S. 3 SGB IX eingeschränkt und dem Antragsteller wird unter den Voraussetzungen des § 15 SGB IX das Recht auf Erstattung für die selbst beschaffte Leistung eingeräumt.

Verfahrensabsprachen zwischen den Rehabilitationsträgern sind in der auf § 13 Abs. 2 Nr. 3 SGB IX beruhenden Gemeinsamen Empfehlung zur Zuständigkeitsklärung (GemEZ) vereinbart worden.

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3.3.8.1 Antragstellung bei einem Rehabilitationsträger

Als Rehabilitationsträger gelten alle in § 6 SGB IX aufgeführten Rehabilitationsträger - also auch die Sozial- und Jugendhilfeträger, welche die Gemeinsame Empfehlung zur Zuständigkeitsklärung nicht mittragen konnten. Außerdem haben sich die Integrationsämter, ohne Rehabilitationsträger i.S.d. § 6 zu sein, durch die Gemeinsame Empfehlung dazu verpflichtet, bei Leistungen und sonstigen Hilfen für schwerbehinderte Menschen die Verfahrensabsprache entsprechend umzusetzen (Haufe Onlinekommentar Rz. 6 zu § 14 SGB IX).

Geht der Antrag auf Teilhabeleistungen zuerst bei einer gemeinsamen Servicestelle (vgl. §§ 22, 23 SGB IX) ein oder wird der Antrag auf eine Teilhabeleistung bei einer gemeinsamen Servicestelle gestellt, gilt die Servicestelle als erster Rehabilitationsträger i.S.d. § 14 SGB IX mit der Folge, dass für den Träger, der organisatorisch diese gemeinsame Servicestelle betreibt, auch die 2-Wochen-Frist des § 14 Abs. 1 S. 1 SGB IX zu laufen beginnt (vgl. § 1 Ziff. 3 der Gemeinsamen Empfehlung zur Zuständigkeitsklärung).

Eine Besonderheit besteht dann, wenn ein Antrag auf Teilhabeleistungen bei einem Rehabilitationsträger erkennbar auf dem Vordruck eines anderen Rehabilitationsträgers für diesen anderen Rehabilitationsträger gestellt wird. In diesen Fällen gilt nicht der den Antrag aufnehmende Rehabilitationsträger bzw. der weitergebende Rehabilitationsträger als erstangegangener Rehabilitationsträger i.S.d. § 14 SGB IX, sondern der Rehabilitationsträger, für den der Antrag bestimmt war (§ 2 Ziff. 3 der Gemeinsamen Empfehlung zur Zuständigkeitsklärung). Demnach beginnt die 14-Tage-Frist des § 14 Abs. 1 S. 1 SGB IX auch erst nach dem Eingang des Antrages bei dem Rehabilitationsträger, für den der Antrag bestimmt war, zu laufen.

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3.3.8.2 Fristen nach § 14 SGB IX für den erstangegangenen zuständigen Rehabilitationsträger

§ 14 Abs. 1 S. 1 Halbs. 1 regelt den Fall, dass der Rehabilitationsträger, an welchen ein Antrag auf Teilhabeleistungen gestellt worden ist, materiell-rechtlich zuständig ist. Wenn Leistungen zur Teilhabe beantragt werden, muss er innerhalb von zwei Wochen nach Eingang des Antrages bei ihm feststellen, ob er nach § 6 SGB IX und dem für ihn geltenden Leistungsgesetz sachlich und örtlich für die Teilhabeleistung zuständig ist und dass keine vorrangige Leistungspflicht eines anderen Rehabilitationsträgers besteht. Wenn der erstangegangene Rehabilitationsträger seine Zuständigkeit gemäß § 14 Abs. 1 S. 1 Halbs. 1 bejaht hat, muss er nach § 14 Abs. 2 S. 1 unverzüglich, d.h. ohne schuldhaftes Zögern (§ 121 BGB), den Rehabilitationsbedarf feststellen. Wenn zur Feststellung des Rehabilitationsbedarfs kein Gutachten eingeholt werden muss, ist der Rehabilitationsträger verpflichtet, innerhalb von drei Wochen seit Eingang des Antrags durch Verwaltungsakt über die begehrte Leistung zu entscheiden (§ 14. Abs. 2 S. 2 SGB IX). Die Fristen von Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 S. 2 laufen parallel. Wenn zur Feststellung des Rehabilitationsbedarfs ein Gutachten erforderlich ist, hat der erstangegangene Rehabilitationsträger seine Entscheidung innerhalb von zwei Wochen nach Vorliegen des Gutachtens zu treffen (§ 14 Abs. 2 S. 4 SGB IX). Der Gutachter muss nach § 14. Abs. 5 S. 5 SGB IX das Gutachten innerhalb von zwei Wochen nach Auftragserteilung erstellen. Damit ergibt sich eine maximale Bearbeitungszeit von sieben Wochen.

Diese Pflichten und Fristen gelten nach § 14 Abs. 3 SGB IX auch für Rehabilitationsträger, die wie z.B. die Sozialhilfeträger nach § 8 SGB XII und die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung nach § 19 SGB IV sowie auch die Träger der Jugendhilfe Leistungen von Amts wegen zu erbringen haben. An die Stelle des Tages der Antragstellung tritt der Tag, an welchem der Rehabilitationsträger in diesem Fall Kenntnis vom voraussichtlichen Rehabilitationsbedarf hat. Für diese „Antragsfiktion“ reicht es aus, dass der Rehabilitationsträger aus den ihm vorliegenden Unterlagen unter Berücksichtigung seiner Fachkompetenz erkennen kann, dass die Klärung eines konkreten Rehabilitationsbedarfes angezeigt ist.

Wenn über den Antrag auf Leistungen zur Teilhabe nicht innerhalb der in § 14 Abs. 2 genannten Fristen entschieden werden kann, muss der Rehabilitationsträger dies den Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig mitteilen (§ 15 Abs. 1 S. 1 SGB IX). Wenn die Mitteilung nicht erfolgt oder ein zureichender Grund nicht vorliegt, können Leistungsberechtigte dem Rehabilitationsträger eine angemessene Frist setzen und dabei erklären, dass sie sich nach Ablauf der Frist die erforderliche Leistung selbst beschaffen (§ 15 Abs. 1 S. 2 SGB IX). Wenn sich Leistungsberechtigte nach Ablauf der Frist eine erforderliche Leistung selbst beschaffen, ist der zuständige Rehabilitationsträger verpflichtet, Aufwendungen unter Beachtung der Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zu erstatten (§ 15 Abs. 1 S. 3 SGB IX).

Es kann auch gerichtlich vorgegangen werden. Beim Sozialgericht ist eine Untätigkeitsklage zwar erst sechs Monate nach Antragstellung möglich (§ 88 Abs. 1 S. 1 SGG). Beim Sozialgericht kann jedoch der Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 86b Abs. 2 SGG gegen den erstangegangenen Rehabilitationsträger beantragt werden, welche das Ziel hat, eine vorläufige Leistung nach § 43 SGB I zu gewähren. § 43 SGB I ist in diesem Fall, in welchem die Zuständigkeit nicht streitig ist, analog anzuwenden. Zur einstweiligen Anordnung vgl. 4.4.2.

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3.3.8.3 Weiterleitung bei Unzuständigkeit des erstangegangenen Rehabilitationsträgers

Die zweite unmittelbar im Gesetz geregelte Variante ist diejenige, dass der erstangegangene Rehabilitationsträger oder derjenige Rehabilitationsträger, welcher Leistungen von Amts wegen erbringt (§ 14 Abs. 3 SGB IX), innerhalb der 2-Wochen-Frist des § 14 Abs. 1 S. 1 SGB IX feststellt, dass er nach seinem Leistungsgesetz für die begehrte Teilhabeleistung nicht zuständig ist. Er hat in diesem Fall den Antrag mit sämtlichen Unterlagen unverzüglich, spätestens am ersten Arbeitstag nach Ablauf der 2-Wochen-Frist dem nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger zuzuleiten (§ 14 Abs. 1 S. 2 SGB IX). Die Weiterleitung ist mit einer schriftlichen Begründung zu versehen, welche die Zuständigkeitsprüfung zum Gegenstand hat (§ 2 Ziff. 1 der Gemeinsamen Empfehlung zur Zuständigkeitsklärung). Der Antragsteller muss über die Weiterleitung schriftlich informiert werden.

Wenn für die Feststellung der Zuständigkeit die Ursache der Behinderung geklärt werden muss und diese Klärung in der 2-Wochen-Frist nach § 14 Abs. 1 S. 1 SGB IX nicht möglich ist, wird der Antrag unverzüglich dem Rehabilitationsträger zugeleitet, der die Leistung ohne Rücksicht auf die Ursache der Behinderung erbringt § 14 Abs. 1 S. 3 SGB IX). Das kann z.B. der Fall sein, wenn bei einem während der beruflichen Tätigkeit erlittenen Unfall, welcher eine Teilhabeleistung, z.B. medizinische Rehabilitationsleistungen erforderlich macht, innerhalb der 2-Wochen-Frist nicht festgestellt werden kann, ob die berufliche Tätigkeit für die Schädigung ursächlich war, also ein Arbeitsunfall im Sinn von § 8 Abs. 1 SGB VII vorliegt. Ein weiteres Beispiel wäre eine Erkrankung, bei welcher eine Berufskrankheit im Sinn von § 9 Abs. 1 SGB VII in Frage kommt, aber die Ursächlichkeit der Berufstätigkeit für die Erkrankung in der 2-Wochen-Frist nicht geklärt werden kann.

Nach § 4 der Gemeinsamen Empfehlung über die Ausgestaltung des in § 14 bestimmten Verfahrens ist für die Beurteilung des Leistungsanspruchs bei ungeklärter Behinderungsursache folgender Rehabilitationsträger zuständig:

  • in Fällen von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung, wenn die versicherungsrechtlichen und persönlichen Voraussetzungen (der §§ 9 bis12 SGB VI) erfüllt sind, ansonsten die gesetzliche Krankenkasse,
  • in Fällen von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung, wenn die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind, ansonsten die Bundesagentur für Arbeit,
  • in Fällen von Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft der örtlich und sachlich zuständige Träger der Sozialhilfe,
  • bei Unklarheit darüber, ob Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben erforderlich sind, der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung.

Der erstangegangene Rehabilitationsträger kann den Antrag auf Teilhabeleistungen nur an einen in § 6 SGB IX aufgeführten Rehabilitationsträger weiterleiten. Hat z.B. der Rentenversicherungsträger als erstangegangener Rehabilitationsträger i.S.d. § 14 SGB IX festgestellt, dass nicht er, sondern die private Krankenversicherung des Versicherten für die Teilhabeleistung zuständig wäre, darf keine Weiterleitung erfolgen; der Rentenversicherungsträger hat in diesem Fall die Leistung durch Verwaltungsakt abzulehnen.

Bei der Weiterleitung handelt es sich nach überwiegender Meinung um keinen Verwaltungsakt, sondern um schlichtes Verwaltungshandeln. Eine Entscheidung durch einen Verwaltungsakt erfolgt erst durch den zweitangegangenen Rehabilitationsträger, an welchen der Antrag weitergeleitet worden ist. Sowohl dem zweitangegangenen Träger als auch dem Antragsteller fehlt damit die Widerspruchs- und Klagebefugnis gegen die Weiterleitung.

Wenn zur Feststellung des Rehabilitationsbedarfs kein Gutachten eingeholt werden muss, hat der zweitangegangene Rehabilitationsträger innerhalb von drei Wochen nach Eingang des Antrags bei ihm durch Verwaltungsakt zu entscheiden (§ 14 Abs. 2 S. 3 i.V.m. § 14 Abs. 2 S. 1 und 2 SGB IX). In diesem Fall darf die Bearbeitung des Antrages bis zur Entscheidung durch den zweitangegangenen Rehabilitationsträger also maximal fünf Wochen dauern. Wenn für die Feststellung des Rehabilitationsbedarfs ein Gutachten erforderlich ist, muss die Entscheidung innerhalb von zwei Wochen nach Eingang des Gutachtens beim zweitangegangenen Rehabilitationsträger ergehen (§ 14 Abs. 2 S. 4 SGB IX).

Einschränkungen für die Zulässigkeit der Weiterleitung ergeben sich für die Bundesagentur für Arbeit aus § 14 Abs. 1 S. 4 SGB IX. Die Bundesagentur für Arbeit leitet einen Antrag nach § 14 Abs. 1 S. 4 i.V.m. Abs. 4 S. 2 SGB IX an den Träger der Rentenversicherung nur weiter, wenn sie konkrete Anhaltspunkte dafür hat, dass der Rentenversicherungsträger zur Leistung einer Rente wegen Erwerbsminderung unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage verpflichtet sein könnte.

Wenn der zweitangegangene Träger die genannten Fristen nicht beachtet, bzw. dann, wenn er seine Zuständigkeit entgegen der materiellen Rechtslage verneint und den Antrag deshalb ablehnt, ist wiederum die Möglichkeit nach § 15 Abs. 1 SGB IX eröffnet, wonach unter den dort genannten Voraussetzungen Erstattung für selbstbeschaffte Teilhabeleistungen verlangt werden kann bzw. die Antragsmöglichkeit auf Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das Gericht nach § 86b Abs. 2 SGG gegeben und - abgesehen von Spezialvorschriften - § 43 SGB I (vorläufige Leistungen) in Betracht zu ziehen. Vgl. dazu oben 3.3.8.2 am Ende. Der Antrag auf vorläufige Leistungen nach § 43 Abs. 1 S. 2 ist gegen den zweitangegangenen Leistungsträger zu richten; denn dieser darf, auch wenn er unzuständig sein sollte, den an ihn weitergeleiteten Leistungsantrag weder an den erstangegangenen Rehabilitationsträger zurück-, noch an einen dritten Rehabilitationsträger weiterleiten.

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3.3.8.4 Folgen bei Weiterleitung an einen unzuständigen Rehabilitationsträger

Als drittes ist die Rechtslage zu betrachten, welche sich ergibt, wenn ein Antrag auf Teilhabeleistungen vom erstangegangenen Rehabilitationsträger unter Beachtung der 2-Wochen-Frist (§ 14. Abs. 1 S. 1 SGB IX) an einen materiell-rechtlich unzuständigen Rehabilitationsträger weitergeleitet wird. Denkbar ist, dass der erstangegangene Rehabilitationsträger selbst oder dass ein dritter Rehabilitationsträger materiell-rechtlich zur Leistung verpflichtet ist.

Gegenüber dem Antragsteller wird auch in diesen Fällen der zweitangegangene Leistungsträger endgültig zuständig. Dieser darf trotz seiner materiell-rechtlichen Unzuständigkeit den Antrag grundsätzlich weder zurück- noch an einen anderen, nach seiner Meinung zuständigen Leistungsträger weiterleiten. Dies ergibt sich aus § 14 Abs. 2 S. 3 SGB IX, welcher nur auf § 14. Abs. 2 S. 1 und 2, nicht jedoch auf § 14 Abs. 1 S. 2 SGB IX (Weiterleitung bei eigener Unzuständigkeit) verweist.

Der Ausschluss einer erneuten Weiterleitung durch den zweitangegangenen Leistungsträger führt nicht nur dazu, dass dieser bei seiner eigenen Unzuständigkeit den materiell zuständigen Leistungsträger feststellen muss (§ 14 Abs. 2 S. 5 SGB IX). Seine nunmehr bestehende Leistungspflicht richtet sich nicht mehr nach dem für ihn geltenden Leistungsgesetz, sondern er muss die Leistung nach dem für den materiell-rechtlich zuständigen Leistungsträger geltenden Leistungsgesetz erbringen. Für die Leistung sind somit alle in Frage kommenden Leistungsgesetze zu prüfen und zu entscheiden. Nach der Rechtsprechung des BSG ist der Antrag nach allen in Frage kommenden Rechtsgrundlagen zu beurteilen (Urteile des BSG vom 21.08.2008 AZ.: B 13 R 33/07 R, Fundstelle RegNr 28433 BSG-Intern -; BSG vom 26.10.2004, BSGE 93, 283 = SozR 4-3250 § 14 Nr 1, RdNr 15; BSG vom 26.6.2007 - B 1 KR 34/06 R, RdNr 14;). Nach anderer Meinung muss der zweitangegangene Rehabilitationsträger nur solche Leistungen erbringen, welche nach dem für ihn geltenden Leistungsgesetzen möglich sind, gewissermaßen zu seinem Leistungsspektrum gehören (vgl. dazu Haufe Onlinekommentar Rz. 5 und 34 zu § 14 SGB IX). Wenn man dieser Auffassung folgt, hilft § 14 Abs. 2 S. 5 SGB IX. Danach hat der materiell-rechtlich unzuständige zweitangegangene Rehabilitationsträger das weitere Vorgehen unverzüglich mit dem materiell-rechtlich zuständigen Rehabilitationsträger zu klären und festzulegen, von wem und in welcher Weise bei fehlender Erforderlichkeit eines Gutachtens innerhalb von drei Wochen (Frist des § 14 Abs. 2 S. 2 SGB IX) bzw. innerhalb von zwei Wochen nach Vorliegen des Gutachtens (Frist des § 14 Abs. 2 S. 4 SGB IX) über den Antrag entschieden wird. Über das Ergebnis dieser Klärung muss er den Antragsteller unterrichten. Betroffene sollten sich nicht damit abfinden, wenn vom Rehabilitationsträger nicht entsprechend der BSG-Meinung verfahren wird.

Dem nichtzuständigen zweitangegangenen Rehabilitationsträger, welcher infolge des Weiterleitungsverbotes Teilhabeleistungen erbracht hat, steht gegenüber dem materiell Leistungspflichtigen nach § 14 Abs. 4 S. 1 SGB IX ein Erstattungsanspruch zu. Der materiell zuständige Leistungsträger ist an die Entscheidung des Zweitangegangenen gebunden. Er kann dessen Entscheidung nicht erneut inhaltlich überprüfen. Der Erstattungsanspruch richtet sich hier nicht nach den §§ 102 bis 105 SGB X, sondern nach der Spezialvorschrift des § 14 Abs. 4 S. 1 SGB IX. Er kann die ihm entstandenen Aufwendungen in vollem Umfang erstattet verlangen.

Wenn es zu einem Rechtsstreit zwischen dem die Teilhabeleistung begehrenden Antragsteller und dem Zweitangegangenen, an welchem der Antrag weitergeleitet worden ist, kommt, ist bei dessen materiell-rechtlicher Unzuständigkeit der materiell zuständige Leistungsträger zum Verfahren gemäß § 75 Abs. 2 SGG notwendig beizuladen (BSG Urteile vom 25.06.2008 - B 11b AS 19/07 R und vom 26.10.2004 - B 7 AL 16/04 R = SozR 4-3250 § 14 Nr. 1). Die Beiladung führt zur Bindung der Entscheidung auch gegenüber dem Beigeladenen (§ 141 SGG).

Für den Fall, dass der zweitangegangene Leistungsträger die Leistung vor allem unter Berufung auf seine materiell-rechtliche Unzuständigkeit ablehnt, kommt auch hier der Antrag auf einstweilige Anordnung nach § 86b Abs. 2 SGG in Frage. Die Erbringung einer vorläufigen Leistung kann nach § 43 SGB I verlangt werden.

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3.3.8.5 Folgen bei unterlassener Weiterleitung bei irrtümlicher Annahme der eigenen Zuständigkeit

Schließlich ist zu betrachten, wie die Rechtslage ist, wenn der erstangegangene Leistungsträger den Antrag auf Teilhabeleistungen auf Grund eines Irrtums über seine eigene Zuständigkeit nicht weiterleitet. Dieser Fall ist im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt. Die Rechtsfolgen lassen sich trotzdem aus den in § 14 SGB IX enthaltenen Grundsätzen erschließen (vgl. Ulrich SGb 2008 S. 458 f.).

Wenn der erstangegangene Leistungsträger einen Antrag entgegen seiner sich aus § 14 Abs. 1 S. 2 SGB IX ergebenden Verpflichtung nicht weiterleitet, obwohl er materiell-rechtlich für die begehrte Leistung nicht zuständig ist, ist er ohne Rücksicht hierauf zur Entscheidung über den Antrag verpflichtet. Es handelt sich insoweit um eine gesetzlich begründete Durchbrechung von § 7 S. 2 SGB IX, wonach sich die Zuständigkeit für Leistungen ausschließlich nach den Leistungsgesetzen der einzelnen Rehabilitationsträger richtet (Ulrich SGb 2008 S. 459). Zugunsten des behinderten oder von Behinderung bedrohten Menschen wird der zügigen Antragserledigung Vorrang vor der materiell-rechtlichen Zuständigkeit der Träger eingeräumt. Es entsteht per Gesetz eine Verpflichtung durch Unterlassen. Dies ergibt sich eindeutig aus § 14 Abs. 2 S. 1 und 2 SGB IX, nach denen ein Antrag entweder fristgerecht weiterzuleiten oder der Rehabilitationsbedarf unverzüglich festzustellen und über den Antrag zu entscheiden ist (Ulrich a.a.O. S. 459).

Inhaltlich ist der erstangegangene Leistungsträger gegenüber dem Antragsteller für alle denkbaren Ansprüche nach den Leistungsgesetzen der in § 6 SGB IX genannten Rehabilitationsträger zuständig geworden. Genau wie im Verfahren bei materiell-rechtlicher Zuständigkeit des erstangegangenen Trägers hat der erstangegangene Träger bei unterlassener Weiterleitung an den aus materiellem Recht Verpflichteten den Rehabilitationsbedarf unverzüglich festzustellen und über den Antrag innerhalb von drei Wochen nach Antragseingang, sofern für die Bedarfsfeststellung kein Gutachten eingeholt werden muss, zu entscheiden (§ 14 Abs. 2 S. 1 und 2 SGB IX). Andernfalls ist die Entscheidung innerhalb von zwei Wochen nach Vorliegen des Gutachtens zu treffen (§ 14 Abs. 2 S. 4 SGB IX).

Ein Erstattungsanspruch des erstangegangenen Leistungsträgers gegen den materiell-rechtlich zuständigen Leistungsträger ergibt sich in diesem Fall nicht aus § 14 Abs. 4 S. 1 SGB IX, sondern aus § 104 SGB X. Dieser wird durch § 14 Abs. 4 S. 3 SGB IX nicht ausgeschlossen. Er erhält Erstattung nur im Umfang von § 104 Abs. 3 SGB X, also entsprechend den für den materiell-rechtlich zuständigen Leistungsträger geltenden Leistungsgesetzen (Urteil des BSG vom 26.06.2007 AZ.: B 1 KR 34/06 R = Behindertenrecht 2008, S. 11-16). Nach abweichender Meinung (z.B. Haufe Onlinekommentar Rz. 48 zu § 14 SGB IX) besteht in diesem Fall überhaupt kein Erstattungsanspruch. Diese Auffassung würde dazu führen, dass Anträge auf Rehabilitationsleistungen notfalls nur mit einer fadenscheinigen Begründung ohne wirklich gründlicher Zuständigkeitsprüfung durch den erstangegangenen Rehabilitationsträger weitergeleitet würden, um dem Verlust des Erstattungsanspruchs auszuweichen. § 14 Abs 4 SGB IX schließt die §§ 102 ff SGB X „nicht umfassend aus, sondern passt deren Ausgleichssystem den speziellen Anforderungen des § 14 SGB IX an (BSG a.a.O.).“

Wenn es zum Rechtsstreit über die Teilhabeleistung zwischen dem Antragsteller und dem erstangegangenen materiell-rechtlich unzuständigen Leistungsträger kommt, ist der materiell-rechtlich zuständige Leistungsträger nach § 75 Abs. 2 SGG notwendig beizuladen.

Ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 86b Abs. 2 SGG ist auch hier möglich. Er kann insbesondere für den Fall, dass der erstangegangene Träger die Leistung unter Berufung auf seine fehlende materiell-rechtliche Verpflichtung ablehnt, auf § 43 SGB I gestützt werden.

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3.3.8.6 Folgen der Versäumung der Weiterleitungsfrist

Als Letztes bleibt noch der Fall, dass die Frist zur Weiterleitung innerhalb der Frist von zwei Wochen nach § 14 Abs. 1 S. 1 SGB IX versäumt wird.

Der Antrag auf Teilhabeleistungen ist vom erstangegangenen Rehabilitationsträger spätestens am nächsten Arbeitstag nach Ablauf der 2-Wochen-Frist an den vermeintlich zuständigen Rehabilitationsträger weiterzuleiten (§ 14 Abs. 1 S. 2 SGB IX.). Wird die Frist versäumt, hat der erstangegangene Rehabilitationsträger die Verpflichtung zur Bereitstellung der Teilhabeleistung ganz gleich, ob ein anderer Rehabilitationsträger materiell-rechtlich zuständig ist oder nicht (Haufe Onlinekommentar Rz. 5 zu § 14 SGB IX). Die Gründe für die Fristversäumung, z.B. Arbeitsüberlastung, spielen keine Rolle. Wenn trotz Fristüberschreitung weitergeleitet wird, kann der Antrag an den erstangegangenen Rehabilitationsträger zurückgegeben werden. Der zweitangegangene Rehabilitationsträger kann aber auch selbst innerhalb von drei Wochen nach Eingang des Antrags bei ihm (§ 14 Abs. 2 S. 3 i.V.m. Abs. 2 S. 1 und 2 SGB IX) bzw. im Fall der Erforderlichkeit eines Gutachtens innerhalb von zwei Wochen nach Eingang des Gutachtens (§ 14 Abs. 2 S. 4 SGB IX) durch Verwaltungsakt über den Rehabilitationsbedarf entscheiden.

Für einen Erstattungsanspruch des erstangegangenen Leistungsträgers gegen den materiell-rechtlich zuständigen Leistungsträger gilt das Gleiche was oben unter 3.3.8.5 ausgeführt worden ist.

Wenn der erstangegangene Rehabilitationsträger nicht innerhalb der Fristen des § 14 SGB IX über den Antrag entscheidet, kann der Antragsteller nach § 15 Abs. 1 SGB IX vorgehen, also sich nach Setzung einer angemessenen Nachfrist die Teilhabeleistung selbst beschaffen und Kostenerstattung verlangen.

Er kann aber auch vorläufigen Rechtsschutz durch Antrag auf eine einstweilige Anordnung gemäß § 86b Abs. 2 SGG durch das Sozialgericht suchen.

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3.3.8.7 Zuständigkeitsklärung bei Hilfsmitteln im Sinn von § 33 SGB V

Wenn z.B. ein Hilfsmittel nach § 33 SGB V, etwa ein Lese-Sprechgerät, eine Bildschirmsprachausgabe oder ein Blindenlangstock beantragt wird, ist die Frage, ob eine Teilhabeleistung vorliegt und deshalb die Zuständigkeitsklärung nach § 14 SGB IX erfolgt. Das soll anhand des folgenden Falls aus der Praxis erläutert werden.

Eine gesetzliche Krankenkasse hat den Antrag ihres Versicherten auf Ausstattung mit einer Bildschirmsprachausgabe innerhalb der 2-Wochen-Frist des § 14 Abs. 1 S. 1 an den Sozialhilfeträger weitergeleitet, weil sie die Meinung vertritt, dass es sich nicht um ein Hilfsmittel im Sinn von § 33 Abs. 1 SGB V, sondern um eine Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX handelt. Tatsächlich ist die Sprachausgabe, welche blinden Menschen die Benutzung eines PC überhaupt erst ermöglicht, ein Hilfsmittel im Sinn von § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V. Sie dient dem Ausgleich einer Behinderung und ist speziell für den Gebrauch durch behinderte Menschen bestimmt. Die Krankenkasse hat ihre Zuständigkeit zu Unrecht verneint. Der Sozialhilfeträger ist deshalb materiell-rechtlich nicht zuständig.

Die Frage ist, ob hier § 14 SGB IX anwendbar ist und damit der Sozialhilfeträger gemäß § 14 Abs. 2 S. 3 über den Antrag auch nach den Bestimmungen des SGB V entscheiden muss und ihn nicht zurückgeben oder nach den Bestimmungen des SGB XII ablehnen darf. Sowohl die gesetzliche Krankenkasse als auch der Sozialhilfeträger sind Rehabilitationsträger im Sinn von § 6 SGB IX (SGB IX § 6 Abs. 1 Nr. 1 und 7). Der Sozialhilfeträger hat hier den Anspruch des Antragstellers unter allen für die Leistung in Frage kommenden Anspruchsgrundlagen zu prüfen (vgl. oben 3.3.8.4.). Dabei ist es nach Auffassung des BSG (BSG Urteil vom 21.08.08 AZ.: B 13 R 33/07 R RegNr 28433 - BSG-Intern -) unerheblich, ob die Versorgung mit einem Hilfsmittel durch die gesetzliche Krankenkasse nach § 33 Abs. 1 als Rehabilitationsleistung bewertet wird oder nicht. Dieser Auffassung ist zuzustimmen. Anderenfalls würde das Ziel von § 14 SGB IX, trotz des gegliederten Systems eine rasche Zuständigkeitsklärung und Entscheidung sicherzustellen, nicht erreicht.

Wenn in unserem Beispielsfall der Sozialhilfeträger den Antrag (auch im Widerspruchsverfahren) ablehnt, weil die Einkommens- oder Vermögensgrenzen überstiegen sind, müsste gegen den Sozialhilfeträger geklagt werden. Die Klage wäre damit zu begründen, dass der Sozialhilfeträger irrtümlich davon ausgegangen sei, dass es sich um eine Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nach § 55 Abs. 2 Nr. 1 SGB XII gehandelt habe. Er habe es unterlassen, den Antrag auf Grund seiner sich aus § 14. Abs. 2 SGB IX ergebenden Zuständigkeit nach § 33 SGB V zu beurteilen und zu entscheiden. Die Krankenkasse müsste in diesem Fall nach § 75 Abs. 2 SGG notwendig zum Verfahren beigeladen werden (vgl. auch Urteil des BSG vom 25.06.2008 AZ: B 11b AS 19/07 R).

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3.4 Abschluss des Verwaltungsverfahrens

Das Verwaltungsverfahren endet mit der Bestandskraft, also Unanfechtbarkeit eines Verwaltungsaktes oder mit der durch die Klageerhebung eintretende Rechtshängigkeit. Es endet auch mit der Rücknahme eines Antrages durch Erledigungserklärung, beim Tod des Antragstellers oder mit Wirksamkeit (Abschluss der Vertragsunterzeichnung) des öffentlich-rechtlichen Vertrages. Zu beachten ist aber § 59 SGB I, wonach Ansprüche auf Geldleistungen nur erlöschen, wenn sie im Zeitpunkt des Todes des Berechtigten weder festgestellt sind noch ein Verwaltungsverfahren über sie anhängig ist. Wenn ein Verwaltungsverfahren über Geldleistungen beim Tod anhängig ist, treten die Sonderrechtsnachfolger (§§ 56 und 57 SGB I) oder die Erben (§ 58 SGB I) in das Verfahren ein (Haufe Onlinekommentar Rz. 21 und 22 zu § 59 SGB I).

Das Vorverfahren gehört mit zum Verwaltungsverfahren, denn dieses wird erst mit einem etwaigen Widerspruchsbescheid abgeschlossen.

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3.5 Auswirkung der Nichtigkeit oder Fehlerhaftigkeit von Verwaltungsakten – Rücknahme von Verwaltungsakten

In diesem Kapitel wird die Frage behandelt, welche Mängel zur Nichtigkeit und welche lediglich zur Fehlerhaftigkeit eines wirksam bleibenden Verwaltungsaktes führen und welche Folgen diese Mängel haben (zur Nichtigkeit vgl. 3.5.1).

Zur Frage, inwieweit eine Heilung fehlerhafter Verwaltungsakte möglich ist vgl. 3.5.2 bis 3.5.4.

Wegen des engen Sachzusammenhangs wird auch die Frage behandelt, unter welchen Voraussetzungen Verwaltungsakte, seien sie fehlerhaft oder nichtig, aufgehoben werden können (dazu vgl. 3.5.5 mit den Unterabschnitten).

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3.5.1 Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes

Wann ein Verwaltungsakt nichtig ist, besagen § 40 SGB X und - mit Abweichungen - § 44 VwVfG. Diese Bestimmungen beschreiben die - praktisch seltenen - Fälle, in denen ein Verwaltungsakt keine Rechtswirkungen entfaltet, weil er nichtig ist. Der Begriff der Nichtigkeit ist von dem Begriff der Rechtswidrigkeit streng zu unterscheiden. Während aus materiellen oder formellen Gründen rechtsfehlerhafte Verwaltungsakte grundsätzlich wirksam sind und trotz ihrer Rechtswidrigkeit in Bestandskraft erwachsen können, schließt die Nichtigkeit jede Wirksamkeit aus (§ 39 Abs. 3 SGB X, § 43 Abs. 3 VwVfG).

Der nichtige Verwaltungsakt enthält aber immer noch eine in Regelungsabsicht erlassene Entscheidung, die den Anschein eines wirksamen Verwaltungsaktes hervorruft, so dass aus Gründen effektiven Rechtsschutzes die Feststellung der Nichtigkeit erzwungen werden kann.

Die §§ 40 SGB X bzw. 44 VwVfG enthalten in Abs. 1 als Generalklausel die Voraussetzungen für einen nichtigen Verwaltungsakt. In Abs. 2 werden eigenständige absolute Nichtigkeitsgründe genannt, bei deren Vorliegen die Voraussetzungen nach Abs. 1 nicht mehr geprüft werden müssen. Abs. 3 benennt Verfahrensfehler, die als solche nicht zwingend zur Nichtigkeit führen, jedoch zusammen mit anderen Fehlern noch die Nichtigkeit nach Abs. 1 begründen können. Abs. 4 regelt die Folgen von Teilnichtigkeit. Mit Abs. 5 wird für die Verwaltung die Möglichkeit geschaffen, die Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes ausdrücklich festzustellen.

Ein Verwaltungsakt ist nach der Generalklausel in § 40 Abs. 1 SGB X, § 44 Abs. 1 VwVfG nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offensichtlich ist. Sowohl der unbestimmte Rechtsbegriff des besonders schweren Fehlers als auch der Begriff der Offensichtlichkeit sind wenig präzise. Der Adressat eines Verwaltungsaktes kann die Beurteilung kaum sicher vornehmen. In Zweifelsfällen ist es daher angezeigt, sich nicht auf die Nichtigkeit zu verlassen, sondern den Bescheid mit Widerspruch anzufechten und Hilfsweise dessen Nichtigkeit geltend zu machen und von der Verwaltung die Aufhebung bzw. Feststellung der Nichtigkeit zu verlangen. Das ist zu empfehlen, um bei einer späteren Beurteilung des Verwaltungsaktes durch das Gericht als (nur) rechtswidrig keine Rechtsnachteile (Versäumung der Widerspruchsfrist, Bindung an Bestandskraft) zu erleiden. Für Beispiele wird auf die Kommentarliteratur verwiesen, z. B. Haufe Onlinekommentar Rz. 6 bis 11 zu § 40 SGB X.

Der besonders schwerwiegende Fehler muss, damit Nichtigkeit vorliegt, offensichtlich (evident) sein. Für die Beurteilung, ob dies der Fall ist, ist auf die Erkennbarkeit des Fehlers für den Durchschnittsbürger abzustellen. Dieser muss ohne besondere Sachkenntnis oder zusätzliche Aufklärungs- oder Beweismittel anhand der Umstände im Zusammenhang mit dem Erlass des Verwaltungsaktes zu dem Schluss kommen, dass die getroffene Entscheidung nicht rechtmäßig sein kann (BSG, Urteil vom 23.02.2005,B 2 U 409/04 B). Dabei kommt es nicht auf die Betrachtungsweise einer spezifisch juristisch geschulten Person an. Vielmehr ist darauf abzustellen, ob ein urteilsfähiger unvoreingenommener Bürger, der die Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände verständig nachvollzieht, mit Gewissheit zu dem Ergebnis kommen muss, dass ein besonders schwerwiegender Fehler des Verwaltungsakts vorliegt (vgl. BSG, Urteil vom 07.09.2006, B 4 RA 43/05 R).

Die §§ 40 Abs. 2 SGB X bzw. 44 Abs. 2 VwVfG enthalten eine abschließende Aufzählung von Nichtigkeitsgründen. Liegen diese Fehler vor, ist ungeachtet von Kenntnis, Erkennbarkeit oder materieller Richtigkeit der Verwaltungsakt nichtig.

Nach § 40 Abs. 2 SGB X ist ein Verwaltungsakt stets nichtig

  1. wenn er schriftlich oder elektronisch erlassen worden ist, die erlassende Behörde aber nicht erkennen lässt,
  2. wenn er nach einer Rechtsvorschrift nur durch die Aushändigung einer Urkunde erlassen werden kann, aber dieser Form nicht genügt,
  3. wenn ihn aus tatsächlichen Gründen niemand ausführen kann,
  4. wenn er die Begehung einer rechtswidrigen Tat verlangt, die einen Straf- oder Bußgeldtatbestand verwirklicht,
  5. wenn er gegen die guten Sitten verstößt.

Zu Abs. 2 Nr. 1 ist zu bemerken, dass der Verwaltungsakt die erlassende Behörde nicht ausdrücklich bezeichnen muss, er muss sie lediglich erkennen lassen (BSG, Urteil vom 23.06.1994, 12 RK 82/92 = SozR 3-1300 § 40 Nr. 2). Sie muss aber aus dem Bescheid selbst ersichtlich sein. Andernfalls ist der Verwaltungsakt nichtig.

Abs. 2 Nr. 2 - unterlassene Aushändigung einer Urkunde - hat im Sozialrecht praktisch keine Bedeutung; denn unter diese Vorschrift fallen nur konstitutive Urkunden, wie z. B. die Ernennungsurkunde für die Begründung eines Beamtenverhältnisses. Die als Rechtsfolge eines Verwaltungsaktes zu Legitimations- oder Beweiszwecken auszustellenden Urkunden, z.B. des Schwerbehindertenausweises nach § 69 Abs. 5 SGB IX auf Grund der Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft, oder der Krankenversichertenkarte nach § 291 SGB V, fallen nicht unter diese Regelung, da sie keine konstitutive Bedeutung haben.

Abs. 2 Nr. 3 - Unausführbarkeit aus tatsächlichen Gründen - kommt hauptsächlich bei der durch Verwaltungsakt angeordneten Verpflichtung zur Vornahme oder Unterlassung von Handlungen in Betracht, wie sie für die Ordnungsverwaltung typisch sind. Zur Nichtigkeit führt nur die objektive Unmöglichkeit für jedermann. Das subjektive Unvermögen oder die Unzumutbarkeit begründet keine Nichtigkeit nach Abs. 2 Nr. 3.

Die §§ 40 Abs. 3 SGB X bzw. 44 Abs. 3 VwVfG enthalten einen so genannten Negativkatalog, der typisiert diejenigen Fälle umfasst, bei denen nach dem Willen des Gesetzgebers der Verwaltungsakt - trotz eines erheblichen Mangels - nicht nichtig sein soll (BSG, Urteil vom 28.09.1993, 1 RR 3/92).Daraus folgt, dass bei derart fehlerhaften rechtswidrigen Verwaltungsakten entweder nach § 41 SGB X bzw. § 45 VwVfG eine Heilung der Fehler eintreten kann oder diese nach § 42 SGB X bzw. § 46 VwVfG sogar unbeachtlich sind und der Bestand des Verwaltungsaktes dadurch bestätigt wird.

Ein Verwaltungsakt ist nach § 40 Abs. 3 SGB X, § 44 Abs. 3 VwVfG nicht schon deshalb nichtig, weil

  1. Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit nicht eingehalten worden sind,
  2. eine nach § 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 bis 6 SGB X bzw. § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 bis 6 VwVfG ausgeschlossene Person mitgewirkt hat (das sind Angehörige eines Beteiligten; gesetzliche oder bevollmächtigte Vertreter oder als Beistand im Verfahren beigezogene Personen; Angehörige einer Person, welche einen Beteiligten in diesem Verfahren vertreten; bei einem Beteiligten gegen Entgelt beschäftigte oder bei ihm als Mitglied des Vorstandes, des Aufsichtsrats oder eines gleichartigen Organs tätige Personen sowie Personen, welche außerhalb ihrer amtlichen Eigenschaft in der Angelegenheit ein Gutachten abgegeben haben oder sonst tätig geworden sind),
  3. ein durch Rechtsvorschrift zur Mitwirkung berufener Ausschuss den für den Erlass des Verwaltungsaktes vorgeschriebenen Beschluss nicht gefasst hat oder nicht beschlussfähig war (der Mangel kann nach § 41 SGB X bzw. § 45 VwVfG geheilt werden),
  4. die nach einer Rechtsvorschrift erforderliche Mitwirkung einer anderen Behörde unterblieben ist (Heilung ist durch Nachholung gemäß § 41 SGB X bzw. § 45 VwVfG möglich).

Zu Abs. 3 Nr. 1 ist zu bemerken, dass sich daraus, dass der Verstoß gegen die örtliche Zuständigkeit kein absoluter Nichtigkeitsgrund ist, nicht schließen lässt, dass der Verstoß gegen die sachliche Zuständigkeit immer ein Nichtigkeitsgrund ist (vgl. BSG, Urteil vom 09.06.1999, B 6 KA 76/97 R, SozR 3-1300 § 40 Nr. 5). Die Verletzung einer nur behördenintern wirksamen Zuständigkeitsregelung führt weder zur Nichtigkeit noch zur Anfechtbarkeit. Auch die Verletzung funktioneller Zuständigkeiten mit Außenwirkung (Widerspruchsbehörde entscheidet anstelle der Ausgangsbehörde) führt nicht zur Nichtigkeit (vgl. Haufe Onlinekommentar Rz. 24 zu § 40 SGB X).

In den §§ 40 Abs. 4 SGB X bzw. 44 Abs. 4 VwVfG wird die Teilnichtigkeit von Verwaltungsakten in bewusster Umkehr zu § 139 BGB geregelt. § 139 BGB lautet: „Ist ein Teil eines Rechtsgeschäfts nichtig, so ist das ganze Rechtsgeschäft nichtig, wenn nicht anzunehmen ist, dass es auch ohne den nichtigen Teil vorgenommen sein würde.“ Demgegenüber ist nach §§ 40 Abs. 4 SGB X bzw. 44 Abs. 4 VwVfG bei einem nur teilweise nichtigen Verwaltungsakt dieser insgesamt nur dann nichtig, wenn der nichtige Teil so wesentlich ist, dass die Behörde den Verwaltungsakt insgesamt nicht erlassen hätte. Dies soll nach der Begründung (BT-Drs. 7/910 S. 65) darin seine Rechtfertigung haben, dass der Bestand des nicht nichtigen Teils erhalten bleiben soll. Eine Teilnichtigkeit ist nur möglich, wenn der Verwaltungsakt seinem Inhalt nach teilbar ist.

Die Feststellung der Nichtigkeit ist in den §§ 40 Abs. 5 SGB X bzw. 44 Abs. 4 VwVfG geregelt. Die Behörde kann die Nichtigkeit jederzeit von Amts wegen feststellen; auf Antrag ist sie festzustellen, wenn der Antragsteller hieran ein berechtigtes Interesse hat. Da nach § 39 Abs. 3 SGB X bzw. § 43 Abs. 3 VwVfG ein nichtiger Verwaltungsakt unwirksam ist, kann formelle Bestandskraft nicht eintreten, so dass keine Fristen für die behördliche Feststellung oder den Antrag auf Feststellung der Nichtigkeit eingehalten werden müssen. Ungeachtet der Möglichkeit, bei der Behörde die Rücknahme oder die Feststellung der Nichtigkeit durch Verwaltungsakt zu beantragen, ist eine Klage auf Feststellung der Nichtigkeit des Verwaltungsaktes zulässig (BSG, Urteil vom 23.02.1989, 11/7 Rar 103/87 = SozR-1500 § 55 Nr. 35). Es ist dem Bürger nicht zuzumuten, nach Erlass des nichtigen Verwaltungsaktes zwingend erneut erst die Behörde anzurufen (BSG, a.a.O.).

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3.5.2 Berichtigung offenbarer Unrichtigkeiten

Wenn der Verwaltungsakt offenbare Unrichtigkeiten, z. B. Schreib- oder Rechenfehler enthält, kann er von der Behörde jederzeit berichtigt werden (§ 38 SGB X, § 42 VwVfG). Die Voraussetzungen über die Rücknahme und den Widerruf eines Verwaltungsaktes (§§ 44 ff. SGB X, 48 f. VwVfG) müssen dafür nicht vorliegen.

Die Vorschrift erfasst nur die Beseitigung und Berichtigung von Unrichtigkeiten in schriftlichen, elektronischen oder schriftlich bestätigten Verwaltungsakten. Die Berichtigung ist dabei sowohl im Verfügungssatz als auch in der Begründung und grundsätzlich auch in der Rechtsbehelfsbelehrung möglich, wobei bei einer Berichtigung der Rechtsbehelfsbelehrung die Auswirkungen auf die Rechtsbehelfsfrist zu beachten sind. Die Berichtigung stellt die Übereinstimmung des Textes mit dem erkennbar im Verwaltungsakt Gewollten her.

Die Grenze der Berichtigung gegenüber der Rücknahme oder des Widerrufs von Verwaltungsakten wird dadurch gezogen, dass die Unrichtigkeit offenbar sein muss, also leicht erkennbar ist. Dazu ist, bei objektiver Betrachtung allein auf den Verwaltungsakt selbst und auf die den Beteiligten beidseitig bekannten tatsächlichen Umstände und den Zusammenhang seiner Bekanntgabe abzustellen. Da Verfügungssatz, Sachverhalt und Begründung in Wechselbeziehung stehen, ist darauf abzustellen, ob der Verfügungssatz von Sachverhalt und Begründung erkennbar getragen wird, oder aber der Verfügungssatz sich nach Sachverhalt und Begründung als offenbar nicht richtig und gewollt darstellt. Insbesondere wenn sich Widersprüchlichkeiten im Verwaltungsakt befinden, ist eine Unrichtigkeit offenkundig, wenn sie für einen verständigen, aber nicht fachkundigen, objektiven Dritten aus dem Verwaltungsakt erkennbar ist. Bei Rechenfehlern, die im Verfügungssatz zu einem falschen Betrag führen, ist Offenkundigkeit nur dann anzunehmen, wenn sich der Rechenvorgang mit den Ausgangswerten aus dem Bescheid oder aus Anlagen dazu ergibt, so dass der Fehler durch Nachrechnen zu erkennen ist, oder wenn der ausgewiesene Betrag erkennbar so weit von dem gesetzlich möglichen Anspruch abweicht, dass sich ein Fehler aufdrängen muss. Dabei ist auf einen verständigen Leser des Verwaltungsaktes abzustellen (vgl. BSG, Urteil v. 31.5.1990,8 RKn 22/88 und Haufe Onlinekommentar Rz. 8 zu § 38 SGB X). Da nur offenbare Unrichtigkeiten berichtigt werden dürfen, muss sich bereits aus der Auslegung des zu berichtigenden (unrichtigen) Verwaltungsaktes das wirklich Gewollte ergeben.

Die Behörde kann die Berichtigung ohne zeitliche Begrenzung oder Befristung jederzeit vornehmen, insbesondere auch nach Bestandskraft und nach Ablauf von sonstigen Aufhebungsfristen. Die Berichtigung kann von Amts wegen nach Entdeckung der Unrichtigkeit oder auf Anregung der Beteiligten vorgenommen werden. Sie kann „zu Gunsten oder zu Lasten" des Betroffenen erfolgen.

Auch Beteiligte des Verwaltungsverfahrens können die Berichtigung verlangen, wenn dazu ein berechtigtes Interesse besteht (§ 38 S. 2 SGB X, § 42 S. 2 VwVfG). Ein berechtigtes Interesse besteht nicht nur dann, wenn es sich rechtlich begründen lässt, sondern schon dann, wenn ein wirtschaftliches oder ideelles Interesse dargelegt wird. Ein berechtigtes Interesse ist gegeben, wenn dies z.B. bei falscher Schreibweise des Namens oder unrichtigem Geburtsdatum wegen der damit verbundenen Identifikationsfunktion erforderlich ist, der Bescheid mit seinem Inhalt einer anderen Behörde vorgelegt werden soll oder wenn sonst die Befürchtung besteht, dass sich der Fehler auch in der Folgezeit fortschreiben oder z.B. ein unrichtiger Zahlbetrag eines Anspruchs für andere Leistungen nachteilig auswirken kann. Würde z. B. der Zahlbetrag eines Blindengeldes nach einem Landesblindengeldgesetz im Bescheid auf Grund eines Rechen- oder Schreibfehlers höher angegeben sein als die tatsächliche Leistung, könnte das zu einer niedrigeren ergänzenden Blindenhilfe nach § 72 SGB XII führen, wenn die falsch angegebene Höhe der Anrechnung des Landesblindengeldes nach § 72 Abs. 1 S. 1 zu Grunde gelegt würde.

Wenn der geltend gemachte Anspruch auf Berichtigung von der Behörde abgelehnt wird, stellt dies nicht die Ablehnung eines Verwaltungsaktes dar, so dass die allgemeine Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG, § 43 Abs. 2 VwGO) auf Verpflichtung zur Berichtigung unmittelbar zulässig und bei einem berechtigten Interesse auch begründet ist.

Wenn durch die Berichtigung eine im ursprünglichen Verwaltungsakt enthaltene Zahlungsverpflichtung, z.B. auf eine Sozialleistung, zu niedrig angesetzt war und nicht in der richtigen Höhe erbracht worden ist, führt die Berichtigung zu einem Nachzahlungsanspruch. Wenn die Leistung zu hoch angesetzt war und zu hoch erbracht worden ist, richtet sich die Erstattungspflicht nach § 50 SGB X bzw. § 49a VwVfG. Sie ist durch einen Verwaltungsakt festzusetzen.

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3.5.3 Heilung von Verfahrens- und Formfehlern

Sofern ein Verwaltungsakt nicht nach § 40 SGB X nichtig ist, können Verfahrens- oder Formfehler in den in § 41 SGB X bzw. § 45 VwVfG aufgeführten Fällen geheilt werden. Diese Regelungen werden durch § 42 SGB X bzw. § 46 VwVfG ergänzt, wonach die dort angesprochenen Form- oder Verfahrensfehler nicht zu einer Aufhebung des Verwaltungsaktes führen, wenn diese offensichtlich den Verwaltungsakt in der Sache nicht beeinflusst hatten. Die §§ 41 und 42 SGB X bzw. 45 und 46 VwVfG befreien also die Behörden unter bestimmten Voraussetzungen von der Pflicht, trotz geschehener Verfahrensfehler ein neues fehlerfreies Verwaltungsverfahren durchzuführen und einen neuen Verwaltungsakt zu erlassen (BSG, Beschluss vom 06.10.1994, GS 1/91 = SozR 3-1300 § 41 Nr. 7). Den Regelungen liegt der Gedanke zu Grunde, dass das materielle Recht Vorrang vor dem formellen Recht haben soll.

Verfahrens- oder Formfehler sind nach § 41 Abs. 1 SGB X, § 45 Abs. 1 VwVfG unbeachtlich, wenn

  1. der für den Erlass des Verwaltungsaktes erforderliche Antrag nachträglich gestellt wird,
  2. die erforderliche Begründung nachträglich gegeben wird,
  3. die erforderliche Anhörung eines Beteiligten nachgeholt wird,
  4. der Beschluss eines Ausschusses, dessen Mitwirkung für den Erlass des Verwaltungsaktes erforderlich ist, nachträglich gefasst wird,
  5. die erforderliche Mitwirkung einer anderen Behörde nachgeholt wird,
  6. die erforderliche Hinzuziehung eines Beteiligten nachgeholt wird.

Die hier aufgeführten Mängel für sich können nicht zur Nichtigkeit des Verwaltungsaktes nach § 40 SGB X bzw. § 45 VwVfG führen. Wenn der Verfahrensfehler wirksam geheilt worden ist, schließt dies eine Aufhebung des Verwaltungsaktes wegen des dann unbeachtlichen früheren Fehlers bei Erlass des Verwaltungsaktes aus.

Wenn eine Heilung nicht oder nicht wirksam nachgeholt worden ist, kann ein Form- oder Verfahrensfehler aber immer noch nach § 42 SGB X bzw. § 46 VwVfG wegen der inhaltlichen Richtigkeit des Verwaltungsaktes unbeachtlich und der Anspruch auf seine Aufhebung deshalb ausgeschlossen sein.

Heilende Wirkung kann ein nachgeholter Antrag (§ 41 Abs. 1 Nr. 1 SGB X bzw. § 45 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) nur für das Antragserfordernis als solches haben. Waren für die Antragstellung Fristen einzuhalten, heilt eine nachgeholte Antragstellung eine Fristversäumnis nicht. Ob die Versäumung der Frist unbeachtlich ist, bestimmt sich nach den Grundsätzen der Wiedereinsetzung (§ 27 SGB X, bzw. § 32 VwVfG) und ist gegebenenfalls anlässlich der Nachholung einer Antragstellung zu prüfen.

Für die Nachholung der unterbliebenen Anhörung (§ 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X bzw. § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG) genügt es, dass dem Betroffenen z. B. im Widerspruchsverfahren oder auch noch während des Gerichtsverfahrens durch die Verwaltungsbehörde Gelegenheit zur Äußerung eingeräumt wird. Ob er sich äußert oder nicht ist unerheblich. Wenn die Anhörung im Gerichtsverfahren nachgeholt werden soll, ist das Verfahren dafür auszusetzen.

Die Mitwirkung eines Ausschusses oder einer anderen Behörde (§ 41 Abs. 1 Nrn. 4 und 5 SGB X bzw. § 45 Abs. 1 Nrn. 4 und 5 VwVfG) muss gesetzlich vorgeschrieben sein. Innerdienstliche Anordnungen oder durch Verwaltungsvorschrift vorgeschriebene Beteiligung anderer Stellen oder Behörden stellen keine notwendige Mitwirkung dar, so dass in solchen Fällen kein Mangel vorliegt. Geheilt werden können neben den Fällen der vollständigen Nichtmitwirkung auch Mängel in der Mitwirkungshandlung der anderen Behörde (z.B. bei erkannter Beschlussunfähigkeit oder Mitwirkung einer an sich ausgeschlossenen Person).

Wegen Einzelheiten zu den Nummern 1 bis 6 wird wegen ihrer Komplexität auf die Kommentarliteratur verwiesen.

Die fehlenden Handlungen können bis zur letzten Tatsacheninstanz eines sozial- oder verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, also auch im Berufungsverfahren, dagegen nicht mehr im Revisionsverfahren, nachgeholt werden (§ 41 Abs. 2 SGB X, § 45 Abs. 2 VwVfG). Das führt dazu, dass die Verwaltung noch bis zu diesem Zeitpunkt Gründe für ihre Entscheidung nachschieben kann, bei deren Kenntnis möglicherweise überhaupt keine Klage erhoben worden wäre.

Wenn einem Verwaltungsakt die erforderliche Begründung fehlt oder wenn die erforderliche Anhörung eines Beteiligten vor Erlass des Verwaltungsaktes unterblieben ist und dadurch die rechtzeitige Anfechtung des Verwaltungsaktes versäumt wurde, gilt die Versäumung der Rechtsbehelfsfrist als nicht verschuldet (§ 41 Abs. 3 SGB X, § 45 Abs. 3 VwVfG). Das bedeutet, dass Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden muss. Die Anfechtung kann dann noch vorgenommen werden. Das für die Wiedereinsetzungsfrist maßgebende Ereignis tritt im Zeitpunkt der Nachholung der unterlassenen Verfahrenshandlung, also der Begründung oder Anhörung ein (§ 41 Abs. 3 S. 2 SGB X, § 45 Abs. 3 S. 2 VwVfG).

Der Antrag auf Wiedereinsetzung ist innerhalb von einem Monat (§ 67 Abs. 2 SGG bei Zuständigkeit der Sozialgerichte) bzw. 2 Wochen (§ 60 Abs. 2 VwGO bei Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte - z.B. Wohngeld, BAföG) zu stellen, und auch die versäumte Handlung (Einlegung des Rechtsbehelfs) ist innerhalb dieser Frist nachzuholen. Nach Ablauf eines Jahres, soweit dies nicht wegen höherer Gewalt unmöglich war, ist weder Wiedereinsetzung noch die Nachholung des Rechtsbehelfs möglich.

Ergänzend zu § 41 SGB X bzw. § 45 VwVfG sind, wie bereits bemerkt, § 42 SGB X bzw. § 46 VwVfG zu beachten. Die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht nach § 40 SGB X bzw. § 44 VwVfG nichtig ist, kann nach diesen Bestimmungen nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat (§ 42 S. 1 SGB X, § 46 VwVfG). Das gilt nach § 42 S. 2 SGB X allerdings nicht, wenn die erforderliche Anhörung unterblieben oder nicht wirksam nachgeholt ist.

Die Konsequenz aus den §§ 42 SGB X bzw. 46 VwVfG ist, dass wenn ein Verfahrensmangel unbeachtlich ist, weil keine andere Sachentscheidung rechtlich zulässig war, also zur ergangenen Entscheidung keine alternative Entscheidung ergehen konnte, oder der Form- oder Verfahrensfehler den konkreten Verwaltungsakt nicht beeinflusst hatte, der Verwaltungsakt zwar mit Form- oder Verfahrensfehlern behaftet ist. Der materiell rechtmäßige, d.h. richtige Verwaltungsakt mit seinem Verfügungssatz bleibt jedoch bestehen. Der Betroffene wird dadurch nicht in materiellen subjektiven Rechten verletzt. Widerspruch und Anfechtungsklage sind deshalb als unbegründet abzuweisen.

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3.5.4 Umdeutung eines fehlerhaften Verwaltungsaktes

In sehr engen Grenzen ist nach § 43 SGB X bzw. § 47 VwVfG eine Heilung durch Umdeutung eines fehlerhaften Verwaltungsaktes möglich. Diese Vorschriften haben ebenso wie die §§ 41 und 42 SGB X bzw. 45 und 46 VwVfG den Zweck, einen an sich fehlerhaften Verwaltungsakt zu erhalten und im Ergebnis zur Wirksamkeit zu verhelfen. Größere Bedeutung haben die Vorschriften in der Verwaltungspraxis bisher nicht erlangt.

Ein fehlerhafter Verwaltungsakt kann nach § 43 Abs. 1 SGB X, § 47 Abs. 1 VwVfG in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind.

Die Umdeutung nach § 43 SGB X bzw. 47 VwVfG muss durch eine Erklärung vorgenommen werden. Sie kann nur von der Behörde erklärt werden, nicht vom Betroffenen. Sie geschieht durch einseitige Erklärung der Behörde, mit der diese den neuen Inhalt des Verwaltungsaktes dem oder den Betroffenen mitteilt. Unter ihr ist die mit Rückwirkung auf den Ausgangsbescheid vorgenommene nachträgliche Änderung und Ersetzung eines rechtsfehlerhaften Verwaltungsaktes zu verstehen. Sie bezieht sich im Ergebnis auf den Erhalt eines fehlerhaften Verwaltungsaktes, wobei dieser durch die Umdeutung einen anderen rechtlich möglichen materiellen Inhalt erhält. Dies schließt ein, dass nicht nur der Verfügungssatz, sondern auch die Rechtsgrundlage und die Begründung ausgewechselt werden können. Anders als die Auslegung, die nur den schon ursprünglich gewollten Inhalt feststellt, das Nachschieben von Gründen, die nur die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes stützen sollen, und die Beseitigung offenbarer Unrichtigkeiten, hat die Umdeutung im Ergebnis einen gänzlich anderen Verwaltungsakt zur Folge. Lediglich das Ergebnis ist für den Betroffenen gleich oder weniger belastend. Umstritten ist, ob die Erklärung der Umdeutung selbst wieder ein förmlicher Verwaltungsakt oder ob sie ein deklaratorischer Akt ist. Dazu vgl. Haufe Onlinekommentar Rz. 6 zu § 43 SGB X. Für die Umdeutung bestehen keine zeitlichen Grenzen, so dass sie auch noch im Widerspruchs- oder Klageverfahren erklärt werden kann, dessen Streitgegenstand der der Umdeutung zu Grunde liegende Ausgangsbescheid ist.

Schranken für die Zulässigkeit einer Umdeutung enthalten § 43 Abs. 2 und 3 SGB X bzw. § 47 Abs. 2 und 3 VwVfG.

Eine Umdeutung ist nach § 43 Abs. 2 S. 1 SGB X, § 47 Abs. 2 S. 1 VwVfG nicht möglich, wenn der Verwaltungsakt, in den der fehlerhafte Verwaltungsakt umzudeuten wäre, der erkennbaren Absicht der erlassenden Behörde widerspräche oder seine Rechtsfolgen für den Betroffenen ungünstiger wären als die des fehlerhaften Verwaltungsaktes. Eine weitere Voraussetzung für die Zulässigkeit der Umdeutung ist, dass der fehlerhafte Verwaltungsakt hätte zurückgenommen werden können (§ 43 Abs. 2 S. 2 SGB X, § 47 Abs. 2 S. 2 VwVfG).

Eine Entscheidung, bei welcher die Behörde kein Ermessen hatte (gesetzlich gebundene Entscheidung) kann nicht in eine Ermessensentscheidung umgedeutet werden (§ 43, Abs. 3 SGB X, § 47 Abs. 3 VwVfG). Diese Einschränkung gilt auch für den Fall, dass die Behörde beim ursprünglich erlassenen Verwaltungsakt fälschlicherweise annahm, kein Ermessen zu haben und deshalb keine Ermessenserwägungen angestellt hat. Eine fehlende Ermessensentscheidung soll, das ist der Sinn dieser Bestimmungen, nicht durch Umdeutung nachgeholt werden können.

Nach § 43 Abs. 4 SGB X ist § 24 SGB X und nach § 47 Abs. 4 VwVfG § 28 VwVfG entsprechend anzuwenden. Das bedeutet, dass außer in den Fällen, in welchen nach § 24 SGB X bzw. 28 VwVfG keine Anhörung erforderlich ist, vor der Erklärung der Umdeutung eine Anhörung durchgeführt werden muss. Bei der Anhörung muss die Behörde ihre Umdeutungsabsicht, den Inhalt und die Begründung des sich aus der Umdeutung ergebenden Verwaltungsaktes darlegen (Haufe Onlinekommentar Rz. 20 zu § 43 SGB X).

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3.5.5 Rücknahme, Widerruf oder Aufhebung von Verwaltungsakten

Aus § 39 Abs. 2 SGB X bzw. § 43 Abs. 2 VwVfG ergibt sich, dass ein Verwaltungsakt wirksam bleibt, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Rücknahme von Verwaltungsakten möglich ist, ist in den §§ 44 bis 49 SGB X bzw. 48 bis 52 VwVfG geregelt.

Zu unterscheiden ist, ob es sich um einen rechtswidrigen oder rechtmäßigen Verwaltungsakt handelt, ob durch diesen Verwaltungsakt der Betroffene begünstigt oder belastet wird und ob es sich um einen Verwaltungsakt mit oder ohne Dauerwirkung handelt. Für Verwaltungsakte mit Dauerwirkung erhebt sich weiter die Frage, inwieweit eine Aufhebung oder Anpassung selbst eines ursprünglich rechtmäßigen Verwaltungsaktes möglich ist, wenn sich die Voraussetzungen später geändert haben.

Die Rücknahme von Verwaltungsakten spielt in der Praxis für das Blindengeld nach den Landesblindengeldgesetzen bzw. die Blindenhilfe nach § 72 SGB XII eine große Rolle. Die mit der Aufhebung von Blindengeldbescheiden zusammenhängenden Fragen werden in Heft 06 dieser Schriftenreihe im Abschnitt 5.2.5.6 „mögliche Aufhebungsbescheide und ihre Wirkung“ ausführlich behandelt. Auf die dortigen Ausführungen wird verwiesen.

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3.5.5.1 Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes

Die Rücknahme rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakte ist in § 44 SGB X geregelt. Dieser Vorschrift entspricht § 48 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 bis 5 VwVfG. Diese Regelungen durchbrechen den Grundsatz der Bestandskraft unanfechtbarer rechtswidriger Entscheidungen zugunsten der Betroffenen und eröffnen dadurch die ständige und wiederholte Überprüfung belastender Entscheidungen. Ziel dieser Regelungen ist die Auflösung der Konfliktsituation zwischen der Bindungswirkung eines unrichtigen Verwaltungsaktes und der materiellen Gerechtigkeit zugunsten der Letzteren (BSG, Urteil vom 28.05.1997, 14/10 RKg 25/95 = SozR 3-1300 § 44 Nr. 21).

Die Überprüfung kommt in aller Regel durch einen entsprechenden Antrag des Betroffenen zustande. Ein solcher Antrag ist ohne zeitliche Befristung möglich.

Für die §§ 44 SGB X, 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG spielt es keine Rolle, ob es sich um einen Verwaltungsakt mit oder ohne Dauerwirkung handelt. Der Verwaltungsakt muss jedoch schon bei seinem Erlass rechtswidrig sein. Es muss sich um belastende Verwaltungsakte handeln. Wenn ein Verwaltungsakt sowohl belastende als auch begünstigende Elemente hat, die in einen belastenden und einen begünstigenden Teil aufgespaltet werden können (z.B. Teilablehnung eines Leistungsantrages), kann jedes Element getrennt behandelt werden (Haufe Onlinekommentar Rz. 4 zu § 44 SGB X).

Gemäß § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X ist soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Sonderregeln in Spezialgesetzen, welche die Rückwirkung einschränken, sind zu beachten. Die rechtliche Unrichtigkeit kann sich auch durch eine klarstellende Rechtsauslegung durch die Rechtsprechung ergeben. Eine tatsächliche Unrichtigkeit kann darauf beruhen, dass Tatsachen bekannt werden, die beim Erlass des Verwaltungsaktes unbekannt waren und deshalb zur unrichtigen Entscheidung geführt haben. Auch auf Grund von z.B. medizinischen Gutachten kann sich erweisen, dass der Entscheidung ein unrichtiger Sachverhalt zu Grunde gelegt worden war. Das wäre z.B. der Fall, wenn eine Behörde den Antrag auf Gewährung von Blindengeld nach einem Landesblindengeldgesetz abgelehnt hat, weil sie nach den ihr bekannten Tatsachen davon ausgegangen ist, dass Blindheit nicht vorlag. Wenn nun durch ein medizinisches Gutachten nachgewiesen werden kann, dass zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits Blindheit vorlag, wäre der ablehnende Bescheid aufzuheben und rückwirkend Blindengeld zu gewähren.

Wenn ein Anspruch auf Überprüfung im Zusammenhang mit Sozialleistungen oder Beiträgen geltend gemacht wird, ist die Behörde zur Überprüfung der früheren Entscheidung verpflichtet. Ein solcher Überprüfungsantrag kann auch in einem verfristeten Widerspruch liegen. Eine solche Auslegung kommt insbesondere dann in Betracht, wenn die Widerspruchsfrist erheblich überschritten wurde oder ohne Verwendung des Wortes „Widerspruch" um Überprüfung des Verwaltungsaktes gebeten wird (Haufe Onlinekommentar Rz. 19 zu § 44 SGB X).

Auf Grund von § 44 Abs. 1 S. 2 SGB X ist der Leistungsträger befugt, die Aufhebung nur mit Wirkung für die Zukunft vorzunehmen, wenn der Betroffene vorsätzlich unrichtige oder unvollständige Angaben gemacht hat, auf denen der unrichtige Verwaltungsakt beruht. Fahrlässigkeit (auch gröbste) reicht nicht aus. In diesen Fällen beruht der fehlerhafte Verwaltungsakt auf von dem Betroffenen selbst gesetzten Ursachen, so dass sich das spätere Überprüfungsverlangen als widersprüchliches Verhalten darstellt. Der Vorsatz braucht nicht gezielt gewesen zu sein, es genügt die innere Billigung einer möglichen Unvollständigkeit oder Unrichtigkeit der Angaben. Er muss sich lediglich auf die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit von gemachten Angaben beziehen, das Unterlassen von Angaben wird man dann als ausreichend anzusehen haben, wenn dazu eine Rechtspflicht bestand (Haufe Onlinekommentar Rz. 21 zu § 44 SGB X). Da jedoch in § 44 Abs. 1 S. 2 SGB X eine rückwirkende Rücknahme nicht ausgeschlossen ist, kann die Behörde als Ermessensentscheidung auch in diesen Fällen den Bescheid mit Wirkung für die Vergangenheit zurücknehmen.

Der Anspruch aus § 44 Abs. 1 SGB X ist vom so genannten „sozialrechtlichen Herstellungsanspruch“ zu unterscheiden. Der Unterschied liegt darin, dass sich § 44 nur auf die Beseitigung der Folgen von Verletzungen sozialrechtlicher Hauptpflichten bezieht, welche im Erlass rechtswidriger Verwaltungsakte und die hierdurch unterlassene Gewährung von Sozialleistungen besteht, während der auf richterrechtlicher Rechtsfortbildung beruhende sozialrechtliche Herstellungsanspruch solche Folgen zu kompensieren sucht, die sich aus der Verletzung sozialrechtlicher Nebenpflichten, wie z.B. eine unzutreffende oder gänzlich unterbliebene Beratung, ergeben (zum sozialrechtlichen Herstellungsanspruch vgl. 3.5.6). § 44 gibt einen Anspruch auf Beseitigung rechtswidriger Verwaltungsakte und rückwirkende Gewährung von Sozialleistungen (mit zeitlicher Einschränkung) auch dann, wenn diese bereits bestandskräftig geworden sind. Durch den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch wird der Bürger so gestellt, als ob die Behörde auch ihre Nebenpflichten ordnungsgemäß erfüllt hätte.

Für andere Verwaltungsakte als die in § 44 Abs. 1 SGB X behandelten, also für Verwaltungsakte welche sich nicht auf zu Unrecht nicht erbrachte Sozialleistungen oder zu Unrecht erhobene Beiträge beziehen, gilt nach § 44 Abs. 2 S. 1 SGB X, dass ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen ist. Auch hierbei muss es sich um ursprünglich schon rechtswidrige nicht begünstigende Verwaltungsakte handeln. Darunter fallen in erster Linie Entscheidungen, die einen Antrag (der nicht unmittelbar auf Leistungen gerichtet ist) zur Gestaltung oder Begründung eines Sozialrechtsverhältnisses abgelehnt hatten, z.B. beantragte Befreiungen von einer Versicherungspflicht oder Zulassung zur Versicherungspflicht, beantragte Zulassung zur Nachentrichtung von Beiträgen in der Rentenversicherung oder deren Erstattung. Auch sonstige feststellende Verwaltungsakte, wie z.B. der Schwerbehindertenstatus sind überprüfbar und bei Rechtswidrigkeit mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Der Verwaltungsakt kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Das steht jedoch im Ermessen der Behörde.

Über die Rücknahme entscheidet nach Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes die zuständige Behörde; dies gilt auch dann, wenn der zurückzunehmende Verwaltungsakt nicht von ihr, sondern von einer anderen Behörde erlassen worden ist (§ 44 Abs. 3 SGB X).

Wenn ein Verwaltungsakt, mit welchem Sozialleistungen zu unrecht versagt wurden, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden ist, werden diese Sozialleistungen entsprechend den für sie geltenden gesetzlichen Bestimmungen längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht (§ 44 Abs. 4 SGB X). Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Wenn die Rücknahme auf Antrag erfolgt, wird die Vierjahresfrist von Beginn des Jahres an gerechnet, in welchem der Antrag gestellt worden ist. Die Dauer des Verwaltungsverfahrens wirkt sich dadurch nicht nachteilig für den Antragsteller aus. Bei einem Bescheid, mit welchem rechtswidrig eine Sozialleistung abgelehnt worden ist, ist es deshalb auch wenn der Bescheid wegen Fristablauf nicht mehr angefochten werden kann, sinnvoll einen Antrag auf Rücknahme des rechtswidrigen Bescheides zu stellen.

Beispiel aus Haufe Onlinekommentar Rz. 33 zu § 44 SGB X: „Erfolgt der Antrag am 30.12.2006, werden Sozialleistungen ab dem 1.1.2002 erstattet. Wird der Bescheid ohne Antrag am 30.12.2007 bekannt gegeben, erfolgt die rückwirkende Leistungsgewährung ab dem 1.1.2003.“

Im VwVfG ist die Rücknahme rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakte in § 48 Abs. 1 S. 1 und nicht wie im SGB X in einem eigenen § geregelt. Nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

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3.5.5.2 Rücknahme rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte

Die Hürden für die Rücknahme rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte sind wesentlich höher. Die Voraussetzungen sind in § 45 SGB X bzw. § 48 Abs. 1 S. 2 VwVfG geregelt. Zu unterscheiden ist zwischen Verwaltungsakten mit und ohne Dauerwirkung. Begünstigend ist ein Verwaltungsakt, welcher ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt.

Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nach § 45 Abs. 2 SGB X, § 48 Abs. 2 VwVfG nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit

  1. er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat,
  2. der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder
  3. er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.

Für rechtswidrige begünstigende Verwaltungsakte mit Dauerwirkung werden die Voraussetzungen in § 45 Abs. 3 SGB X geregelt. Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung kann nach den in § 45 Absatz 2 SGB X aufgestellten Voraussetzungen danach in der Regel nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden. Eine zeitliche Beschränkung gilt nicht, wenn Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 der Zivilprozessordnung vorliegen. Diese Gründe liegen vor:

  1. wenn der Gegner durch Beeidigung einer Aussage, auf die das Urteil gegründet ist, sich einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Verletzung der Eidespflicht schuldig gemacht hat;
  2. wenn eine Urkunde, auf die das Urteil gegründet ist, fälschlich angefertigt oder verfälscht war;
  3. wenn bei einem Zeugnis oder Gutachten, auf welches das Urteil gegründet ist, der Zeuge oder Sachverständige sich einer strafbaren Verletzung der Wahrheitspflicht schuldig gemacht hat;
  4. wenn das Urteil von dem Vertreter der Partei oder von dem Gegner oder dessen Vertreter durch eine in Beziehung auf den Rechtsstreit verübte Straftat erwirkt ist;
  5. wenn ein Richter bei dem Urteil mitgewirkt hat, der sich in Beziehung auf den Rechtsstreit einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten gegen die Partei schuldig gemacht hat;
  6. wenn das Urteil eines ordentlichen Gerichts, eines früheren Sondergerichts oder eines Verwaltungsgerichts, auf welches das Urteil gegründet ist, durch ein anderes rechtskräftiges Urteil aufgehoben ist;
  7. wenn die Partei ein in derselben Sache erlassenes, früher rechtskräftig gewordenes Urteil odereine andere Urkunde auffindet oder zu benutzen in den Stand gesetzt wird, die eine ihr günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würde;
  8. wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht.

Bis zum Ablauf von zehn Jahren nach seiner Bekanntgabe kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung zurückgenommen werden, wenn

  1. die Voraussetzungen des § 45 Absatz 2 Satz 3 Nr. 2 oder 3 SGB X gegeben sind oder
  2. der Verwaltungsakt mit einem zulässigen Vorbehalt des Widerrufs erlassen wurde.

Die Voraussetzungen des § 45 Absatz 2 S. 3 Nr. 2 oder 3 SGB X sind gegeben wenn:

  • der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder
  • er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte.

Selbst nach Ablauf der Frist von 10 Jahren können solche Verwaltungsakte über laufende Geldleistungen zurückgenommen werden, wenn diese Geldleistung mindestens bis zum Beginn des Verwaltungsverfahrens über die Rücknahme gezahlt wurde.

Nach § 45 Abs. 4 SGB X wird der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit nur in den Fällen von § 45 Absatz 2 Satz 3 und Absatz 3 Satz 2 zurückgenommen. Das ist der Fall, wenn der Begünstigte den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat, der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat oder er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte bzw. Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 der Zivilprozessordnung vorliegen.

Die Behörde kann nach § 45 Abs. 4 SGB X nur innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen, die Rückwirkung anordnen.

Eine Regelung mit entsprechend unterschiedlichen Fristen wie in § 45 Abs. 3 SGB X enthält das VwVfG nicht. Wenn die Behörde von Tatsachen Kenntnis erhält, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes rechtfertigen, so ist nach § 48 Abs. 4 S. 1 VwVfG die Rücknahme nur innerhalb eines Jahres seit dem Zeitpunkt der Kenntnisnahme zulässig. Dies gilt nicht im Falle des Absatzes 2 S. 3 Nr. 1 VwVfG, d. h. wenn der Betroffene den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat (§ 48 Abs. 4 S. 2 VwVfG). In diesem Fall gilt keine Befristung.

Für Verwaltungsakte mit Dauerwirkung erhebt sich außer den in § 45 SGB X geregelten Fällen die Frage, inwieweit eine Aufhebung oder ein Widerruf möglich ist, wenn sich nach Erlass die tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse geändert haben. Das wird in § 48 SGB X geregelt. Vgl. dazu 3.5.5.5.

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3.5.5.3 Widerruf eines rechtmäßigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes

Der Widerruf eines rechtmäßigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes ist in § 46 SGB X bzw. § 49 Abs. 1 VwVfG geregelt. Es ist gleichgültig, ob es sich um einen Verwaltungsakt mit oder ohne Dauerwirkung handelt. Ein rechtmäßiger nicht begünstigender Verwaltungsakt kann, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden, außer wenn ein Verwaltungsakt gleichen Inhalts erneut erlassen werden müsste oder aus anderen Gründen ein Widerruf unzulässig ist (§ 46 Abs. 1 SGB X, § 49 Abs. 1 VwVfG).

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3.5.5.4 Widerruf eines rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsaktes

Wenn es sich um einen rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsakt (egal ob mit oder ohne Dauerwirkung) handelt, so ist gemäß § 47 SGB X bzw. § 49 Abs. 2 ff. VwVfG der Widerruf nur beschränkt möglich. § 47 Abs. 1 SGB X lautet:

„Ein rechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakt darf, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft nur widerrufen werden, soweit

  1. der Widerruf durch Rechtsvorschrift zugelassen oder im Verwaltungsakt vorbehalten ist,
  2. mit dem Verwaltungsakt eine Auflage verbunden ist und der Begünstigte diese nicht oder nicht innerhalb einer ihm gesetzten Frist erfüllt hat.“

In § 49 Abs. 2 VwVfG sind darüber hinaus unter den Ziffern 3 bis 5 noch genannt:

  1. wenn die Behörde auf Grund nachträglich eingetretener Tatsachen berechtigt wäre, den Verwaltungsakt nicht zu erlassen, und wenn ohne den Widerruf das öffentliche Interesse gefährdet würde;
  2. wenn die Behörde auf Grund einer geänderten Rechtsvorschrift berechtigt wäre, den Verwaltungsakt nicht zu erlassen, soweit der Begünstigte von der Vergünstigung noch keinen Gebrauch gemacht oder auf Grund des Verwaltungsaktes noch keine Leistungen empfangen hat, und wenn ohne den Widerruf das öffentliche Interesse gefährdet würde;
  3. um schwere Nachteile für das Gemeinwohl zu verhüten oder zu beseitigen.

Ein Widerruf auch mit Wirkung für die Vergangenheit ist gemäß § 47 Abs. 2 Satz 1 SGB X bzw. § 49 Abs. 3 VwVfG möglich bei einem rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsakt, der eine Geld- oder Sachleistung zur Erfüllung eines bestimmten Zweckes zuerkennt oder hierfür Voraussetzung ist, wenn

  1. die Leistung nicht, nicht alsbald nach der Erbringung oder nicht mehr für den in dem Verwaltungsakt bestimmten Zweck verwendet wird,
  2. mit dem Verwaltungsakt eine Auflage verbunden ist und der Begünstigte diese nicht oder nicht innerhalb einer ihm gesetzten Frist erfüllt hat.

Blindengeldleistungen fallen nicht unter diese Regelung, denn sie dienen zwar dem Ausgleich blindheitsbedingter Mehraufwendungen, sind aber nicht gezielt auf die „Erfüllung eines bestimmten Zweckes" im Sinne dieser Vorschrift ausgerichtet.

In den Fällen des § 47 Abs. 2 S. 1 SGB X darf der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit nicht widerrufen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einem Widerruf schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit er die Umstände kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte, die zum Widerruf des Verwaltungsaktes geführt haben (§ 47 Abs. 2 S. 2 bis 4).

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3.5.5.5 Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung bei Änderung der Verhältnisse

Die Aufhebung eines Verwaltungsaktes bei Änderung der Verhältnisse ist in § 48 SGB X geregelt. Diese Bestimmung spielt im Blindengeldrecht eine Rolle, wenn sich z. B. durch eine Operation das Sehvermögen so gebessert hat, dass kein Anspruch auf Blindengeld mehr besteht oder wenn ein Blinder wegen eingetretener Pflegebedürftigkeit auf das Blindengeld anzurechnende Leistungen nach den §§ 36 ff SGB XI erhält bzw. in eine stationäre Einrichtung aufgenommen wurde.

Nach § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt.

Nach § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X ist eine rückwirkende Aufhebung möglich. Der Verwaltungsakt soll nämlich bereits mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit

  1. die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt,
  2. der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist, z. B. die Besserung seines Sehvermögens nicht mitgeteilt hat,
  3. nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde, was bei der Blindenhilfe nach § 72 SGB XII möglich sein kann, oder
  4. der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maß verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist.

Als Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse gilt gemäß § 48 Abs. 1 S. 3 SGB X in Fällen, in denen Einkommen oder Vermögen auf einen zurückliegenden Zeitraum anzurechnen ist (Fall des § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 2), der Beginn des Anrechnungszeitraumes.

Nach § 48 Abs. 2 SGB X ist der Verwaltungsakt im Einzelfall mit Wirkung für die Zukunft auch dann aufzuheben, wenn der zuständige oberste Gerichtshof des Bundes in ständiger Rechtsprechung nachträglich das Recht anders auslegt als es die Behörde bei Erlass des Verwaltungsaktes getan hat und sich die geänderte Rechtsprechung zugunsten des Berechtigten auswirkt. § 44 bleibt unberührt. D. h., dass die Regelungen des § 44 über die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes vorrangig anzuwenden sind. Zu den Regelungen nach § 44 SGB X siehe oben 3.5.5.1.

§ 48 Abs. 3 SGB X bezieht sich auf rechtswidrige begünstigende Verwaltungsakte mit Dauerwirkung. Er behandelt den Fall, dass ein solcher Verwaltungsakt nach § 45 SGB X nicht zurückgenommen werden kann (dazu siehe oben 3.5.5.2), nunmehr aber eine Änderung zugunsten des Betroffenen durch Änderung der Gesetzeslage oder der Rechtsprechung des Obersten Gerichts eingetreten ist. § 48 SGB X ergänzt gewissermaßen die Regelungen für rechtswidrige begünstigende Verwaltungsakte in § 45 Abs. 3 SGB X. Eine Änderung der Gesetzeslage ist z. B. die Erhöhung einer Sozialleistung.

Beispiel: A. erhält Blindengeld nach einem Landesblindengeldgesetz obwohl sein Sehvermögen zu hoch war. Der Entscheidung lag ein unrichtiges Gutachten zu Grunde. A. wusste das nicht und konnte es auch nicht wissen. Ein Widerruf der Genehmigung ist nach § 45 SGB X und nach § 48 Abs. 1 und 2 SGB X ausgeschlossen. Wird nun das Blindengeld erhöht, so kommt diese Erhöhung A. nicht zu Gute. Sein Blindengeld bleibt eingefroren.

Zu beachten ist in den Fällen des § 48 SGB X die Verweisung in Abs. 4 auf § 44 Abs. 3 und 4 sowie § 45 Abs. 3 S. 3 bis 5 und Abs. 4 S. 2 SGB X.

§ 44 Abs. 3 SGB X regelt die Zuständigkeit der Behörde. Nach § 44 Abs. 4 SGB X, werden Sozialleistungen nach den für sie geltenden Vorschriften längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht, wenn ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden ist. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Wenn die Rücknahme auf Antrag erfolgt, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, an die Stelle der Rücknahme der Antrag.

Die Verweisung auf § 45 Abs. 3 S. 3 bis 5 sowie auf § 45 Abs. 4 SGB X bedeutet, dass, wenn die Aufhebung für die Vergangenheit erfolgt, die dort genannten Fristen zu beachten sind. Der Grund für diese Regelung besteht darin, dass der ursprünglich rechtmäßige Verwaltungsakt zu dem Zeitpunkt der Änderung rechtswidrig geworden ist und in diesen Fällen ab diesem Zeitpunkt kein Vertrauensschutz mehr geboten ist. Die Verweisung auf § 45 Abs. 3 S. 3 bedeutet, dass 10 Jahre nach der wesentlichen Änderung eine Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit ausgeschlossen ist, wenn sich das zu Ungunsten des Berechtigten auswirkt. Nach § 45, Abs. 3 S. 4 SGB X kann ein Verwaltungsakt über eine laufende Geldleistung jedoch auch nach Ablauf der Frist von zehn Jahren zurückgenommen werden, wenn diese Geldleistung mindestens bis zum Beginn des Verwaltungsverfahrens über die Rücknahme gezahlt wurde und einer der Fälle von § 45 Abs. 3 S. 3 vorliegt. Das ist der Fall, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte bzw. der Verwaltungsakt mit einem zulässigen Vorbehalt des Widerrufs erlassen wurde.

Aus der Verweisung in § 48 Abs. 4 auf § 45 Abs. 4 S. 2 ergibt sich, dass die Behörde innerhalb eines Jahres, seit sie Kenntnis über die Tatsachen hat, entscheiden muss, ob die Aufhebung in den Fällen, in welchen nach § 48 Abs. 1 S. 2 eine rückwirkende Aufhebung möglich ist, erfolgen soll oder nicht.

Wird aufgrund besonderer Umstände oder weil die Fristen nach § 45 Abs. 3 S. 3 - 5 und Abs. 4 S. 2 überschritten sind, der Verwaltungsakt nicht rückwirkend aufgehoben oder abgeändert, muss dies mit Wirkung für die Zukunft erfolgen.

Erläuternde Beispielfälle aus dem Blindengeldrecht sind in Heft 06 dieser Schriftenreihe in Abschn. 5.2.5.6.2 und 5.2.5.6.3 enthalten.

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3.5.6 Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch

Der so genannte „sozialrechtliche Herstellungsanspruch“ wurde von der Rechtsprechung entwickelt. Er ist vom Anspruch auf die Rücknahme rechtswidriger belastender Verwaltungsakte aus § 44 Abs. 1 SGB X zu unterscheiden (vgl. dazu 3.5.5.1). Während sich der Anspruch aus § 44 Abs. 1 SGB X auf die Beseitigung der Folgen von Verletzungen sozialrechtlicher Hauptpflichten bezieht, welche im Erlass rechtswidriger Verwaltungsakte und die hierdurch unterlassene Gewährung von Sozialleistungen besteht, werden durch den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch solche Folgen kompensiert, die sich aus der Verletzung sozialrechtlicher Nebenpflichten, wie z.B. unzutreffende oder gänzlich unterbliebene Beratung, ergeben. § 44 gibt einen Anspruch auf Beseitigung rechtswidriger Verwaltungsakte und rückwirkende Gewährung von Sozialleistungen (mit zeitlicher Einschränkung) auch dann, wenn diese bereits bestandskräftig geworden sind. Durch den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch wird der Bürger so gestellt, als ob die Behörde auch ihre Nebenpflichten ordnungsgemäß erfüllt hätte, also eine richtige Beratung erfolgt wäre. Der Betroffene kann dann die rechtlichen Handlungen vornehmen, die er vorgenommen hätte, wenn er richtig beraten worden wäre. Er kann z.B. unterlassene Anträge nachholen oder Rechtsbehelfe einlegen.

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3.6 Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen

Nach § 50 Abs. 1 SGB X sind, soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist, bereits erbrachte Leistungen zu erstatten. Sach- und Dienstleistungen sind in Geld zu erstatten. Für das VwVfG vgl. § 49a Abs. 1. Zur Aufhebung von Verwaltungsakte vgl. die Abschnitte unter 3.5.

Nach § 50 Abs. 2 SGB X sind Leistungen, welche ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht worden sind, zu erstatten. Die §§ 45 und 48 SGB X gelten entsprechend.

Nach § 49a VwVfG ist der zu erstattende Betrag vom Eintritt der Unwirksamkeit des Verwaltungsaktes an mit fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz jährlich zu verzinsen. Von der Geltendmachung des Zinsanspruchs kann insbesondere dann abgesehen werden, wenn der Begünstigte die Umstände, die zur Rücknahme, zum Widerruf oder zur Unwirksamkeit des Verwaltungsaktes geführt haben, nicht zu vertreten hat und den zu erstattenden Betrag innerhalb der von der Behörde festgesetzten Frist leistet.

Eine ähnliche Vorschrift über die Verzinsung enthält § 50 Abs. 2a SGB X. Die Verzinsungspflicht besteht hier aber nur, wenn es sich um Leistungen zur Förderung von Einrichtungen oder ähnliche Leistungen handelt.

Die zu erstattende Leistung ist durch schriftlichen Verwaltungsakt festzusetzen. Die Festsetzung soll, sofern die Leistung auf Grund eines Verwaltungsakts erbracht worden ist, mit der Aufhebung des Verwaltungsakts verbunden werden (§ 50 Abs. 3 SGB X, § 49a Abs. 1 S. 2 VwVfG).

Nach § 49a VwVfG gelten für den Umfang der Erstattung mit Ausnahme der Verzinsung die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs über die Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung (§§ 812 ff BGB) entsprechend. Auf den Wegfall der Bereicherung kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit er die Umstände kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte, die zur Rücknahme, zum Widerruf oder zur Unwirksamkeit des Verwaltungsaktes geführt haben.

Nach § 50 Abs. 4 SGB X verjährt der Erstattungsanspruch in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem der Verwaltungsakt nach § 50 Absatz 3 SGB X unanfechtbar geworden ist. Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß. § 52 bleibt unberührt. Das bedeutet, dass ein Verwaltungsakt, der zur Feststellung oder Durchsetzung des Anspruchs eines öffentlich-rechtlichen Rechtsträgers erlassen wird, die Verjährung dieses Anspruchs hemmt. Die Hemmung endet mit Eintritt der Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts oder sechs Monate nach seiner anderweitigen Erledigung.

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3.7 Verjährungsrechtliche Wirkungen des Verwaltungsaktes

Die Verjährung von Ansprüchen richtet sich, soweit im SGB nichts anderes bestimmt ist, nach den Vorschriften des BGB.

Nach § 52 Abs. 1 SGB X hemmt ein Verwaltungsakt, der zur Feststellung oder Durchsetzung des Anspruchs eines öffentlich-rechtlichen Rechtsträgers erlassen wird, die Verjährung dieses Anspruchs. Die Hemmung endet mit Eintritt der Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts oder sechs Monate nach seiner anderweitigen Erledigung. Wenn ein Verwaltungsakt, der zur Feststellung oder Durchsetzung des Anspruchs eines öffentlich-rechtlichen Rechtsträgers erlassen wird, unanfechtbar geworden ist, beträgt die Verjährungsfrist 30 Jahre (§ 52 Abs. 2 SGB X).

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3.8 Das Vorverfahren

Das Vorverfahren (Widerspruchsverfahren) ist für den Bereich des Sozialgesetzbuches in den §§ 62 f. Sozialgesetzbuch zehntes Buch (SGB X) i.V.m. §§ 78 ff. Sozialgerichtsgesetz (SGG) und für den Bereich der inneren Verwaltung in den §§ 79 f. Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) bzw. den entsprechenden Bestimmungen der Verwaltungsverfahrensgesetze der Länder i.V.m. §§ 68 bis 73 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) geregelt.

Das SGB X ist für die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit aller Behörden, die ihre Tätigkeit nach dem SGB ausüben, einschlägig. Das ist in den meisten Fällen, mit denen es die Blindenselbsthilfeorganisationen in ihrer Beratungs- und Vertretungstätigkeit zu tun haben, der Fall. Als Beispiele seien genannt: Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft, Ausstattung mit Hilfsmitteln durch die gesetzlichen Krankenkassen oder die Sozialhilfeträger, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, Leistungen zur medizinischen, beruflichen oder sozialen Rehabilitation, Rentenangelegenheiten nach dem SGB VI, Entschädigungsleistungen bei Unfällen nach dem SGB VII, Leistungen bei Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI und Verfahren um das Blindengeld nach einem Landesblindengeldgesetz, in welchem auf das SGB X verwiesen wird oder der Blindenhilfe nach § 72 SGB XII.

Daraus, dass sich das Verwaltungsverfahren nach dem SGB X richtet, ergibt sich aber noch nicht, ob sich das Widerspruchsverfahren nach dem SGG oder nach der VwGO richtet. In § 62 SGB X wird klargestellt, dass für förmliche Rechtsbehelfe gegen Verwaltungsakte das Sozialgerichtsgesetz gilt, wenn der Sozialrechtsweg gegeben ist. Ob das der Fall ist, ergibt sich entweder aus § 51 Sozialgerichtsgesetz (SGG) oder aus einer ausdrücklichen Zuweisung in einem Gesetz. Wenn die Zuständigkeit der Sozialgerichtsbarkeit nicht auf diese Weise festgelegt ist, ist der Verwaltungsrechtsweg zu den Verwaltungsgerichten gegeben. Für das förmliche Rechtsbehelfsverfahren und das Gerichtsverfahren gelten dann die Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und die zu ihrer Ausführung ergangenen Rechtsvorschriften. Aber auch in diesen Fällen gelten ergänzend die Bestimmungen des SGB X, wenn dieses gilt und in der VwGO keine Regelung vorgenommen worden ist. Das trifft z.B. auf die Landesblindengeldgesetze zu, welche zwar auf das SGB X, nicht aber auf das SGG verweisen.

Vor Erhebung der Anfechtungsklage (§ 78 Abs. 1 S. 1 SGG bzw. § 68 Abs. 1 VwGO) oder der Verpflichtungsklage als Ablehnungsgegenklage (§ 78 Abs. 3 SGG bzw. § 68 Abs. 2 VwGO) ist - soweit das Gesetz darauf nicht ausdrücklich verzichtet - ein Vorverfahren erforderlich. So ist nach § 78 Abs. 1 S. 2 SGG z.B. kein Vorverfahren erforderlich, wenn der Verwaltungsakt von einer obersten Bundesbehörde, einer obersten Landesbehörde oder von dem Vorstand der Bundesagentur für Arbeit erlassen worden ist oder dies in einem Gesetz ausdrücklich bestimmt wird. Eine entsprechende Regelung enthält § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO. Zu den Klagearten vgl. 4.2.2.

Gegenstand des Widerspruchsverfahrens ist stets ein Verwaltungsakt. Zum Begriff des Verwaltungsaktes vgl. 3.2.1. Der Verwaltungsakt ist von anderen, ebenfalls individuellen öffentlich-rechtlichen Maßnahmen, nämlich dem Realakt, dem öffentlich-rechtlichen Vertrag und sonstigen öffentlich-rechtlichen Willenserklärungen abzugrenzen. In diesen Fällen wäre ein Widerspruch unzulässig. Ein Realakt liegt vor, wenn die Behörde dem Betroffenen gegenüber ohne Regelungswillen tätig wird. Zu den Realakten gehören behördliche Wissenserklärungen, wie Auskünfte (z.B. nach § 15 SGB I über soziale Angelegenheiten nach dem SGB), Hinweise (z.B. nach § 115 Abs. 6 S. 1 SGB VI), wonach die Träger der Rentenversicherung die Berechtigten in geeigneten Fällen darauf hinweisen sollen, dass sie eine Leistung erhalten können, wenn sie diese beantragen) und Ratschläge (z.B. nach § 14 SGB I, wonach jeder Anspruch auf Beratung über seine Rechte und Pflichten nach dem Sozialgesetzbuch durch den jeweiligen Sozialleistungsträger hat) ebenso wie Handlungen zur Ausführung eines Verwaltungsakts (z.B. die Auszahlung des Blindengeldes auf Grund der Bewilligung) oder zur Ausführung von rechtlich zulässigen Verfügungen außerhalb des Machtbereichs der Behörde, etwa die Umsetzung der (teilweisen) Abtretung einer Leistung durch den Leistungsberechtigten (§ 53 Abs. 2 und 3 SGB I). Erfolgt z.B. die Auszahlung des Blindengeldes verspätet, wäre dagegen kein Widerspruch zulässig. In Frage käme gegebenenfalls die allgemeine Leistungsklage.

Für die Zulässigkeit eines Widerspruchs genügt es, wenn die Handlung einer Behörde in der Form eines Verwaltungsaktes ergeht (so genannter formaler Verwaltungsakt), obwohl tatsächlich keine hoheitliche Einzelfallregelung vorgenommen wird.

Die Vorschriften über das Vorverfahren nach den §§ 78 ff. SGG und 68 ff. VwGO entsprechen sich weitgehend.

Das Vorverfahren (Widerspruchsverfahren) nimmt eine Zwischenstellung zwischen (allgemeinem) Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess ein, da es zwar einerseits innerhalb der Verwaltung durchgeführt wird, andererseits aber eine Sachentscheidungsvoraussetzung für das gerichtliche Verfahren bei den oben genannten Klagearten darstellt. Das Vorverfahren nach diesen Bestimmungen gehört als wesentlicher Teil der Selbstkontrolle der Verwaltung mit zum Verwaltungsverfahren; denn dieses wird erst mit einem etwaigen Widerspruchsbescheid abgeschlossen. Gegenstand der Klage ist der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat.

Als förmlicher Rechtsbehelf ist das Widerspruchsverfahren an strikte formale Vorgaben gebunden. Durch das Vorverfahren soll die Verwaltung in die Lage versetzt werden, ihre Entscheidung im Wege der Selbstkontrolle zu überprüfen. Im Vorverfahren hat die zuständige Verwaltung die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts und bei einem unter Ausübung von Ermessen ergangenen Verwaltungsakt auch dessen Zweckmäßigkeit nachzuprüfen. Der Rechtsschutz des Bürgers wird durch das Vorverfahren dadurch verbessert, dass dieses bei Ermessensentscheidungen auch die Möglichkeit der Überprüfung der Zweckmäßigkeit in vollem Umfange bietet. Das ist bei der gerichtlichen Überprüfung von Ermessensentscheidungen nicht der Fall; denn diese beschränkt sich auf die Überprüfung von Ermessensfehlern, aber nicht auf die Zweckmäßigkeit des Verwaltungsaktes. Das Gericht kann nicht sein Ermessen an die Stelle des Ermessens der den Verwaltungsakt erlassenden Stelle setzen. Bei Ermessensentscheidungen erfolgt, wenn die Klage begründet ist, also ein Ermessensfehler vorliegt, deshalb nur eine Verurteilung zur erneuten Entscheidung durch die beklagte Stelle unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts. Schließlich werden die Gerichte durch die Filterwirkung des Vorverfahrens entlastet.

Das Vorverfahren beginnt mit der Erhebung des Widerspruchs (§ 83 SGG, § 69 VwGO). Auf die Bezeichnung als „Widerspruch“ kommt es nicht an. Entscheidend ist, dass zum Ausdruck gebracht wird, dass mit der behördlichen Entscheidung kein Einverständnis besteht. Der Widerspruch ist nach § 84 Abs. 1 SGG bzw. § 70 Abs. 1 VwGO binnen eines Monats, nachdem der Verwaltungsakt dem Beschwerten bekannt gegeben worden ist, schriftlich oder zur Niederschrift bei der Stelle zu erheben, die den Verwaltungsakt erlassen hat. Der Widerspruch kann aber auch in elektronischer Form erfolgen, da diese die Schriftform ersetzt (§ 36a Abs. 2 S. 1 SGB I). Das elektronische Dokument muss dann mit einer qualifizierten elektronischen Signatur nach dem Signaturgesetz versehen werden (§ 36a Abs. 2 S. 1 und 2 SGB I). Eine einfache E-Mail reicht dagegen nicht aus. In der Verkörperung als Schriftstück ist der Widerspruch zwar grundsätzlich bei der Stelle einzureichen, die den Verwaltungsakt erlassen hat, also bei der Ausgangsbehörde (§ 84 Abs. 1 S. 1 SGG). Um die Frist zur Erhebung des Widerspruchs zu wahren, lässt § 84 Abs. 2 Satz 1 SGG als Widerspruchsadressaten auch andere Verwaltungsstellen zu, die die Widerspruchsschrift unverzüglich der zuständigen Behörde zuleiten müssen (§ 84 Abs. 2 S. 2 SGG). Die Regelung in § 70 Abs. 1 S. 2 ist hier enger. Die Frist wird nach dieser Bestimmung lediglich auch durch Einlegung bei der Behörde, die den Widerspruchsbescheid zu erlassen hat, gewahrt.

Die Frist zur Einlegung des Widerspruchs beträgt nach § 84 Abs. 1 S. 2 SGG im sozialrechtlichen Widerspruchsverfahren bei Bekanntgabe im Ausland drei Monate. Die Fristen zur Einlegung des Widerspruchs beginnen allerdings nur zu laufen, wenn der Verwaltungsakt mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen war, in welcher über die Form, die Frist und die Stelle, bei welcher der Widerspruch einzulegen ist, in schriftlicher oder elektronischer Form informiert worden ist. Wenn diese Rechtsbehelfsbelehrung fehlt oder unrichtig ist, kann der Widerspruch innerhalb eines Jahres seit Bekanntgabe des Verwaltungsaktes eingelegt werden (§ 84 Abs. 2 SGG i.V.m. § 66 SGG bzw. § 70 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 58 VwGO. Selbst nach Ablauf eines Jahres kann nach diesen Bestimmungen der Widerspruch noch eingelegt werden, wenn das infolge höherer Gewalt innerhalb der Jahresfrist nicht möglich war oder die Rechtsbehelfsbelehrung dahin ergangen ist, dass kein Widerspruch eingelegt werden könne.

Wenn die Frist zur Einlegung des Widerspruchs wegen tatsächlicher Schwierigkeiten oder wegen Schwierigkeiten beim Nachweis der erforderlichen Tatsachen versäumt worden ist, ist dem Widerspruchsführer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 84 Abs. 2 S. 3 SGG i.V.m. § 67 SGG bzw. § 70 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 60 VwGO). Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand muss beantragt werden. Der Antrag ist bei Verfahren, die sich nach dem SGG richten, innerhalb eines Monats, bei Verfahren, die sich nach der VwGO richten, innerhalb von zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sollen glaubhaft gemacht werden. Die versäumte Handlung, also die Einlegung des Widerspruchs muss ebenfalls innerhalb dieser Monats- bzw. 2-Wochen-Frist nachgeholt werden (§ 67 Abs. 2 SGG bzw. § 60 Abs. 2 VwGO). Nach einem Jahr seit dem Ende der versäumten Frist ist der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unzulässig, außer wenn der Antrag vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war (§ 67 Abs. 3 SGG bzw. § 60 Abs. 3 VwGO).

Für den Beginn der Widerspruchsfrist ist gemäß § 84 Abs. 1 SGG bzw. 70 Abs. 1 VwGO die Bekanntgabe des Verwaltungsaktes maßgebend. Die Bekanntgabe richtet sich nach der Art der Übermittlung durch die Behörde. Übersendet die Behörde den Verwaltungsakt als Schriftstück per Post als einfachen Brief an einen Betroffenen im Inland, gilt er am dritten Tag nach Aufgabe zur Post als bekannt gegeben (§ 37 Abs. 2 S. 1 SGB X bzw. § 41 Abs. 2 S. 1 VwVfG). Erst wenn der Betroffene geltend macht, den Verwaltungsakt später oder gar nicht erhalten zu haben, gilt diese Fiktion nicht. In diesem Fall kommt es auf den tatsächlichen Zugang an. Dem Betroffenen hilft dabei die gesetzliche Umkehr der Beweislast: Im Zweifel muss die Behörde Zugang und Zeitpunkt des Zugangs beweisen (§ 37 Abs. 2 S. 2 SGB X bzw. § 41 Abs. 2 S. 2 VwVfG). Da es sich bei der gesetzlichen Festlegung des Bekanntgabezeitpunkts um eine widerlegbare gesetzliche Vermutung für den Beginn der Widerspruchsfrist und nicht um den Fristablauf handelt, spielt es keine Rolle, auf welchen Tag der fiktive Zugang fällt. Es kann auch ein Sonn- oder Feiertag sein.

Die Regelungen des § 37 Abs. 2 SGB X bzw. § 41 abs. 2 VwVfG und die vorstehenden Ausführungen dazu gelten auch für einen elektronisch übermittelten Verwaltungsakt. An die Stelle der Aufgabe zur Post tritt dabei die Absendung des Verwaltungsaktes.

Die Behörde kann den schriftlichen Verwaltungsakt aber auch nach dem Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) zustellen (§ 37 Abs. 5 SGB X bzw. § 41 Abs. 5 VwVfG). Dadurch lassen sich die Bekanntgabe und ihr Zeitpunkt besser beweisen. Die Bekanntgabe erfolgt gemäß einer der im VwZG vorgesehenen Formen (§ 2 Abs. 1 i.V.m. §§ 3 bis 5 und bei Zustellung im Ausland § 9 VwZG.). Die Fristberechnung erfolgt nach § 64 SGG. Die Frist beginnt am Tag nach der Bekanntgabe oder der Zustellung des Verwaltungsakts (§ 64 Abs. 1 SGG) und endet mit Ablauf des Tages, der im folgenden Monat (oder Jahr bei fehlender Rechtsbehelfsbelehrung gemäß § 66 Abs. 2 S. 1 SGG) nach seiner Zahl dem Tag der Bekanntgabe oder Zustellung (§ 64 Abs. 2 SGG) entspricht. Für die VwGO verweist § 57 Abs. 2 zur Fristberechnung auf die §§ 222, 224 Abs. 2 und 3, §§ 225 und 226 der Zivilprozessordnung.

Der Widerspruch soll unterzeichnet sein; da § 92 SGG selbst für die Klage keine Unterschrift fordert, reicht es erst recht für den Widerspruch aus, wenn sich aus ihm die Person des Widerspruchsführers und sein Wille hinreichend sicher bestimmen lassen (Haufe Onlinekommentar Rz. 7 zu § 62 SGB X).

Der Widerspruch hat in aller Regel aufschiebende Wirkung (§ 86a Abs. 1 SGG, § 80 Abs. 1 VwGO). Der Verwaltungsakt kann nicht vollzogen werden, sondern bleibt in einem Schwebezustand. Lautet z.B. der Verwaltungsakt auf Entziehung des Blindengeldes, so muss es wegen der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs zunächst weiterbezahlt werden. Die Behörde hat aber die Möglichkeit, den Sofortvollzug des Verwaltungsaktes einstweilen ganz oder teilweise durch das zuständige Gericht anordnen zu lassen (§ 86b Abs. 1 Nr. 1 und 3 SGG).

Gleichzeitig haben die Adressaten eines gemäß § 86a Abs. 2 SGG sofort vollziehbaren Verwaltungsaktes die Möglichkeit, durch das zuständige Gericht die aufschiebende Wirkung anordnen zu lassen (§ 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG; für die VwGO vgl. § 80 Abs. 5 und § 80a).

Auf den Widerspruch ist entweder ein Abhilfebescheid oder ein Widerspruchsbescheid zu erlassen (§ 85 SGG, bzw. §§ 72 und 73 VwGO). Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder abgelehnt hat, muss zunächst in jedem Falle prüfen, ob sie dem Widerspruch abhelfen will. Sie ist damit auch zur Überprüfung etwaigen neuen Vorbringens und ggf. auch zu neuen Ermittlungen verpflichtet.

Wenn dem Widerspruch nicht abgeholfen wird, ergeht ein Widerspruchsbescheid durch die dafür zuständige Stelle (§ 85 Abs. 2 SGG bzw. § 73 VwGO). Das ist in der Regel die nächsthöhere Stelle.

Wenn bei der Einlegung des Widerspruchs die Formvorschriften verletzt worden sind oder die Frist versäumt wurde, kann die Widerspruchsbehörde den Widerspruch als unzulässig durch Widerspruchsbescheid verwerfen. Sie kann aber auch den Widerspruch als unbegründet zurückweisen. Im letzteren Fall sind die Form- oder Fristverletzung dann als geheilt anzusehen (BVerwG, DVBl. 1972 S. 423 (Haufe Onlinekommentar Rz. 7 zu § 62 SGB X).

Bei einem unzulässigen Widerspruch kann im Begehren auf Änderung oder Aufhebung des Verwaltungsakts möglicherweise ein Antrag auf dessen Überprüfung gemäß § 44 SGB X liegen. Bei einer dementsprechenden Auslegung (entsprechend § 133 BGB) darf der Widerspruch nur mit Zustimmung des Widerspruchsführers als Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X behandelt werden.

Der Widerspruchsbescheid ist schriftlich zu erlassen, zu begründen und den Beteiligten bekanntzugeben (§ 85 Abs. 3 S. 1 SGG bzw. § 73 Abs. 3 S. 1 VwGO). Der Widerspruchsbescheid ist mit einer Rechtsbehelfsbelehrung zu versehen. Die Beteiligten sind in ihr über die Zulässigkeit der Klage, die einzuhaltende Frist und den Sitz des zuständigen Gerichts zu belehren (§ 85 Abs. 3 S. 4 SGG bzw. § 73 Abs. 3 S. 1 VwGO).

Es gilt grundsätzlich, dass eine Schlechterstellung des Widerspruchsführers (sog. reformatio in peius) durch die Widerspruchsentscheidung nicht zulässig ist. Der Widerspruchsführer braucht also in aller Regel keine Angst zu haben, dass die Widerspruchsentscheidung für ihn einen Nachteil bringen kann. Allerdings kann die Behörde eine Rücknahme, den Widerruf oder die Aufhebung des ursprünglich erlassenen Verwaltungsaktes nach den §§ 45, 47, 48 SGB X bzw. 48 ff. VwVfG vornehmen, soweit die Voraussetzungen dafür gegeben sind (Haufe Onlinekommentar Rz. 8 zu § 62 SGB X). Vgl. dazu Kapitel 3.5.5.

Soweit für das Widerspruchsverfahren nach den §§ 78 ff. SGG bzw. §§ 68 ff. VwGO keine Regelungen getroffen werden, bleiben für das Verfahren die Bestimmungen des SGB X bzw. des VwVfG anwendbar, da das Widerspruchsverfahren ja zum Verwaltungsverfahren gehört. Sie gelten ergänzend. Deshalb sind für das Vorverfahren die §§ 3 ff. SGB X bzw. §§ 4 ff. VwVfG oder die entsprechenden Bestimmungen der Verwaltungsverfahrensgesetze der Länder über das Amtshilfeverfahren sowie die §§ 8 ff. SGB X und 9 ff. VwVfG über das Verwaltungsverfahren grundsätzlich anzuwenden. Vgl. dazu im Einzelnen die Abschnitte 3.2 bis 3.7.

Anwendbar sind im Bereich des SGB X somit die Vorschriften über

  • die Verfahrensbeteiligten (§§ 10 ff. SGB X),
  • über Bevollmächtigte, Beistände und Vertreter (§§ 13 ff. SGB X),
  • die Ausschließung bestimmter Personen (§§ 16, 17 SGB X),
  • das Ermittlungsverfahren (Amtsermittlungsgrundsatz §§ 20 ff. SGB X) und die Rechte der beteiligten (rechtliches Gehör und Akteneinsicht gem. §§ 24, 25 SGB X),
  • Fristen und Termine (§ 26 SGB X),
  • Bestimmtheit und schriftliche Form des Verwaltungsaktes (§ 33 Abs. 1, 3 und 4 SGB X),
  • Berichtigung offenbarer Unrichtigkeiten (§ 38 SGB X),
  • bleibende Wirksamkeit des Verwaltungsaktes (§ 39 Abs. 2 SGB X),
  • Nichtigkeit des Verwaltungsaktes (§ 40 SGB X),
  • Heilung von Verfahrens- und Formfehlern i.S.v. § 41 Abs. 1 Nr. 2 bis 6 SGB X,

da diese noch im Gerichtsverfahren geheilt werden können. Vgl. dazu Haufe Onlinekommentar Rz. 11 zu § 62 SGB X.

Im Bereich des VwVfG sind die entsprechenden Bestimmungen:

  • Beteiligungsfähigkeit (§§ 10 ff),
  • Bevollmächtigte, Beistände und Vertreter (§§ 13 ff.),
  • Ausgeschlossene Personen (§§ 20 und 21),
  • das Ermittlungsverfahren und die Rechte der Beteiligten (§§ 23 bis 30),
  • Fristen und Termine (§ 31),
  • Bestimmtheit und schriftliche Form des Verwaltungsaktes (§ 37),
  • Berichtigung offenbarer Unrichtigkeiten (§ 42),
  • Wirksamkeit des Verwaltungsaktes (§ 43),
  • Nichtigkeit des Verwaltungsaktes (§ 44) und
  • Heilung von Verfahrens- und Formfehlern (§ 45).

Entsprechende Bestimmungen befinden sich in den Verwaltungsverfahrensgesetzen der Länder.

Ein Widerspruch ist begründet, wenn der angefochtene Verwaltungsakt rechtswidrig oder unzweckmäßig und der Widerspruchsführer dadurch beschwert ist.

Im Widerspruchsbescheid ist stets über die Kosten und darüber zu entscheiden, ob die Zuziehung eines Bevollmächtigten notwendig war (§ 63 SGB X bzw. § 80 VwVfG). Als gegenüber der Sachentscheidung selbstständige Regelungen sind Kosten- und Zuziehungsentscheidung isoliert durch Widerspruch anfechtbar.

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4. Gerichtlicher Rechtsschutz und seine Voraussetzungen

Art. 19 Abs. 4 GG garantiert verfassungsrechtlich gerichtlichen Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte. Zunächst wird ein Überblick über die Gerichtszweige, ihre Zuständigkeit und ihren Aufbau gegeben. Wie dieser Rechtsschutz in der Sozialgerichtsbarkeit und in der Verwaltungsgerichtsbarkeit ausgestaltet ist und welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, ist Gegenstand der folgenden Abschnitte.

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4.1 Überblick über die Rechtswege und ihre Zuständigkeiten

Da für die Durchsetzung materieller Rechtsansprüche der richtige Rechtsweg gegangen werden muss und die Notwendigkeit einer Vertretung vor Gericht sowie die Befugnis zur Übernahme der Vertretung in den verschiedenen Gerichtszweigen teilweise abweichend geregelt ist, wird im Folgenden, soweit dies zum Verständnis der Materie erforderlich ist, ein Überblick über die Gerichtszweige und ihre Zuständigkeit gegeben.

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4.1.1 Rechtsgrundlagen

Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist nach Art. 19 Abs. 4 S. 2 GG der ordentliche Rechtsweg gegeben. Die verfassungsrechtliche Grundlage des Gerichtswesens als der dritten Gewalt bildet der 9. Abschnitt des GG mit den Art. 92 bis 104. Hier und im Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) für die Zivil- und Strafgerichtsbarkeit und in den jeweiligen Prozess- bzw. Gerichtsordnungen sind die Organisation, die Zuständigkeit und das Verfahren geregelt. Das GVG enthält allgemeine Bestimmungen zur inneren Organisation von Gerichten und zum Ablauf von Verhandlungen vor Gerichten, welche nicht nur für die ordentliche, sondern auch für die Fachgerichtszweige gelten. Auf seine übergreifenden Regelungen über Öffentlichkeit und Sitzungspolizei verweisen z.B. ausdrücklich § 55 VwGO und § 61 SGG.

Zu unterscheiden sind nach Art. 95 Abs. 1 GG fünf Gerichtszweige, nämlich die ordentliche Gerichtsbarkeit, bestehend aus der Zivilgerichtsbarkeit und der Strafgerichtsbarkeit und die vier speziellen Gerichtszweige der Arbeitsgerichtsbarkeit, der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit, der Sozialgerichtsbarkeit und der Finanzgerichtsbarkeit, deren Gerichte auch als Fachgerichte bezeichnet werden.

Die einschlägigen Verfahrensgesetze sind für die Zivilgerichte die Zivilprozessordnung (ZPO), für die Strafgerichte die Strafprozessordnung (StPO), für die Arbeitsgerichte das Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG), für die Verwaltungsgerichte die Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), für die Sozialgerichte das Sozialgerichtsgesetz (SGG) und für die Finanzgerichte die Finanzgerichtsordnung (FGO). In diesen Gesetzen ist jeweils geregelt, welche Zuständigkeit für die einzelnen Gerichtszweige besteht, unter welchen Voraussetzungen ein Recht im Klageweg geltend gemacht werden kann, wann gegen ein erstinstanzliches Urteil ein Berufungsgericht angerufen werden kann und unter welchen Voraussetzungen eine rechtliche Überprüfung durch das jeweils zuständige Bundesgericht im Wege der Revision möglich ist.

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4.1.2 Überblick über die Zuständigkeit der Gerichtszweige

Die generelle sachliche Zuständigkeit der Zivilgerichte ergibt sich aus § 13 GVG. Vor die ordentlichen Gerichte gehören danach alle bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten und Strafsachen, für die nicht entweder die Zuständigkeit von Verwaltungsbehörden oder Verwaltungsgerichten begründet ist oder auf Grund von Vorschriften des Bundesrechts besondere Gerichte bestellt oder zugelassen sind. Für die Arbeitsgerichtsbarkeit ist die Zuständigkeit in § 2 ArbGG und für die Finanzgerichtsbarkeit in § 33 FGO geregelt. Die generelle Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten nicht verfassungsrechtlicher Art ergibt sich aus § 40 VwGO, während die Zuständigkeit der Sozialgerichte für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten aus dem Sozialrecht nach § 51 Abs. 1 SGG enumerativ festgelegt ist oder durch besondere gesetzliche Zuweisung erfolgen muss. Daneben sind die Sozialgerichte nach § 51 Abs. 2 SGG im engen Rahmen auch für privatrechtliche Streitigkeiten zuständig.

Die Sozialleistungsträger nach dem SGB sind Hoheitsträger. Sie sind nämlich Anstalten oder Körperschaften des öffentlichen Rechts. Streitsachen, welche die Gewährung einer Sozialleistung zum Gegenstand haben, sind daher grundsätzlich öffentlich-rechtlicher Art (Haufe Onlinekommentar Rz. 3 zu § 51 SGG).

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4.1.3 Aufbau der Gerichtszweige

Für die Gerichtszweige ergibt sich folgender Aufbau der Instanzen:

  • ordentliche Gerichtsbarkeit: Amtsgerichte, Landgerichte, Oberlandesgerichte, Bundesgerichtshof in Karlsruhe;
  • Arbeitsgerichtsbarkeit: Arbeitsgerichte, Landesarbeitsgerichte, Bundesarbeitsgericht in Erfurt;
  • Verwaltungsgerichtsbarkeit: Verwaltungsgerichte, Oberverwaltungsgerichte (in Baden-Württemberg, Bayern und Hessen als Verwaltungsgerichtshof bezeichnet), Bundesverwaltungsgericht in Leipzig;
  • Sozialgerichtsbarkeit: Sozialgerichte, Landessozialgerichte, Bundessozialgericht in Kassel und
  • Finanzgerichtsbarkeit: Finanzgerichte, Finanzgerichtshof in München.

Von diesen Gerichtszweigen unabhängig sind die ihrerseits jeweils selbständigen Verfassungsgerichte des Bundes und der Länder.

Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts mit Sitz in Karlsruhe ergibt sich aus Art. 93 GG. In Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG ist das Recht der Verfassungsbeschwerde verankert.

Vor dem Verfassungsgericht kann danach von jedermann nach Erschöpfung des Rechtsweges vor den übrigen Gerichten im Wege der Verfassungsbeschwerde eine verfassungsrechtliche Überprüfung mit der Behauptung erhoben werden, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Artikel 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 enthaltenen Rechte verletzt zu sein.

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4.1.4 Überblick über die Gerichtsinstanzen und die Gerichtsverfassung der Sozial- und Verwaltungsgerichtsbarkeit

Das Gerichtsverfahren ist in den für die einschlägigen Gerichtszweige bestehenden Verfahrensgesetzen und im Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) eingehend geregelt. Das Verfahren vor den Sozialgerichten richtet sich nach dem Sozialgerichtsgesetz (SGG), das vor den Verwaltungsgerichten nach der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Ergänzend wird in beiden Gerichtsordnungen auf zahlreiche Bestimmungen des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) und der Zivilprozessordnung (ZPO) verwiesen.

In der Regel stehen drei Instanzen zur Verfügung. Die funktionelle Zuständigkeit besagt, wofür die Gerichte innerhalb dieses Aufbaus zuständig sind. Zunächst erfolgt in der ersten Instanz eine tatsächliche und rechtliche Beurteilung des Rechtsstreits. Die Entscheidung der ersten Instanz wird in der zweiten Instanz, im Berufungsverfahren, sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht überprüft. In der dritten Instanz erfolgt im Revisionsverfahren nur noch eine rechtliche Überprüfung. Zum Aufbau der Gerichte vgl. auch 4.1.3.

Gesetzliche Richter der Sozialgerichtsbarkeit und der Verwaltungsgerichtsbarkeit sind Berufsrichter und ehrenamtliche Richter. Für die Sozialgerichtsbarkeit vgl. § 3 SGG. Sie bilden in unterschiedlicher Zusammensetzung die Spruchkörper der verschiedenen Instanzgerichte. Für jeden denkbaren Prozess muss vor dessen Rechtshängigkeit feststehen, welche Richter das jeweilige Verfahren führen. Dieses Prinzip beruht auf dem Verfassungsgebot des „gesetzlichen Richters" (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG). Die Mitwirkung ehrenamtlicher Richter ist in der Sozialgerichtsbarkeit wesentlich stärker ausgeprägt als in der Verwaltungsgerichtsbarkeit. So sind in der Sozialgerichtsbarkeit ehrenamtliche Richter in den Spruchkörpern aller drei Instanzen vertreten, in der Verwaltungsgerichtsbarkeit nur in den Kammern der Verwaltungsgerichte, soweit ihre Mitwirkung in den Oberverwaltungsgerichten nicht durch Landesgesetz bestimmt wird.

Eine Besonderheit der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist die mögliche Teilnahme eines Vertreters des öffentlichen Interesses (§§ 35 ff. VwGO). Die Bundesregierung bestellt nach § 35 Abs. 1 S.1 VwGO einen Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht und richtet ihn im Bundesministerium des Innern ein. Der Vertreter des Bundesinteresses kann sich an jedem Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht außer bei Verfahren vor den Wehrdienstsenaten beteiligen. Er ist an die Weisungen der Bundesregierung gebunden (§ 35 Abs. 1 S. 2 und 3 VwGO). Das Bundesverwaltungsgericht gibt dem Vertreter des Bundesinteresses Gelegenheit zur Äußerung (§ 35 Abs. 2 VwGO).

Bei den Verwaltungsgerichten und den Oberverwaltungsgerichten kann durch Rechtsverordnung der Landesregierungen ein Vertreter des öffentlichen Interesses bestimmt werden (§ 36 Abs. 1 S. 1 VwGO). Ihm kann allgemein oder für bestimmte Fälle die Vertretung des Landes oder von Landesbehörden übertragen werden (§ 36 Abs. 1 S. 2 VwGO). Ihm muss Gelegenheit zur Äußerung gegeben werden (§ 36 Abs. 2 i.V.m. § 35 Abs. 2 VwGO).

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4.2 Das Verfahren vor den Verwaltungs- und Sozialgerichten in erster Instanz

Für das Verfahren in erster Instanz sind die Sozial- bzw. Verwaltungsgerichte zuständig (§ 8 SGG bzw. § 45 VwGO). Die Regelungen für das Verfahren vor den Sozial- und Verwaltungsgerichten in erster Instanz gelten auch weitgehend für das Verfahren im Berufungs- und Revisionsverfahren (vgl. § 153 Abs. 1 SGG bzw. § 125 Abs. 1 VwGO für das Berufungsverfahren sowie § 165 S. 1 SGG bzw. § 141 S. 1 VwGO für das Revisionsverfahren). Deshalb sind die folgenden Ausführungen auch für das Verfahren dieser Instanzen zutreffend, soweit nicht Sonderregelungen eingreifen.

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4.2.1 Verhandlung und Entscheidung durch Kammern oder Einzelrichter

Nach § 10 SGG werden bei den Sozialgerichten fachliche Kammern, die sich an den verschiedenen Sachgebieten aus der Zuständigkeit dieses Gerichtszweiges orientieren, z.B. für Angelegenheiten der Sozialversicherung, der Arbeitsförderung einschließlich der übrigen Aufgaben der Bundesagentur für Arbeit, für Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitsuchende, für Angelegenheiten der Sozialhilfe und des Asylbewerberleistungsgesetzes sowie für Angelegenheiten des sozialen Entschädigungsrechts und des Schwerbehindertenrechts gebildet.

Die Kammern des Sozialgerichts sind nach § 12 Abs. 1 S. 1 mit einem Vorsitzenden und zwei ehrenamtlichen Richtern besetzt. Bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung und bei Gerichtsbescheiden wirken die ehrenamtlichen Richter nicht mit.

Die bei den Verwaltungsgerichten nach § 5 Abs. 2 VwGO zu bildenden Kammern sind mit drei Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern besetzt soweit nicht ein Einzelrichter entscheidet (§ 5 Abs. 3 VwGO). Bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung und bei Gerichtsbescheiden (§ 84 VwGO) wirken die ehrenamtlichen Richter nach § 5 Abs. 3 S. 2 VwGO nicht mit. Nach § 6 Abs. 1 VwGO soll die Kammer in der Regel den Rechtsstreit einem ihrer Mitglieder als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen, wenn

  1. die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und
  2. die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat.

Die Überweisung an den Einzelrichter, in der Regel den Berichterstatter, findet in der Praxis in der Mehrzahl der Fälle statt.

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4.2.2 Sachliche und örtliche Zuständigkeit der Sozial- und Verwaltungsgerichte

Die Sozialgerichte entscheiden nach § 8 SGG, soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist, im ersten Rechtszug über alle Streitigkeiten, für die der Rechtsweg vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit offen steht. Das sind im Wesentlichen die sich aus dem Sozialrecht ergebenden Ansprüche.

Die sachliche Zuständigkeit der Sozialgerichte ergibt sich aus den §§ 51 und 52 SGG. Sie ist für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten nicht verfassungsrechtlicher Art in § 51 Abs. 1 SGG detailliert aufgezählt. Dazu gehören z.B. die soziale Rentenversicherung (SGB VI), die gesetzliche Krankenversicherung (SGB V), die soziale und private Pflegeversicherung (SGB XI), die gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII), Angelegenheiten der Arbeitsförderung (SGB III), Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitslose (SGB II), das soziale Entschädigungsrecht (dazu gehören insbesondere die Kriegsopferentschädigung nach dem BVG, die Versorgung der Soldaten der Bundeswehr nach dem ZVG und der Zivildienstleistenden nach dem ZDG, die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten nach dem OEG und die Entschädigung von Impfschäden nach dem IfSG), Angelegenheiten der Sozialhilfe (SGB XII) und damit auch der Blindenhilfe nach § 72 SGB XII, Angelegenheiten des Asylbewerberleistungsgesetzes, das Schwerbehindertenrecht (Teil 2 des SGB IX), z.B. Feststellung des Grades der Behinderung (GdB), Feststellung der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen (z.B. erhebliche Gehbehinderung, außergewöhnliche Gehbehinderung, Notwendigkeit ständiger Begleitung, Hilflosigkeit, Blindheit)) und die durch sonstige Gesetze zugewiesene Zuständigkeit. Nach § 51a SGG kann durch Landesgesetz bestimmt werden, dass die Sozialgerichtsbarkeit in Angelegenheiten der Sozialhilfe und des Asylbewerberleistungsgesetzes und in Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitsuchende durch besondere Spruchkörper der Verwaltungsgerichte und der Oberverwaltungsgerichte ausgeübt wird. Das hängt damit zusammen, dass für diese Bereiche bis 2005 die Verwaltungsgerichtsbarkeit zuständig war.

Hinzuweisen ist darauf, dass die Sozialgerichte für Streitigkeiten mit einer privaten Krankenversicherung nicht zuständig sind. Hier verbleibt es deshalb bei der Zuständigkeit der Zivilgerichte. Dasselbe gilt für Streitigkeiten mit privaten Pflegeversicherungen, soweit diese nicht der Sozialgerichtsbarkeit unterliegen.

Für Rechtsstreitigkeiten über das Blindengeld enthalten folgende Landesgesetze eine Verweisung auf die Sozialgerichtsbarkeit: Bayern (Art. 7 Abs. 2), Niedersachsen (§ 9 Abs. 4), Saarland (§ 8 Abs. 3), Sachsen (§ 6 Abs. 2), Sachsen-Anhalt (§ 6 Abs. 3) und Thüringen (§ 6 Abs. 2). Da in diesen Gesetzen das Sozialgerichtsgesetz für anwendbar erklärt wird, ergibt sich die Zuständigkeit der Sozialgerichte gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 10 SGG.

Eine solche Zuständigkeitsregelung fehlt in den Landesblindengeldgesetzen von Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein. Für Streitigkeiten aus diesen Gesetzen sind deshalb die Verwaltungsgerichte zuständig. Dazu vgl. unten.

Nach § 51 Abs. 2 SGG sind die Sozialgerichte auch für privatrechtliche Streitigkeiten in Angelegenheiten der gesetzlichen Krankenversicherung, auch soweit durch diese Angelegenheiten Dritter betroffen werden, sowie für privatrechtliche Streitigkeiten im Bereich der sozialen und der privaten Pflegeversicherung (SGB XI) zuständig. Zu den Angelegenheiten der gesetzlichen Krankenversicherung gehören z.B. Streitigkeiten zwischen Krankenversicherungsträgern und Leistungserbringern im Gesundheitswesen. Für solche Streitigkeiten ist eine generelle Rechtswegzuweisung zu den Sozialgerichten erfolgt. Wenn z.B. eine Krankenkasse mit einem Leistungserbringer einen Vertrag über die Lieferung eines Hilfsmittels, etwa eines Blindenführhundes oder eines Lese-Sprechgerätes schließt und dieses Hilfsmittel Mängel aufweist, ist für die Klärung in einem Rechtsstreit nicht das Zivilgericht, sondern das Sozialgericht zuständig. Im Bereich der Angelegenheiten der privaten Pflegeversicherungen im Sinn von § 23 SGB XI ist die Rechtswegzuweisung erfolgt, weil es sich bei dem Versicherungsvertrag um einen privatrechtlichen Vertrag handelt. Beansprucht der Versicherungsnehmer eine im Vertrag vorgesehene Leistung, so handelt es sich um eine privatrechtliche Streitigkeit, so dass ohne die Rechtswegverweisung die Zivilgerichte zuständig wären. Die Rechtswegzuweisung erstreckt sich auch auf die Beitragsstreitigkeiten der auf Grund von § 23 SGB XI abgeschlossenen privaten Pflegeversicherung.

Die erstmalige sachliche Zuständigkeit der Landessozialgerichte, die gem. § 29 SGG prinzipiell im zweiten Rechtszug entscheiden, kann sich ergeben, wenn weitere Verwaltungsakte (erstmals) kraft Gesetzes in das Berufungsverfahren einbezogen werden (§ 153 Abs. 1 i.V.m. § 96 Abs. 1 SGG). Das ist der Fall, wenn nach Klageerhebung der dem Verfahren zu Grunde liegende Verwaltungsakt durch einen neuen Verwaltungsakt abgeändert oder ersetzt wird.

Die örtliche Zuständigkeit der Sozialgerichte ist in den §§ 57 bis 59 SGG geregelt. Nach § 57 Abs. 1 S. 1 1. Halbsatz ist das Sozialgericht, oder, wenn ein Landesgesetz nach § 50a erlassen ist, das Verwaltungsgericht, in dessen Bezirk der Kläger zur Zeit der Klageerhebung seinen Sitz oder Wohnsitz oder in Ermangelung dessen seinen Aufenthaltsort hat örtlich zuständig. Wenn der Kläger in einem Beschäftigungsverhältnis steht, kann er auch vor dem für den Beschäftigungsort zuständigen Sozialgericht klagen (§ 57 Abs. 1 S. 1 2. HS).

Die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte ist im 6. Abschnitt der VwGO geregelt. Das Verwaltungsgericht entscheidet nach § 45 VwGO im ersten Rechtszug über alle Streitigkeiten, für die der Verwaltungsrechtsweg offen steht.

§ 40 Abs. 1 VwGO bestimmt zur sachlichen Zuständigkeit, dass der Verwaltungsrechtsweg zu den Verwaltungsgerichten in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art gegeben ist, soweit die Streitigkeiten nicht durch Bundesgesetz einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen sind, wie dies z.B. für die Sozialgerichte durch das SGG erfolgt ist. Öffentlich-rechtliche Streitigkeiten auf dem Gebiet des Landesrechts können einem anderen Gericht auch durch Landesgesetz zugewiesen werden.

Eine Streitigkeit ist immer dann öffentlich-rechtlicher Art, wenn der Streitgegenstand, d.h. der mit der Klage geltend gemachte Anspruch, aus einem Rechtsverhältnis abgeleitet wird, das dem öffentlichen Recht angehört. Dies ist dann der Fall, wenn einem der Beteiligten Rechte und Pflichten als Hoheitsträger zugeordnet sind und er aus dieser Rechtsstellung heraus tätig wird. Wichtiges Kriterium für die Zuordnung zum öffentlichen Recht ist die Handlungsweise des Hoheitsträgers. Wendet sich der Bürger mit der Klage gegen einen von dem Hoheitsträger erlassenen Verwaltungsakt (Bescheid), so ist der Rechtsstreit stets öffentlich-rechtlicher Natur. Gegenstand der öffentlich-rechtlichen Streitigkeit kann aber auch schlichtes Verwaltungshandeln oder ein öffentlich-rechtlicher Vertrag sein. Dann ist zu prüfen, ob rechtliche Vorschriften ein Über-/Unterordnungsverhältnis (Subordinationsverhältnis) zwischen den Beteiligten begründen und ob die maßgeblichen Rechtsnormen den Hoheitsträger einseitig berechtigen oder verpflichten (Sonderrechtstheorie).

In einigen speziell geregelten Fällen ist das Oberverwaltungsgericht gemäß § 48 VwGO bzw. das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 50 VwGO erstinstanzlich zuständig. Auf diese Fälle wird hier nicht eingegangen.

Die örtliche Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte ergibt sich aus den §§ 52 und 53 VwGO. Als Faustformel gilt, dass der Sitz der beklagten Behörde entscheidend ist. Wenn Gegenstand des Rechtsstreits ein Verwaltungsakt (in der Gestalt des Widerspruchsbescheids) ist, ergibt sich das örtlich und sachlich zuständige Gericht in der Regel aus der Rechtsmittelbelehrung.

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4.2.3 Beteiligte und ihre Stellung im gerichtlichen Verfahren

Beteiligte am Gerichtsverfahren sind der Kläger, der Beklagte und der Beigeladene (§ 69 SGG bzw. § 63 VwGO). Nach § 63 Ziffer 4 VwGO ist Beteiligter am Gerichtsverfahren in der Verwaltungsgerichtsbarkeit auch der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht oder der Vertreter des öffentlichen Interesses, falls er von seiner Beteiligungsbefugnis Gebrauch macht (dazu vgl. auch 4.4.2.1).

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4.2.3.1 Beteiligtenfähigkeit

Fähig am Verfahren als Beteiligte im Sinn von § 69 SGG bzw. 63 VwGO teilzunehmen sind gem. § 70 SGG 1. natürliche und juristische Personen, 2. nichtrechtsfähige Personenvereinigungen, 3. Behörden, sofern das Landesrecht dies bestimmt und 4. gemeinsame Entscheidungsgremien von Leistungserbringern und Krankenkassen oder Pflegekassen. Für die Verwaltungsgerichtsbarkeit vgl. die etwas abweichende Vorschrift in § 61 VwGO. Danach können im Verwaltungsgerichtsprozess 1. natürliche und juristische Personen, 2. Vereinigungen, soweit ihnen ein Recht zustehen kann und 3. Behörden, sofern das Landesrecht dies bestimmt, Beteiligte sein. Eine Regelung, wonach auch bestimmte Entscheidungsgremien Beteiligte sein können, fehlt in der VwGO.

Im Einzelnen: Beteiligtenfähig ist jede natürliche Person, d.h. jeder Mensch ab Vollendung der Geburt (§ 1 BGB) bis zum Tod. Auf die Geschäftsfähigkeit i.S. der §§ 104 ff. BGB bzw. die Prozessfähigkeit als Handlungsfähigkeit im Verfahren kommt es nicht an. Beteiligtenfähig sind ferner alle juristischen Personen des privaten oder öffentlichen Rechts. Juristische Personen des Privatrechts sind z.B. die eingetragenen Vereine nach § 21 BGB, die GmbH und die Aktiengesellschaft. Körperschaften des öffentlichen Rechts sind z.B. die Sozialversicherungsträger (§ 29 Abs. 1 SGB IV).

Nach § 70 Nr. 2 SGG bzw. § 61 Nr. 2 VwGO sind auch nichtrechtsfähige Personenvereinigungen beteiligtenfähig. Dabei handelt es sich um einen freiwilligen Zusammenschluss bestimmter Personen, dem Rechte und Pflichten zugeordnet werden können (vgl. BSG, SozR 1500 § 70 Nr. 5). Hierunter fallen insbesondere nicht rechtsfähige Vereine, die Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GBR), die Erbengemeinschaft, die offene Handelsgesellschaft (OHG), und die Kommanditgesellschaft (KG). Vgl. hierzu BSG, SozR § 70 Nr. 8.

Wenn das Landesrecht dies bestimmt, sind nach § 70 Nr. 3 auch Behörden beteiligtenfähig. Dies ist eine Durchbrechung des Rechtsträgerprinzips, wonach beteiligt grundsätzlich die juristische Person ist, deren Behörde zuständig ist. Der Behördenbegriff ist in § 1 Abs. 2 SGB X definiert. Danach ist Behörde jede Stelle, die Aufgaben öffentlicher Verwaltung wahrnimmt. Da Landesrecht nur die Zuständigkeit im Bereich des Landes regeln kann, kann es nicht die Beteiligtenfähigkeit einer Bundesbehörde begründen (vgl. Haufe Onlinekommentar Rz. 5 zu § 70 SGG; BSG, SozR § 70 Nr. 13).

Nach § 70 Nr. 4 sind gemeinsame Entscheidungsgremien von Leistungserbringern und Krankenkassen oder Pflegekassen beteiligtenfähig. Solche Ausschüsse sind z.B. der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen nach § 91 SGB V, die gemeinsamen Zulassungs- und Berufungsausschüsse für Ärzte und Zahnärzte nach den §§ 96, 97 SGB V und die Schiedsämter nach § 89 SGB V. Das gleiche gilt für die entsprechenden Gremien nach dem SGB XI (soziale Pflegeversicherung) wie etwa die Schiedsstelle nach § 76 SGB XI. Für andere Entscheidungsgremien gilt, dass Beteiligter nach dem Rechtsträgerprinzip jeweils die juristische Person ist, bei welcher das Entscheidungsgremium eingerichtet worden ist.

Wenn dem Kläger oder dem Beklagten die Beteiligtenfähigkeit fehlt, ist die Klage unzulässig. Wenn ein notwendig Beigeladener nicht beteiligtenfähig ist, führt dies lediglich dazu, dass ihm gegenüber keine Rechtskraftwirkung eintritt (§ 161 SGG bzw. 121 VwGO) (vgl. Haufe Onlinekommentar Rz. 1 zu § 70 SGG).

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4.2.3.2 Die Stellung der Beteiligten im Prozess

Kläger, Beklagter und Beigeladener haben im Prozess unterschiedliche Rechte und Pflichten.

a) Kläger und Beklagter als Hauptbeteiligte

Kläger und Beklagter werden mit Klageerhebung (Rechtshängigkeit gem. § 94 SGG bzw. § 90 VwGO) Hauptbeteiligte des Verfahrens.

Der Kläger hat die Dispositionsbefugnis. Er leitet das Klageverfahren ein, indem er mit der Erhebung der Klage ein Recht oder mehrere Rechte gegen den Beklagten geltend macht (vgl. oben 4.4.1.3). Nur er bestimmt den Umfang des Klagebegehrens (vgl. § 123 SGG bzw. § 88 VwGO und oben 4.4.1.4 zum Begriff des Streitgegenstandes) und nur er kann die Klage zurücknehmen (§ 102 S. 1 SGG bzw. § 92 VwGO).

Der Beklagte als Klagegegner hat keine Dispositionsbefugnis wie der Kläger. Er hat jedoch Einfluss auf das Verfahren insoweit, als er den Klageanspruch anerkennen oder an einem Vergleich mitwirken kann (§ 101 SGG bzw. § 106 VwGO).

b) Die Stellung des Beigeladenen

Während Kläger und Beklagter mit Klageerhebung (Rechtshängigkeit gem. § 94 SGG bzw. § 90 VwGO) Beteiligte des Verfahrens sind, kann ein Dritter erst nach Klageerhebung und nur durch einen gerichtlichen Beschluss als „Beigeladener“ Beteiligter werden (§ 75 SGG bzw. § 65 VwGO). Eine Beiladung kann grundsätzlich in jeder Instanz erfolgen. Die Beiladung bleibt bis zum Ende des Verfahrens bestehen.

Die Beiladung ist die besondere Form der Beteiligung Dritter am Verfahren in der allgemeinen und besonderen Verwaltungsgerichtsbarkeit. Die Beiladung dient der Interessenwahrung des beigeladenen Dritten. Durch die Beiladung werden weitere Verfahren mit eventuell widerstreitenden Entscheidungen vermieden, weil eine Entscheidung auch den Beigeladenen bindet.

Zu unterscheiden ist zwischen einfacher (nicht notwendiger) und notwendiger Beiladung.

§ 75 Abs. 1 S. 1 SGG bzw. § 65 Abs. 1 VwGO betrifft die einfache Beiladung. Sie setzt voraus, dass berechtigte Interessen durch die Entscheidung berührt werden. Ein berechtigtes Interesse besteht dann, wenn der Ausgang des Rechtsstreits für den Dritten in rechtlicher, wirtschaftlicher oder schützenswert ideeller Hinsicht von Bedeutung sein kann. Die einfache Beiladung kann von Amts wegen oder auf Antrag eines der Hauptbeteiligten (Kläger oder Beklagter) bzw. des betroffenen Dritten erfolgen. Ob eine Beiladung vorgenommen wird, steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Die Beiladung oder ihre Ablehnung erfolgt durch Beschluss des Gerichts, bei dem das Verfahren anhängig ist. Der Beiladungsbeschluss ist gem. § 75 Abs. 3 SGG bzw. § 65 Abs. 4 S. 3 VwGO unanfechtbar. Der Beschluss des Sozialgerichts, mit dem eine Beiladung abgelehnt wird, ist gem. § 172 Abs. 1 SGG bzw. § 146 Abs. 1 VwGO mit der Beschwerde anfechtbar.

Die notwendige Beiladung ist im Sozialgerichtsverfahren besonders ausgeprägt. Eine notwendige Beiladung sieht das SGG in drei Fällen vor (§ 75 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 SGG). In diesen Fällen besteht ein Rechtsanspruch auf Beiladung. Nach § 75 Abs. 1 S. 2 ist in Angelegenheiten des sozialen Entschädigungsrechts auf Antrag die Bundesrepublik Deutschland beizuladen. Sie wird durch den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung vertreten. Durch die Beiladung soll die Bundesrepublik, die die Kosten des sozialen Entschädigungsrechts trägt, Einfluss auf den Prozess nehmen können.

Die weiteren zwei Alternativen der notwendigen Beiladung sind in § 75 Abs. 2 SGG geregelt. Nach der ersten Alternative des § 75 Abs. 2 SGG ist eine Beiladung notwendig und damit von Amts wegen vorzunehmen, wenn an dem streitigen Rechtsverhältnis Dritte derart beteiligt sind, dass die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann. Die Rechtskraft eines Urteils muss sich unmittelbar auch auf den Beigeladenen auswirken. Dieser ersten Alternative der notwendigen Beiladung entspricht auch § 65 Abs. 2 VwGO für das Verwaltungsgerichtsverfahren. Eine notwendige Beiladung nach § 75 Abs. 2 erste Alternative ist z.B. gegeben, wenn ein Pflegeheimträger gegen die Pflegekasse auf Zahlung des Kostenanteils nach der Pflegestufe 3 (anstatt bisher 2, vgl. § 15 SGB XI) klagt; denn das Gericht kann auch dem Versicherten als Drittem gegenüber nur einheitlich entscheiden: Die Entscheidung würde unmittelbar in die Rechtssphäre des Versicherten eingreifen, da er ebenso wie die Pflegekasse Schuldner des Pflegeheimträgers ist (vgl. § 84 Abs. 1, § 43 Abs. 2, § 87 a Abs. 3 S. 1 SGB XI).

Die zweite Alternative in § 75 Abs. 2 SGG ist speziell auf das Sozialrecht abgestellt. Danach ist eine Beiladung notwendig, wenn bei Ablehnung des Anspruchs ein anderer Leistungspflichtiger, nämlich ein anderer Versicherungsträger, ein Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende, ein Träger der Sozialhilfe oder in Angelegenheiten des sozialen Entschädigungsrechts ein Land als leistungspflichtig in Betracht kommt. Damit wird vermieden, dass der Kläger nach Abschluss des Gerichtsverfahrens seinen Anspruch in einem neuen Verwaltungsverfahren und sich eventuell anschließenden Rechtsstreit vor Gericht gegenüber einem anderen Leistungsträger verfolgen muss. Der Anspruch muss nicht identisch sein. Die Ansprüche gegen den Beklagten und den Beigeladenen müssen sich aber gegenseitig ausschließen (BSG, SozR 5090 § 6 Nr. 4). Beispiele für eine notwendige Beiladung im Sozialgerichtsprozess enthalten Rz. 5 und 6 zu § 75 in Haufe Onlinekommentar zum SGG. Ein Fall notwendiger Beiladung ist z.B. gegeben, wenn der Kläger, welcher bei einem Verkehrsunfall verletzt worden ist, gegen die Berufsgenossenschaft auf Leistungen der Heilbehandlung nach §§ 27 ff. SGB XII klagt, da er der Meinung ist, dass es sich bei dem Verkehrsunfall um einen Arbeitsunfall nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII handelt, wenn aber für den Fall, dass kein Wegeunfall gegeben ist, die Leistungspflicht der Krankenkasse nach §§ 27 ff. SGB V gegeben ist. Die Krankenkasse ist beizuladen. Hätte in diesem Fall die Krankenkasse geleistet, z.B. die Krankenhauskosten übernommen und würde sie nun im Klageweg einen Erstattungsanspruch nach § 102 SGB X gegen die Berufsgenossenschaft geltend machen, wäre der bei dem Verkehrsunfall Verletzte nach § 75 Abs. 2 1. Alternative notwendig beizuladen.

Sonderregelungen für so genannte Massenverfahren, in welchen eine größere Zahl von Personen notwendig beigeladen werden müsste, enthält § 75 Abs. 2a SGG bzw. für das Verwaltungsgerichtsverfahren § 65 Abs. 3 VwGO. Wenn nach § 75 Abs. 2 erste Alternative SGG die Beiladung von mehr als 20 bzw. nach § 65 Abs. 2 VwGO die Beiladung von mehr als 50 Personen in Betracht kommt, kann das Gericht durch Beschluss anordnen, dass nur solche Personen beigeladen werden, die dies innerhalb einer bestimmten im Ermessen des Gerichts stehenden Frist beantragen. Der unanfechtbare Beschluss ist im elektronischen Bundesanzeiger sowie in im gesamten Bundesgebiet verbreiteten Tageszeitungen zu veröffentlichen. Die Frist zur Antragstellung muss mindestens drei Monate seit Bekanntgabe des Beschlusses betragen. Der Tag des Fristablaufs ist im Beschluss anzugeben. Das Gericht soll Personen, die von der Entscheidung erkennbar in besonderem Maße betroffen werden, auch ohne Antrag beiladen.

Der Beigeladene kann, muss aber nicht, aktiv am Verfahren mitwirken. Ebenso wie die Hauptbeteiligten muss er über alle Verfahrensvorgänge informiert werden. Der Beigeladene kann selbstständig Angriffs- und Verteidigungsmittel geltend machen (§ 75 Abs. 4 S. 1 SGG bzw. § 66 VwGO).

Er darf ebenso wie Kläger und Beklagter Verfahrenshandlungen vornehmen, z. B. um die Vertagung eines Termins zur mündlichen Verhandlung ersuchen oder einen Richter wegen Befangenheit ablehnen, nicht jedoch den Klagegegenstand erweitern oder einschränken (vgl. § 75 Abs. 4 S. 1 und 2 SGG bzw. § 66 VwGO). In diesem Rahmen kann er Anträge stellen, sogar z.B. als beigeladener Leistungsträger den Klagegegenstand materiell durch ein Anerkenntnis beeinflussen. Die Beendigung des Klageverfahrens durch die Hauptbeteiligten, z.B. durch Klagerücknahme oder einen Vergleich, kann er dagegen nicht verhindern. Er kann jedoch selbständige Rechtsmittel einlegen, weil sich die Rechtskraft der Entscheidung auf alle Beteiligten erstreckt (§ 141 Abs. 1 SGG bzw. § 121 VwGO). Sachanträge, die von denen der Hauptbeteiligten abweichen, kann nur ein nach § 75 Abs. 2 SGG bzw. § 65 Abs. 2 VwGO notwendig Beigeladener stellen (§ 75 Abs. 4 S. 2 SGG bzw. § 66 S. 2 VwGO).

Eine Besonderheit besteht im Sozialgerichtsprozess: Nach § 75 Abs. 5 SGG kann ein Versicherungsträger oder ein Land nach Beiladung verurteilt werden. Voraussetzung dafür ist, dass die Ansprüche gegen Beklagten und Beigeladenen im Ausschließlichkeitsverhältnis stehen, d.h., dass entweder ein Anspruch gegen den Beklagten oder gegen den Beigeladenen besteht. Es handelt sich um Fälle der notwendigen Beiladung nach § 75 Abs. 2 zweite Alternative.

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4.2.3.3 Prozessfähigkeit – Handlungsfähigkeit

Von der Beteiligtenfähigkeit ist die Prozessfähigkeit zu unterscheiden. Die Prozessfähigkeit ist die Fähigkeit, als Beteiligter selbst oder durch einen selbst bestellten Vertreter wirksam Prozesshandlungen durchzuführen, z.B. die Klage zu erheben oder zurückzunehmen, eine Anerkenntniserklärung abzugeben, einen Vergleich zu schließen, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Prozessfähigkeit ist in § 71 SGG bzw. § 62 VwGO geregelt.

Die Prozessfähigkeit natürlicher Personen richtet sich nach § 71 Abs. 1 und 2 SGG bzw. § 62 Abs. 1 VwGO. § 71 Abs. 1 SGG verweist zunächst auf die allgemeine Geschäftsfähigkeit, d.h. auf die Fähigkeit, Rechtsgeschäfte selbständig und wirksam vorzunehmen. Dem entspricht § 62 Abs. 1 VwGO, welcher ausdrücklich auf die „Geschäftsfähigkeit nach bürgerlichem Recht“ verweist. Unbeschränkt geschäftsfähig sind grundsätzlich alle Personen ab Vollendung des 18. Lebensjahres (§ 2 BGB i.V.m. § 104 ff. BGB). Die Anordnung einer Betreuung hat nur dann Auswirkungen auf die Prozessfähigkeit, wenn ein Einwilligungsvorbehalt gem. § 1903 BGB angeordnet ist. Minderjährige, d.h. Personen, die das 7., aber noch nicht das 18. Lebensjahr vollendet haben (§ 106 BGB), sind nach § 71 Abs. 2 SGG in eigener Sache prozessfähig, soweit sie durch Vorschriften des bürgerlichen oder öffentlichen Rechts für den Gegenstand des Verfahrens als geschäftsfähig anerkannt sind. Nach §§ 112, 113 BGB ist dies der Fall, wenn Gegenstand des Verfahrens Rechtsgeschäfte sind, die der Betrieb eines Erwerbsgeschäfts mit sich bringt, das der Minderjährige im Einverständnis mit seinem gesetzlichen Vertreter selbständig betreibt, sowie die Rechtsgeschäfte, die die Eingehung, Aufhebung und Erfüllung eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses betreffen, sofern der Eintritt in das Dienst- oder Arbeitsverhältnis mit Zustimmung des gesetzlichen Vertreters erfolgte. Im Sozialgerichtsverfahren ist außerdem zu beachten, dass für dieses die Geschäftsfähigkeit durch § 36 SGB I erweitert worden ist. Nach § 36 SGB I sind Minderjährige geschäfts- und damit prozessfähig, wenn sie das 15. Lebensjahr vollendet haben. Ab diesem Zeitpunkt können sie selbständig Anträge auf Sozialleistungen stellen und ihre Ansprüche durch die Einlegung von Rechtsbehelfen verfolgen. Zum Schutz des Minderjährigen bestimmt aber § 71 Abs. 2 S. 2 SGG, dass die Rücknahme eines Rechtsbehelfs der Zustimmung des gesetzlichen Vertreters bedarf. Das ist auch anzunehmen, wenn im Rahmen eines Vergleichs Rechtspositionen aufgegeben werden (Haufe Onlinekommentar Rz. 3 zu § 71 SGG). Prozessunfähige natürliche Personen werden von ihren gesetzlichen Vertretern vertreten. Das sind bei Minderjährigen regelmäßig die Eltern. Die gesetzlichen Vertreter müssen ihrerseits prozessfähig sein.

Für rechtsfähige und nichtrechtsfähige Personenvereinigungen sowie für Behörden handeln nach § 71 Abs. 3 SGG bzw. § 62 Abs. 3 VwGO ihre gesetzlichen Vertreter, Vorstände oder besonders Beauftragten. Wer gesetzlicher Vertreter ist, ergibt sich aus Gesetz, Satzung und Gesellschaftsvertrag. Bei Aktiengesellschaften, Vereinen und Stiftungen ist gesetzlicher Vertreter der Vorstand, bei der GmbH der Geschäftsführer. Die Sozialversicherungsträger werden gem. §§ 35, 36 SGB IV von ihren Vorständen oder Geschäftsführern vertreten. Behörden werden durch den Behördenvorstand vertreten, etwa die Bundesagentur für Arbeit vom Direktor der zuständigen Agentur für Arbeit.

Für gemeinsame Entscheidungsgremien von Leistungserbringern und Krankenkassen oder Pflegekassen im Sinne von § 70 Nr. 4 SGG handelt nach § 71 Abs. 4 SGG der Vorsitzende des Entscheidungsgremiums.

In Angelegenheiten des sozialen Entschädigungsrechts sowie des Schwerbehindertenrechts findet nach § 71 Abs. 5 SGG die Vertretung des Landes durch das Landesversorgungsamt oder durch eine andere Stelle, der diese Aufgaben übertragen worden sind, statt. Durch diese Regelung wird Zuständigkeitsverlagerungen, welche durch Verwaltungsreformen in den Ländern erfolgen, Rechnung getragen.

Verfahrenshandlungen Prozessunfähiger oder Verfahrenshandlungen diesem gegenüber sind unwirksam. Die von einem Prozessunfähigen erhobene Klage kann allerdings nicht ohne weiteres als unzulässig abgewiesen werden. Es ist vielmehr eine Frist für den Eintritt eines Vertreters zu setzen oder gem. § 72 SGG ein besonderer Vertreter zu bestellen (Haufe Onlinekommentar Rz. 7 zu § 71 SGG).

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4.2.3.4 Vertretung und Beistandschaft

Die Befugnis zur gerichtlichen Vertretung und Beistandschaft richtet sich nach der jeweiligen Verfahrensordnung. Vgl. dazu auch 2.1.2. Zu den Begriffen Vertretung und Beistandschaft und die zwischen diesen bestehenden Unterschiede vgl. 3.3.3.2 und 3.3.3.3.

Die Vertretung und die Beistandschaft im Verfahren vor den Sozial- bzw. Verwaltungsgerichten sind in § 73 SGG bzw. 67 VwGO geregelt. Bei den Verfahren ist zwischen solchen ohne und mit Vertretungszwang zu unterscheiden.

a) Vertretung und Beistandschaft vor den Sozialgerichten

Nach § 73 Abs. 1 SGG können die Beteiligten vor dem Sozialgericht (erste Instanz) und dem Landessozialgericht (zweite Instanz) den Rechtsstreit selbst führen.

Die Beteiligten können sich nach § 73 Abs. 2 SGG durch einen Rechtsanwalt oder Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule im Sinn des Hochschulrahmengesetzes mit Befähigung zum Richteramt (Volljurist) als Bevollmächtigten vertreten lassen. Darüber hinaus sind als Bevollmächtigte vor dem Sozialgericht und dem Landessozialgericht nur vertretungsbefugt:

  1. Beschäftigte des Beteiligten oder eines mit ihm verbundenen Unternehmens (§ 15 des Aktiengesetzes); Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse können sich auch durch Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse vertreten lassen,
  2. volljährige Familienangehörige (§ 15 der Abgabenordnung, § 11 des Lebenspartnerschaftsgesetzes), Personen mit Befähigung zum Richteramt (Volljuristen) und Streitgenossen, wenn die Vertretung nicht im Zusammenhang mit einer entgeltlichen Tätigkeit steht,
  3. Rentenberater im Umfang ihrer Befugnisse nach § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 des Rechtsdienstleistungsgesetzes (nach dieser Bestimmung zur Rechtsdienstleistungen zugelassene Personen),
  4. Steuerberater, Steuerbevollmächtigte, Wirtschaftsprüfer und vereidigte Buchprüfer, Personen und Vereinigungen im Sinn des § 3 Nr. 4 des Steuerberatungsgesetzes sowie Gesellschaften im Sinn des § 3 Nr. 2 und 3 des Steuerberatungsgesetzes, die durch Personen im Sinn des § 3 Nr. 1 des Steuerberatungsgesetzes handeln, in Angelegenheiten nach den §§ 28h und 28p des Vierten Buches Sozialgesetzbuch (diese Verfahren betreffen die Einziehung des Gesamtsozialversicherungsbeitrags durch die gesetzlichen Krankenkassen und die Beitragsprüfung),
  5. selbständige Vereinigungen von Arbeitnehmern mit sozial- oder berufspolitischer Zwecksetzung für ihre Mitglieder,
  6. berufsständische Vereinigungen der Landwirtschaft für ihre Mitglieder,
  7. Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern sowie Zusammenschlüsse solcher Verbände für ihre Mitglieder oder für andere Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder,
  8. Vereinigungen, deren satzungsgemäße Aufgaben die gemeinschaftliche Interessenvertretung, die Beratung und Vertretung der Leistungsempfänger nach dem sozialen Entschädigungsrecht oder der behinderten Menschen wesentlich umfassen und die unter Berücksichtigung von Art und Umfang ihrer Tätigkeit sowie ihres Mitgliederkreises die Gewähr für eine sachkundige Prozessvertretung bieten für ihre Mitglieder,
  9. juristische Personen, deren Anteile sämtlich im wirtschaftlichen Eigentum einer der in den Nummern 5 bis 8 bezeichneten Organisationen stehen, wenn die juristische Person ausschließlich die Rechtsberatung und Prozessvertretung dieser Organisation und ihrer Mitglieder oder anderer Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder entsprechend deren Satzung durchführt und wenn die Organisation für die Tätigkeit der Bevollmächtigten haftet. Das sind so genannte Rechtsberatungsgesellschaften.

Bevollmächtigte, die keine natürlichen Personen sind, also die zur Vertretung zugelassenen Organisationen (vgl. Nrn. 5 - 9), handeln durch ihre Organe bzw. durch die von den Organen mit der Prozessvertretung beauftragten Vertreter. § 157 der Zivilprozessordnung gilt entsprechend. Besondere Anforderungen an die juristische Qualifikation der für die Organisationen handelnden Personen bestehen nur im Verfahren vor dem Bundessozialgericht (s. u.).

Die Vertretung durch Selbsthilfeorganisationen ist nach Nr. 8 möglich, aber anders als nach § 8 Rechtsdienstleistungsgesetz auf Mitglieder eingeschränkt. Eine Öffnung, wie sie nach den §§ 6, 7 und 8 RDG für außergerichtliche Rechtsdienstleistungen besteht, wurde im SGG nicht vorgenommen.

Vor dem Bundessozialgericht besteht Vertretungszwang. Nach § 73 Abs. 4 SGG müssen sich die Beteiligten dort, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Als Bevollmächtigte sind außer den in § 73 Absatz 2 S. 1 SGG bezeichneten Personen nur die in Absatz 2 S. 2 Nr. 5 bis 9 bezeichneten Organisationen zugelassen. Das bedeutet, dass auch Selbsthilfeorganisationen in Verfahren vor dem Bundessozialgericht für ihre Mitglieder als Prozessbevollmächtigte handeln können. Die zugelassenen Organisationen müssen in Verfahren vor dem Bundessozialgericht durch Personen mit Befähigung zum Richteramt (Volljuristen) handeln. Eine Zulassung als Rechtsanwalt ist nicht erforderlich. Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse sowie private Pflegeversicherungsunternehmen können sich durch eigene Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt oder durch Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse vertreten lassen.

Nach § 73 Abs. 6 SGG ist die Vollmacht schriftlich zu den Gerichtsakten einzureichen. Sie kann nachgereicht werden; hierfür kann das Gericht eine Frist bestimmen.

Nach § 73 Abs. 7 SGG ist auch die Unterstützung durch Beistände möglich. Die Regelung entspricht § 90 ZPO. In der Verhandlung können die Beteiligten mit Beiständen erscheinen. Beistand kann sein, wer in Verfahren, in denen die Beteiligten den Rechtsstreit selbst führen können, als Bevollmächtigter zur Vertretung in der Verhandlung befugt ist. Das Gericht kann andere Personen als Beistand zulassen, wenn dies sachdienlich ist und hierfür nach den Umständen des Einzelfalls ein Bedürfnis besteht. Das von dem Beistand Vorgetragene gilt als von dem Beteiligten vorgebracht, soweit es nicht von diesem sofort widerrufen oder berichtigt wird.

b) Vertretung und Beistandschaft vor den Verwaltungsgerichten

Rechtsgrundlage ist § 67 VwGO. Auch in Verfahren der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist zwischen solchen ohne Vertretungszwang und solchen mit Vertretungszwang zu unterscheiden. Kein Vertretungszwang besteht vor den Verwaltungsgerichten (erste Instanz). Anders als in der Sozialgerichtsbarkeit besteht nicht nur vor dem Bundesverwaltungsgericht, sondern auch vor den Oberverwaltungsgerichten (zweite Instanz) Vertretungszwang.

Vor den Verwaltungsgerichten (erste Instanz) können die Beteiligten den Rechtsstreit selbst führen (§ 67 Abs. 1 VwGO). Sie können sich jedoch auch durch einen Rechtsanwalt oder Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule im Sinn des Hochschulrahmengesetzes mit Befähigung zum Richteramt (Volljurist) als Bevollmächtigten vertreten lassen. Darüber hinaus sind als Bevollmächtigte vor dem Verwaltungsgericht nur vertretungsbefugt:

  1. Beschäftigte des Beteiligten oder eines mit ihm verbundenen Unternehmens (§ 15 des Aktiengesetzes); Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse können sich auch durch Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse vertreten lassen,
  2. volljährige Familienangehörige (§ 15 der Abgabenordnung, § 11 des Lebenspartnerschaftsgesetzes), Personen mit Befähigung zum Richteramt (Volljuristen) und Streitgenossen, wenn die Vertretung nicht im Zusammenhang mit einer entgeltlichen Tätigkeit steht,
  3. Steuerberater, Steuerbevollmächtigte, Wirtschaftsprüfer und vereidigte Buchprüfer, Personen und Vereinigungen im Sinn des § 3 Nr. 4 des Steuerberatungsgesetzes sowie Gesellschaften im Sinn des § 3 Nr. 2 und 3 des Steuerberatungsgesetzes, die durch Personen im Sinn des § 3 Nr. 1 des Steuerberatungsgesetzes handeln, in Abgabenangelegenheiten,
  4. berufsständische Vereinigungen der Landwirtschaft für ihre Mitglieder,
  5. Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern sowie Zusammenschlüsse solcher Verbände für ihre Mitglieder oder für andere Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder,
  6. Vereinigungen, deren satzungsgemäße Aufgaben die gemeinschaftliche Interessenvertretung, die Beratung und Vertretung der Leistungsempfänger nach dem sozialen Entschädigungsrecht oder der behinderten Menschen wesentlich umfassen und die unter Berücksichtigung von Art und Umfang ihrer Tätigkeit sowie ihres Mitgliederkreises die Gewähr für eine sachkundige Prozessvertretung bieten, für ihre Mitglieder in Angelegenheiten der Kriegsopferfürsorge und des Schwerbehindertenrechts sowie der damit im Zusammenhang stehenden Angelegenheiten,
  7. juristische Personen, deren Anteile sämtlich im wirtschaftlichen Eigentum einer der in den Nummern 5 und 6 bezeichneten Organisationen stehen, wenn die juristische Person ausschließlich die Rechtsberatung und Prozessvertretung dieser Organisation und ihrer Mitglieder oder anderer Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder entsprechend deren Satzung durchführt, und wenn die Organisation für die Tätigkeit der Bevollmächtigten haftet (so genannte Rechtsberatungsgesellschaften).

Selbsthilfeorganisationen behinderter Menschen sind nach Nr. 6 vertretungsberechtigt. Diese Organisationen handeln durch ihre Organe und die mit der Prozessvertretung beauftragten Vertreter.

Nach § 67 Abs. 4 S. 1 VwGO müssen sich die Beteiligten vor dem Oberverwaltungsgericht und dem Bundesverwaltungsgericht, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor einem Oberverwaltungsgericht oder dem Bundesverwaltungsgericht eingeleitet wird, also z. B. die Einlegung der Berufung gegen ein erstinstanzielles Urteil oder die Erhebung der Revision. Als Bevollmächtigte sind uneingeschränkt nur die in § 67 Absatz 2 S. 1 bezeichneten Personen zugelassen. Das sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule im Sinn des Hochschulrahmengesetzes mit Befähigung zum Richteramt. Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse können sich durch eigene Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt oder durch Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse vertreten lassen. Vor dem Oberverwaltungsgericht sind auch die in § 67 Absatz 2 S. 2 Nr. 3 bis 7 bezeichneten Personen und Organisationen als Bevollmächtigte zugelassen. Das bedeutet, dass vor dem Bundesverwaltungsgericht nur die Rechtsanwälte und Hochschullehrer vertretungsbefugt sind. Auch das ist gegenüber der Sozialgerichtsbarkeit eine Einschränkung.

Nach § 67 Abs. 7 VwGO können die Beteiligten in der Verhandlung mit Beiständen erscheinen. Beistand kann sein, wer in Verfahren, in denen die Beteiligten den Rechtsstreit selbst führen können, als Bevollmächtigter zur Vertretung in der Verhandlung befugt ist. Die Vertreter von Selbsthilfeorganisationen behinderter Menschen können deshalb in Verhandlungen vor dem Bundesverwaltungsgericht zwar nicht als Bevollmächtigte, aber wenigstens als Beistand auftreten. Das kann wegen der Fachkompetenz sehr hilfreich sein. Das Gericht kann andere Personen als Beistand zulassen, wenn dies sachdienlich ist und hierfür nach den Umständen des Einzelfalls ein Bedürfnis besteht. Das von dem Beistand Vorgetragene gilt als von dem Beteiligten vorgebracht, soweit es nicht von diesem sofort widerrufen oder berichtigt wird.

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4.2.4 Klageerhebung und Rechtshängigkeit

Mit der Klage wird ein gerichtliches Verfahren in der Hauptsache eingeleitet. Die Klage ist bei dem zuständigen Gericht der Sozialgerichtsbarkeit bzw. der Verwaltungsgerichtsbarkeit schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle zu erheben (§ 90 SGG bzw. § 81 Abs. 1 VwGO).

Die Klage muss den Kläger, den Beklagten und den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen. Zur Bezeichnung des Beklagten genügt die Angabe der Behörde. Die Klage soll einen bestimmten Antrag enthalten und von dem Kläger oder einer zu seiner Vertretung befugten Person mit Orts- und Zeitangabe unterzeichnet sein. Die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel sollen angegeben, die angefochtene Verfügung und der Widerspruchsbescheid sollen in Urschrift oder in Abschrift beigefügt werden (§ 92 Abs. 1 SGG bzw. § 82 Abs. 1 VwGO). Wenn die Klage diesen Anforderungen nicht entspricht, hat der Vorsitzende (im Verwaltungsgerichtsverfahren der Vorsitzende oder der Berichterstatter) den Kläger zu der erforderlichen Ergänzung innerhalb einer bestimmten Frist aufzufordern (§ 92 Abs. 2 S. 1 SGG bzw. § 82 Abs. 2 S. 1 VwGO).

Er kann dem Kläger für die Ergänzung eine Frist mit ausschließender Wirkung setzen, wenn es an einem der in Absatz 1 Satz 1 genannten Erfordernisse fehlt, wenn also der Kläger, der Beklagte oder der Gegenstand des Klagebegehrens aus der Klage nicht hervorgehen (§ 92 Abs. 2 S. 2 SGG bzw. § 82 Abs. 2 S. 2 VwGO). Sofern die erforderlichen Angaben innerhalb der Ausschlussfrist nicht nachgeholt werden und auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand möglich ist, wird die Klage als unzulässig abgewiesen.

Das Erfordernis der Schriftform bedeutet zwar grundsätzlich, dass die Klageschrift vom Kläger unterschrieben ist. Unterbleibt die Unterschrift, so macht das die Klageerhebung aber nicht unwirksam. Denn § 92 Abs. 1 S. 2, SGG bzw. § 82 Abs. 1 S. 2 VwGO, welche die Unterschrift des Klägers oder einer vertretungsbefugten Person fordern, sind nur Soll-Vorschriften. Die Unterschrift kann deshalb auch nachgeholt werden. Sie soll im Wesentlichen der Identifizierung des Klägers dienen und ist daher auch entbehrlich, solange sich die Klageschrift eindeutig zuordnen

lässt und keine Zweifel bestehen, dass die Klageschrift von dem Kläger gewollt war. Bestehen Zweifel, so müssen sie zunächst ausgeräumt werden. Die Klagefrist bleibt gewahrt, wenn später die Urheberschaft des Klägers festgestellt werden kann. Dementsprechend genügen anstelle einer unterschriebenen Klageschrift auch z.B. die Einreichung von Fotokopien, die Übersendung eines Tele- oder Computerfaxes oder ein Schreiben mit Faksimilestempel. Trotzdem ist dringend zu empfehlen, in rechtlichen Angelegenheiten den Unterschriftsstempel nicht zu verwenden, sondern von Hand zu unterschreiben. Voraussetzung für die Wirksamkeit der Klageerhebung bei fehlender Unterschrift ist aber jeweils, dass der Kläger zu identifizieren ist. Diese Voraussetzung ist nach Auffassung des BSG jedenfalls im Regelfall nur erfüllt, wenn der Kläger seine Anschrift nennt, wobei weder die Angabe eines Postfachs noch einer E-Mail-Adresse ausreicht (BSG, Beschl. v. 18.11.2003, B 1 KR 1/02 S, SozR 4-1500 § 90 Nr. 1 = Breithaupt 2004, 457). Nur dann lässt sich die örtliche Zuständigkeit des Gerichts feststellen und lassen sich wirksame Zustellungen vornehmen (Haufe Onlinekommentar Rz. 9 zu § 90 SGG).

Durch Erhebung der Klage wird eine Streitsache rechtshängig (§ 94 SGG bzw. § 90 VwGO). Sie bleibt bis zur endgültigen gerichtlichen Entscheidung, also gegebenenfalls bis zum Abschluss des Berufungs- oder Revisionsverfahrens rechtshängig. Die Rechtshängigkeit endet mit dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens durch Urteil oder Gerichtsbescheid bzw. durch Klagerücknahme, Prozessvergleich, Annahme eines Anerkenntnisses, Rechtsmittelrücknahme, übereinstimmende Erledigungserklärung oder zulässige Klageänderung.

Die Rechtshängigkeit hat Wirkungen sowohl in materiell-rechtlicher als auch in prozessrechtlicher Hinsicht.

Materiell-rechtlich bewirkt die Rechtshängigkeit eine Hemmung der Verjährung (§ 45 Abs. 2 SGB I; § 25 Abs. 2, § 27 Abs. 3 SGB IV; § 50 Abs. 4 SGB X; § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB).

Prozessrechtlich ist vor allem von Bedeutung, dass die sachliche und örtliche Zuständigkeit des Gerichts erhalten bleibt, selbst wenn in den Voraussetzungen für die Zuständigkeit Änderungen eingetreten sind, der Kläger z.B. seinen Wohnsitz in den Zuständigkeitsbereich eines anderen Gerichts verlegt hat. Für den Wohnsitz ergibt sich das aus § 57 SGG, im Übrigen aus § 98 S. 1 SGG i.V.m. § 17 Abs. 1 S. 1 GVG.

Wenn die Klage vor einem unzuständigen Gericht, z.B. vor einem Verwaltungsgericht anstatt einem Sozialgericht oder umgekehrt erhoben wird, wird der Rechtsstreit nach Anhörung der Parteien durch Beschluss an das zuständige Gericht verwiesen (§ 202 SGG bzw. § 173 VwGO i.V.m. § 17a Abs. 2 S. 1 GVG). Der Beschluss ist für das Gericht, an das der Rechtsstreit verwiesen worden ist, hinsichtlich des Rechtsweges bindend (§ 17a Abs. 2 S. 3 GVG). Das gleiche gilt auch, wenn die Klage zwar vor einem Gericht des richtigen Rechtszweiges, z.B. der Sozialgerichtsbarkeit, aber vor einem unzuständigen Gericht dieses Gerichtszweiges erhoben worden ist (§ 98 SGG bzw. § 83 VwGO i.V.m. § 17a GVG). Da nach § 17b Abs. 1 S. 2 GVG die Wirkungen der Rechtshängigkeit bestehen bleiben, entstehen dadurch keine Nachteile. Vor allem bleibt damit die Klagefrist gewahrt.

Für den Kläger erfolgreich ist eine Klage, wenn sie sich im Laufe des Verfahrens als zulässig und begründet erweist.

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4.2.5 Streitgegenstand

Der Streitgegenstand wird nach Inhalt und Umfang allein vom Kläger durch das mit der Klage verfolgte Begehren bestimmt. Streitgegenstand ist nach der herrschenden prozessualen Theorie der prozessuale Anspruch, nämlich das vom Kläger aufgrund eines bestimmten Sachverhalts an das Gericht gerichtete Begehren, eine - bestimmte oder bestimmbare - Rechtsfolge auszusprechen (Haufe Onlinekommentar Rz. 3 zu § 123 SGG). Das Gericht darf über die vom Kläger erhobenen Ansprüche nicht hinausgehen (vgl. § 123 SGG bzw. § 88 VwGO). Bereits die Klageschrift soll den Streitgegenstand bezeichnen und einen bestimmten Antrag enthalten (§ 92 SGG bzw. § 82 VwGO). Der Kläger muss aber nicht bereits mit der Klageschrift sein Begehren umfassend mitteilen. Seine Klage kann auch dann zulässig sein, wenn die Klageschrift keinen bestimmten oder nur einen unklaren Antrag enthält. An die Formulierung von Anträgen ist das Gericht nicht gebunden. Maßgebend ist vielmehr das, was vom Kläger gewollt ist. Wenn das klägerische Begehren, der „erhobene Anspruch", nicht mit der für eine gerichtliche Entscheidung erforderlichen Bestimmtheit zum Ausdruck kommt, muss das Gericht auf die Konkretisierung durch klare und sachdienliche Anträge hinwirken (§ 106 Abs. 1 SGG, bzw. § 86 Abs. 3 VwGO). Wenn der Kläger gegen einen Verwaltungsakt vorgeht, ist Streitgegenstand der ursprüngliche Verwaltungsakt in Gestalt des Widerspruchsbescheids (§ 95 SGG bzw. § 79 VwGO).

Für die Auslegung von Klageanträgen gilt die Auslegungsregel des § 133 BGB, d.h. dass der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften ist.

Wenn der Streitgegenstand feststeht, darf der Kläger ihn nur durch Klageänderung unter den Voraussetzungen des § 99 Abs. 1 SGG bzw. § 91 Abs. 1 VwGO ändern. Eine Änderung der Klage ist danach nur zulässig, wenn die übrigen Beteiligten einwilligen oder das Gericht die Änderung für sachdienlich hält.

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4.2.6 Die Klagearten in der Verwaltungs- und Sozialgerichtsbarkeit

Sowohl im Sozialgerichts- als auch im Verwaltungsgerichtsverfahren stehen unterschiedliche Klagearten zur Verfügung. Die Klageart ist vom Klagebegehren abhängig. Durch die Erhebung der Klage wird die Streitsache nach § 94 Abs. 1 SGG im Sozialgerichtsverfahren bzw. nach § 90 VwGO im Verwaltungsgerichtsverfahren rechtshängig. Im Folgenden werden die Klagearten insbesondere für das Sozialgerichtsverfahren behandelt. Danach wird auf Besonderheiten in der Verwaltungsgerichtsbarkeit eingegangen.

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4.2.6.1 Klagearten im Sozialgerichtsverfahren

Die Klagearten für das Sozialgerichtsverfahren ergeben sich vor allem aus §§ 54 und 55 SGG. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen sind für die verschiedenen Klagearten teilweise unterschiedlich. Zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen für die einzelnen Klagearten vgl. insbesondere 4.4.1.6.2. Zu unterscheiden ist zwischen Gestaltungs-, Verpflichtungs-, Leistungs- und Feststellungsklagen. Für Gestaltungsklagen charakteristisch ist, dass das Gericht die Möglichkeit hat, mit seiner abschließenden Entscheidung die konkrete Rechtslage zwischen den Prozessparteien unmittelbar zu gestalten. Das Gestaltungsurteil eines Gerichts verändert unmittelbar eine konkrete Rechtslage. Es bedarf dazu keines Verwaltungsaktes mehr. Klagen, die die Aufhebung oder Abänderung eines Verwaltungsaktes zum Ziel haben, werden als Anfechtungsklagen bezeichnet. Dabei kann es sich um eine Gestaltungsklage oder um eine Verpflichtungsklage handeln.

Die Systematik des SGG zur Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 SGG) entspricht derjenigen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren (vgl. § 42 VwGO). Lediglich die Diktion ist anders und auf die unterschiedliche Rechtsmaterie zugeschnitten: Während im Verwaltungsgerichtsprozess in den weitaus meisten Streitsachen der Rechtschutz gegen Maßnahmen der Eingriffsverwaltung im Vordergrund steht, wird im sozialgerichtlichen Verfahren meist um Sozialleistungen gestritten, zu deren Gewährung die Sozialleistungsträger verpflichtet sind, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen. Welche Feststellungsklagen im Sozialgerichtsverfahren zulässig sind ist in § 55 SGG geregelt.

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a) Anfechtungsklagen

Die Anfechtungsklage ist in § 54 Abs. 1 S. 1 1. Alternative geregelt. Das Gesetz benennt als Unterarten die Aufhebungs- und die Abänderungsklage. Die (isolierte) Anfechtungsklage kommt dann in Betracht, wenn der Kläger allein die Aufhebung oder Abänderung eines Verwaltungsakts anstrebt. Bei ihr handelt es sich um eine Gestaltungsklage. Wichtigster Anwendungsfall ist die Klage gegen einen Bescheid, mit dem die Bewilligung einer Sozialleistung, z.B. die Gewährung des Blindengeldes aufgehoben oder zurückgenommen wurde.

Der Klageantrag sollte lauten: Es wird beantragt, den Bescheid vom ... in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom ... aufzuheben.

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b) Verpflichtungsklagen

Bei Verpflichtungsklagen handelt es sich um eine spezielle Form der Leistungsklage. Die Verpflichtungsklage ist in § 54 Abs. 1 S. 1 SGG in 2 Alternativen geregelt. Mit ihr wird der Erlass eines Verwaltungsaktes durch den Beklagten als dessen Leistung erstrebt. Es kann der Erlass entweder eines abgelehnten Verwaltungsaktes (Ablehnungsgegenklage) oder eines unterlassenen Verwaltungsaktes (Untätigkeitsklage) verlangt werden. Die Verpflichtungsklage kommt dann zum Zuge, wenn der Kläger die Verurteilung des Beklagten zum Erlass eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts in Fällen anstrebt, in denen die begehrte Leistung im Ermessen des Sozialleistungsträgers steht. Das Gericht kann hier nicht an Stelle des Sozialleistungsträgers das Ermessen ausüben, sondern nur zum Erlass eines Verwaltungsaktes unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts verurteilen.

Der Klageantrag sollte lauten: Es wird beantragt, den Bescheid vom ... in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom ... aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, einen Bescheid unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu erlassen.

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c) Untätigkeits- oder Unterlassungsklage

Die Untätigkeits- oder Unterlassungsklage ist eine Unterart der Verpflichtungsklage. Sie schützt den Rechtsuchenden gegen die Untätigkeit der Verwaltung. Mit ihr strebt der Kläger die Verurteilung der Verwaltung zum Erlass eines Bescheides an, wenn die Behörde über einen Antrag innerhalb der in § 88 SGG bestimmten Fristen nicht entscheidet. Wenn die Behörde innerhalb von sechs Monaten nicht entschieden hat, ist die Klage möglich, ohne dass Widerspruch erhoben und ein Vorverfahren durchgeführt werden muss. Wenn über einen Widerspruch innerhalb von drei Monaten nicht entschieden wird, ist ebenfalls die Untätigkeitsklage möglich.

An Stelle einer Untätigkeitsklage sollte geprüft werden, ob ein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz in Frage kommt. In der Praxis hilft häufig auch, wenn eine Untätigkeitsklage angedroht wird.

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d) Kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage

Von der Verpflichtungsklage ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage zu unterscheiden. Die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 4 SGG ist die gegebene Klageart, wenn ein Rechtsanspruch auf die Leistung besteht und diese nicht im Ermessen der zur Leistung verpflichteten Stelle steht. Sie ist die am häufigsten vorkommende Klageart im sozialgerichtlichen Verfahren. Mit ihr kann die Aufhebung des die Leistung ablehnenden Verwaltungsakts und gleichzeitig die Leistung verlangt werden.

Beispiele: Hat z.B. die gesetzliche Krankenkasse die Ausstattung eines blinden Mitglieds mit einem Hilfsmittel, etwa einem Lese-Sprechgerät abgelehnt, obwohl die Voraussetzungen nach § 33 Abs. 1 SGB V gegeben waren, so kann die Aufhebung dieses rechtswidrigen Verwaltungsaktes und die Ausstattung mit dem Hilfsmittel verlangt werden.

Der Klageantrag sollte lauten: Es wird beantragt, den Bescheid vom ... in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom ... aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Kläger mit einem Lese-Sprechgerät auszustatten.

Häufig besteht im Sozialrecht ein Rechtsanspruch auf Sozialleistungen, welche sich auf Geldleistungen mit Nachteilsausgleichs- oder Lohnersatzfunktion richten. Daher steht diese Klageart immer dann zu Gebote, wenn der Kläger sich gegen die Ablehnung einer solchen Sozialleistung (z.B. Blindengeld, Krankengeld, Arbeitslosengeld, Verletztenrente, Erwerbsminderungsrente) wendet und die Verurteilung des Sozialleistungsträgers unter Aufhebung des ablehnenden Verwaltungsakts begehrt. Es ist dabei grundsätzlich zulässig, die Leistung dem Grunde nach zu beantragen. Dies ist allgemeine Praxis. Wird der Sozialleistungsträger antragsgemäß verurteilt, so erlässt er einen Ausführungsbescheid, mit dem er die Höhe der Sozialleistung und gegebenenfalls die Bezugsdauer festsetzt.

Der Klageantrag sollte lauten: Es wird beantragt, den Bescheid des Beklagten vom ... in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom ... aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ... (z.B. Blindengeld, Krankengeld, Arbeitslosengeld, Verletztenrente, Erwerbsminderungsrente) zu gewähren.

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e) Allgemeine Leistungsklage

Die allgemeine oder „echte" Leistungsklage ist in § 54 Abs. 5 geregelt. Diese Klageart kommt in Betracht, wenn der Kläger ausschließlich die Verurteilung des Beklagten zur Leistung aber nicht zum Erlass eines Verwaltungsaktes anstrebt. Leistung in diesem prozessrechtlichen Sinne ist jedes aktive Tun oder passive Unterlassen. In § 54 Abs. 5 wird klargestellt, dass diese Klageart nur dann statthaft ist, wenn die Leistung vom Beklagten zu erbringen ist, ohne dass ein Verwaltungsakt erforderlich wäre. Wenn für die Leistung ein Verwaltungsakt erlassen werden müsste, wäre nach § 54 Abs. 4 die unechte Leistungsklage zu wählen (vgl. oben b)). Auf die begehrte Leistung muss ein Rechtsanspruch bestehen. Eine Leistungsklage ist z.B. zu erheben, wenn der Versicherte einer privaten Pflegeversicherung Pflegegeld wegen Pflegebedürftigkeit verlangt. Nach § 51 Abs. 2 S. 3 SGG ist der Rechtsweg zum Sozialgericht gegeben. Die Leistung des Pflegegeldes durch die private Pflegeversicherung beruht nicht auf einem Verwaltungsakt. Es kommt deshalb eine allgemeine Leistungsklage gem. § 54 Abs. 5 SGG in Frage.

Die Unterlassungsklage ist Leistungsklage. Sie stellt eine negative Variante der Leistungsklage dar.

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f) Feststellungsklagen

Die Feststellungsklage zielt nicht auf Rechtsänderung, sondern auf Klarstellung einer konkreten Rechtslage. Der Kläger fordert vom erkennenden Gericht die Klarstellung, dass ein bestimmtes Rechtsverhältnis besteht oder nicht besteht. Zulässig ist nach § 55 Abs. 1 SGG eine Feststellungsklage nur, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat. Ein berechtigtes Interesse ist nicht gegeben, wenn der Kläger sein im Prozess angestrebtes Ziel auf andere Weise sachgerechter erreichen kann.

Nach der sozialgerichtlichen Rechtsprechung gelten für die Feststellungsklage im sozialgerichtlichen Verfahren die gleichen dogmatischen Grundsätze wie in der Zivil- und Verwaltungsgerichtsbarkeit. Die Parallelnorm des § 43 der VwGO lautet:

„(1) Durch Klage kann die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses oder der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts begehrt werden, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat (Feststellungsklage).

(2) 1 Die Feststellung kann nicht begehrt werden, soweit der Kläger seine Rechte durch Gestaltungs- oder Leistungsklage verfolgen kann oder hätte verfolgen können. 2 Dies gilt nicht, wenn die Feststellung der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts begehrt wird.“

In § 55 Abs. 1 SGG werden in der Sozialgerichtsbarkeit für originäre Feststellungsklagen vier Alternativen eines auf diese Weise zu klärenden Rechtsverhältnisses aufgeführt. Mit der Klage kann danach begehrt werden:

  1. die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses,
  2. die Feststellung, welcher Versicherungsträger der Sozialversicherung zuständig ist,
  3. die Feststellung, ob eine Gesundheitsstörung oder der Tod die Folge eines Arbeitsunfalls, einer Berufskrankheit oder einer Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes ist und
  4. die Feststellung der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts.

Nach § 55 Abs. 2 SGG fällt unter Absatz 1 Nr. 1 auch die Feststellung, in welchem Umfang Beiträge zu Sozialversicherungen zu berechnen oder anzurechnen sind.

Vorfragen für eine Gestaltungs- oder Leistungsklage können nicht durch eine Feststellungsklage geklärt werden. Hier würde es am Rechtsschutzbedürfnis fehlen.

Die Feststellungsklage ist erst dann zulässig, wenn der Kläger zuvor die Feststellung bei dem Sozialleistungsträger beantragt und ein Verwaltungsverfahren stattgefunden hat (BSG, SozR 1500 § 55 Nr. 27). Lediglich im Falle der Untätigkeit der Behörde kann unmittelbar - ohne vorherige Untätigkeitsklage i.S. des § 88 - Feststellungsklage erhoben werden.

Von der Feststellungsklage im Sinn von § 55 SGG ist die Klage auf Erlass eines Verwaltungsaktes, welcher rechtlich erhebliche Feststellungen trifft (feststellender Verwaltungsakt) zu unterscheiden. Sie ist Verpflichtungsklage gemäß § 54 SGG (dazu siehe oben). Häufigster Anwendungsfall der auf eine Feststellung durch Verwaltungsakt gerichteten Leistungsklage ist die Klage auf Feststellung des Grades der Behinderung nach § 69 SGB IX.

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g) Die Fortsetzungsfeststellungsklage

Eine Feststellungsklage ist auch die Fortsetzungsfeststellungsklage. Wenn sich ein Verwaltungsakt vor Abschluss eines Rechtstreits durch Zurücknahme oder anders erledigt hat, kann Klage auf Feststellung erhoben werden, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig war (§ 131 Abs. 1 S. 3 SGG bzw. § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO). Voraussetzung ist, dass der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat. Durch § 131 Abs. 1 S. 3 SGG bzw. § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO erhält der Kläger z.B. einer Anfechtungsklage die Möglichkeit, seine im Laufe des Verfahrens etwa infolge der Rücknahme des angegriffenen Verwaltungsaktes unzulässig gewordene Klage im Wege einer Feststellungsklage fortzusetzen. Bei der Fortsetzungsfeststellungsklage liegt das Feststellungsinteresse oft in der Verhinderung einer Wiederholung des rechtswidrigen Verwaltungsakts oder darin, mithilfe eines Feststellungsurteils die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen vorzubereiten.

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4.2.6.2 Klagearten im Verwaltungsgerichtsverfahren

Die Klagearten im Verwaltungsgerichtsverfahren sind in den §§ 42 und 43 VwGO geregelt. Danach stehen auch im Verwaltungsgerichtsverfahren die

  • Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 VwGO 1. Alternative),
  • Verpflichtungsklage zum Erlass eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts (§ 42 Abs. 1 2. und 3. Alternative) und die
  • Feststellungsklage, die auf die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses oder der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts gerichtet ist (§ 43 Abs. 1 VwGO) und die
  • Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 113 Abs. 1 S. 4 VwGO) sowie die
  • Allgemeine Leistungsklage

zur Verfügung.

Zu diesen Klagen gilt im Wesentlichen dasselbe, was oben unter 4.2.2.1 Buchstaben a) bis g) zu den entsprechenden Klagen im Sozialgerichtsverfahren ausgeführt worden ist. Auf die dortigen Ausführungen wird deshalb verwiesen. Die Frist für die Untätigkeitsklage beträgt allerdings nach § 75 VwGO sowohl nach Stellung des Antrags auf Erlass eines Verwaltungsaktes als auch nach Einlegung des Widerspruchs in der Regel 3 Monate.

Die allgemeine Leistungsklage ist in der VwGO nicht ausdrücklich geregelt, wird aber als vorhanden vorausgesetzt. Sie ist das verwaltungsgerichtliche Mittel, um ein aktives Tun, Dulden oder Unterlassen der Verwaltung (schlichtes Verwaltungshandeln) durchzusetzen. Der Kläger begehrt hier die Vornahme oder das Unterlassen (Unterlassungsklage) einer Amtshandlung der Verwaltung. Das sind beispielsweise Realakte, also Handlungen, die keinen Verwaltungsakt erfordern.

Eine Besonderheit im Verwaltungsgerichtsverfahren bildet die Normenkontrollklage nach § 47 VwGO. Eine entsprechende Regelung gibt es im Sozialgerichtsverfahren nicht.

Zu unterscheiden sind das abstrakte und das konkrete Normenkontrollverfahren.

Nach § 47 Abs. 1 VwGO entscheidet das Oberverwaltungsgericht auf Antrag über die Gültigkeit von Satzungen oder Rechtsverordnungen, die auf dem Baugesetzbuch beruhen, z.B. Bebauungsplänen, sowie anderen im Rang unter dem Landesgesetz stehenden Rechtsvorschriften, sofern das Landesrecht z.B. im Ausführungsgesetz zur VwGO dies zulässt. Solche Rechtsvorschriften sind Rechtsverordnungen, welche auf der Ermächtigung in einem Landesgesetz beruhen, wie z.B. Schul- und Prüfungsordnungen und Satzungen, z.B. Satzungen einer Gemeinde, eines Landkreises oder eines Zweckverbandes.

Den Antrag kann nach § 47 Abs. 2 VwGO jede natürliche oder juristische Person stellen, die geltend macht, durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in ihren Rechten verletzt zu sein (konkrete Normenkontrollklage) oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden, sowie jede Behörde innerhalb eines Jahres nach Bekanntmachung der Rechtsvorschrift (abstrakte Normenkontrollklage).

Der Antrag ist gegen die Körperschaft, Anstalt oder Stiftung zu richten, welche die Rechtsvorschrift erlassen hat. Das Gericht entscheidet über die Gültigkeit der Norm durch Urteil, wenn eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, sonst durch Beschluss.

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4.2.7 Zulässigkeit der Klage

Ziel einer Klage ist die Entscheidung des Gerichts in der streitigen Sache (Sachurteil). Bevor ein Sachurteil ergehen kann, ist die Zulässigkeit der Klage zu prüfen.

Das Vorliegen der Sachurteilsvoraussetzungen für die Klage muss ein Gericht von Amts wegen in jeder Lage des Verfahrens und in jeder Instanz prüfen.

Die Zulässigkeitsvoraussetzungen (Sachurteilsvoraussetzungen) brauchen nicht schon bei Klageerhebung vorzuliegen. Sie müssen spätestens zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung gegeben sein, sofern gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. Anderenfalls wird die Klage durch Prozessurteil als unzulässig abgewiesen. Lediglich bei Unzulässigkeit des Rechtswegs oder bei örtlicher bzw. sachlicher Unzuständigkeit wird der Rechtsstreit durch Beschluss an das zuständige Gericht verwiesen (vgl. für die Rechtswegverweisung § 202 SGG i.V.m. § 17a GVG bzw. § 173 VwGO i.V.m. § 17a GVG; für die sachliche oder örtliche Unzuständigkeit § 98 SGG i.V.m. § 17a GVG bzw. § 83 VwGO i.V.m. § 17a GVG).

Zu unterscheiden sind die allgemeinen Sachurteilsvoraussetzungen, die für die Zulässigkeit jeder Klage erfüllt sein müssen, und die besonderen Sachurteilsvoraussetzungen, die für bestimmte Klagearten zusätzlich vom Gesetz gefordert werden.

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4.2.7.1 Allgemeine Sachurteilsvoraussetzungen

Allgemeine Sachurteilsvoraussetzungen sind der Rechtsweg und die örtliche und sachliche Zuständigkeit des angegangenen Gerichts (vgl. 4.2.3). Sie sind als erstes zu prüfen.

Die Verfahrensbeteiligten (Kläger, Beklagter und Beigeladener) müssen beteiligtenfähig sein (vgl. 4.4.1.5.1).

Die Prozessführungsbefugnis muss gegeben sein. Zur Führung des Prozesses ist nur derjenige berechtigt, dem das geltend gemachte Recht nach eigenem Vorbringen zustehen kann (Prozessführungsbefugnis). Eine Klage zur Verfolgung „fremder" Rechte im eigenen Namen ist grundsätzlich unzulässig. Ausnahmen normieren z.B. § 63 SGB IX und § 12 Behindertengleichstellungsgesetz. Danach können Behindertenverbände unter bestimmten Voraussetzungen anstelle behinderter Menschen um Rechtsschutz ersuchen.

Ordnungsmäßige Klageerhebung im Sinn von § 90 SGG bzw. 81 VwGO. Dazu vgl. auch 4.4.1.3. Die Klage muss schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle beim zuständigen Gericht erhoben sein. Eine mündlich oder telefonisch erhobene Klage ist unzulässig. Eine Klage per Telefax genügt dem Erfordernis der Schriftform, wenn das Original der Klageschrift eigenhändig unterschrieben wurde. In elektronischer Form ist die Klageerhebung erst zulässig, wenn eine Rechtsverordnung der Bundesregierung oder einer Landesregierung nach § 65a SGG bzw. § 55a VwGO erlassen worden ist und dies gestattet.

  • Es muss ein Rechtsschutzbedürfnis bestehen. Dieses fehlt, wenndas Klagebegehren auf einem „einfacheren" Weg, z.B. durch einen Antrag bei der zuständigen Behörde erreicht werden oder
  • die Klage unter keinem denkbaren Gesichtspunkt zu einem rechtlichen Vorteil des Klägers führen kann oder
  • die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes rechtsmissbräuchlich

Eine Klage ist nicht zulässig, wenn dieselbe Streitsache bereits rechtshängig ist (§ 94 SGG, § 202 SGG i.V.m. § 17 Abs. 1 S. 2 GVG bzw. § 90 VwGO, § 88 VwGO i.V.m. § 17 Abs. 1 S. 2 GVG). Mit dieser Regelung sollen vor allem sich widersprechende Gerichtsentscheidungen vermieden werden. Die Sperrwirkung bezieht sich auf die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger (§ 141 Abs. 1 Nr. 1 SGG bzw. § 121 Nr. 1 VwGO).

Schließlich ist die Klage unzulässig, wenn es bereits ein rechtskräftiges Urteil in Bezug auf einen identischen, nun abermals anhängig gemachten Streitgegenstand mit denselben Beteiligten oder ihren Rechtsnachfolgern gibt (§ 141 Abs. 1 Nr. 1 SGG bzw. § 121 Nr. 1 VwGO).

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4.2.7.2 Besondere Sachurteilsvoraussetzungen

Die besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen richten sich nach der statthaften Klageart. Zu den Klagearten vgl. 4.2.6 mit den Unterpunkten.

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a) Vorverfahren

Vor Erhebung der Anfechtungsklage gem. § 54 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 und 2 SGG bzw. § 42 Alt. 1 VwGO und der Ablehnungsgegenklage gem. § 54 Abs. 1 Alt. 3 SGG bzw. § 42 Alt. 2 VwGO muss in der Regel das Vorverfahren gem. §§ 78 ff. SGG bzw. §§ 68 ff. VwGO durchgeführt worden sein, weil sich beide Klagearten gegen einen Verwaltungsakt richten. Dies gilt auch bei einer Kombination dieser Klagearten mit anderen Klagen, z.B. mit der Klage auf Leistung gem. § 54 Abs. 4 SGG (kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage). Zum Vorverfahren im Einzelnen vgl. 3.8. Wenn Klage erhoben worden ist, obwohl das erforderliche Vorverfahren nicht durchgeführt wurde, wenn also z.B. ohne Widerspruch direkt gegen den Entzug des Blindengeldes geklagt worden ist, kann das Widerspruchsverfahren nach Rechtshängigkeit noch nachgeholt werden. Wegen der von der Rechtsprechung zugelassenen Nachholung des erforderlichen Vorverfahrens während der Rechtshängigkeit scheitert die Zulässigkeit der Klage an dieser Voraussetzung praktisch nicht.

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b) Fristwahrung

Die Anfechtungs- und die Ablehnungsgegenklage sind - auch in Kombination mit anderen Klagearten - an eine Frist gebunden. Sie sind nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts oder des Widerspruchsbescheids gem. § 87 Abs. 1 S. 1 und 2 SGG bzw. § 74 VwGO innerhalb eines Monats zu erheben. Bei Bekanntgabe im Ausland verlängert sich diese Frist nach § 87 Abs. 1 S. 2 SGG auf 3 Monate. Die Klage ist bei Versäumung der Klagefrist unzulässig, soweit nicht nach § 67 SGG bzw. § 60 VwGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird. Nach diesen Vorschriften ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Ein typisches Beispiel ist, dass ein Schriftstück nach Fristablauf bei Gericht eingegangen ist, obwohl es rechtzeitig zur Post gegeben wurde.

Die Fristberechnung erfolgt nach § 64 SGG bzw. § 57 VwGO. Nach § 64 Abs. 1 SGG beginnt die Frist am Tag nach der Bekanntgabe oder der Zustellung des Verwaltungsakts/Widerspruchsbescheids und endet gemäß § 64 Abs. 2 SGG mit Ablauf des Tages, der im folgenden Monat (oder Jahr bei fehlender Rechtsbehelfsbelehrung gemäß § 66 Abs. 2 S. 1 SGG) nach seiner Zahl dem Tag der Bekanntgabe oder Zustellung entspricht. Wenn das Ende einer Frist auf einen Sonntag, einen gesetzlichen Feiertag oder einen Sonnabend fällt, endet die Frist mit Ablauf des nächsten Werktags (§ 64 Abs. 3 SGG). Die Klagefrist gilt als gewahrt, wenn die Klageschrift innerhalb der Frist statt bei dem zuständigen Sozialgericht bei den in § 91 Abs. 1 SGG genannten Stellen eingegangen ist. Diese haben die Klageschrift unverzüglich an das zuständige Sozialgericht abzugeben.

Nach § 57 Abs. 2 VwGO gelten im Verwaltungsgerichtsverfahren für die Fristen die Vorschriften der §§ 222, 224 Abs. 2 und 3, §§ 225 und 226 der Zivilprozessordnung. § 222 Abs. 1 ZPO verweist für die Fristberechnung auf die Vorschriften des BGB (§§ 186 ff. BGB). § 188 BGB entspricht für den Ablauf von Fristen § 64 Abs. 2 SGG, § 193 BGB entspricht § 64 Abs. 3 SGG, wonach eine Frist am nächsten Werktag endet, wenn das Ende auf einen Sonntag, einen Feiertag oder auf einen Sonnabend fällt.

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c) Klagebefugnis bei der Anfechtungsklage

Nach § 54 Abs. 1 S. 2 SGG bzw. § 42 Abs. 2 VwGO sind die Anfechtungs- und Ablehnungsgegenklage zulässig, wenn der Kläger behauptet, durch den Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt zu sein (Klagebefugnis). Sinn und Zweck der Regelung ist der Ausschluss von Popularklagen. Nach dem Vortrag des Klägers müssen die Beeinträchtigung einer ihm zustehenden Rechtsposition und die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts möglicherweise in Betracht kommen (Möglichkeitstheorie). Ob die Beschwer tatsächlich besteht, ist in der Begründetheitsprüfung zu klären (Haufe Onlinekommentar Rz. 18 zu § 54 SGG). Der Kläger muss die Beschwer nicht ausdrücklich vortragen. Andererseits reicht es nicht aus, wenn er sich für beschwert hält und dies behauptet, obwohl eine Beschwer unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt in Betracht kommt. Eine mögliche Verletzung in eigenen Rechten ist immer dann gegeben, wenn der Kläger Adressat eines belastenden Verwaltungsakts (ablehnender Bescheid, Aufhebungs- und Erstattungsbescheid) ist (Adressatentheorie). Nur dann, wenn es ausnahmsweise gesetzlich vorgesehen ist, darf ein Kläger fremde Rechte einklagen (Prozessstandschaft). Eine solche Regelung enthält z.B. § 63 SGB IX. Danach können an Stelle behinderter Menschen und mit ihrem Einverständnis Verbände klagen, die nach ihrer Satzung diesen Personenkreis auf Bundes- oder Landesebene vertreten und nicht selbst am Prozess beteiligt sind, wenn behinderte Menschen in ihren Rechten nach dem SGB IX verletzt werden. In diesem Fall müssen alle Verfahrensvoraussetzungen wie bei einer Klage durch den behinderten Menschen selbst vorliegen. Eine entsprechende Regelung enthalten § 13 des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) sowie die entsprechenden Bestimmungen in den Landesgleichstellungsgesetzen für die sich aus diesen Gesetzen ergebenden Rechte. Vgl. dazu auch 2.2.1.2. Weitere Beispiele einer zulässigen Prozessstandschaft enthält Haufe Onlinekommentar Rz. 19 zu § 54 SGG.

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d) Klagebefugnis bei der Leistungsklage

Obwohl das Gesetz die Klagebefugnis nur für die Anfechtungs- und die Ablehnungsgegenklage fordert (§ 54 Abs. 1 S. 2 SGG bzw. § 42 Abs. 2 VwGO), wird sie vom BSG und der h. M. auch bei der (echten) Leistungsklage, der kein Verwaltungsakt vorausgeht, verlangt. Die §§ 54 Abs. 1 s. 2 SGG bzw. § 42 Abs. 2 VwGO sind hier analog anzuwenden; denn das Interesse, Popularklagen auszuschließen, gilt hier in gleicher Weise (Haufe Onlinekommentar Rz. 20 zu § 54 SGG). Auch mit der Leistungsklage werden subjektive Rechte geltend gemacht.

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e) Klagebefugnis bei der Feststellungsklage

Bei der Feststellungsklage (§ 55 Abs. 1 SGG bzw. § 43 Abs. 1 VwGO) ist die Klagebefugnis gegeben, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat. Berechtigtes Interesse ist jedes nach der Sachlage vernünftigerweise gerechtfertigte Interesse, das rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art sein kann (BSGE Bd. 31, S. 235). Ferner besteht das Feststellungsinteresse, wenn die Feststellung als Vorfrage für einen Amtshaftungsprozess dienen soll. Das kann insbesondere bei der Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 131 Abs. 1 S. 3 SGG bzw. § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO) der Fall sein.

Das Feststellungsinteresse fehlt z.B., wenn die Streitfrage im Verwaltungsverfahren geklärt werden kann. Die Feststellungsklage ist nicht zulässig, wenn das Rechtsschutzziel mit einer anderen Klageart erreicht werden kann (Subsidiarität der Feststellungsklage; vgl. § 43 Abs. 2 VwGO). Obwohl eine § 43 Abs. 2 VwGO entsprechende Bestimmung im SGG fehlt, gilt der Subsidiaritätsgrundsatz auch für die sozialgerichtliche Feststellungsklage. Die Feststellungsklage ist insbesondere dann unzulässig, wenn sie eine Umgehung der prozessualen Voraussetzungen zur Erhebung der Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage bedeuten würde. Eine mehrfache Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtschutzes soll vermieden werden. Das Gericht soll in der gleichen Sache nicht zunächst durch die Feststellungsklage und anschließend durch eine Gestaltungsklage in Anspruch genommen werden können (Haufe Onlinekommentar Rz. 17). Der Subsidiaritätsgrundsatz erfährt eine bedeutsame Ausnahme: Er gilt dann nicht, wenn die Feststellung gegenüber einer juristischen Person des öffentlichen Rechts ergehen soll. Dann geht die allgemeine Auffassung davon aus, dass diese angesichts ihrer Bindung an Gesetz und Recht die gerichtliche Feststellung umsetzen wird und es eines vollstreckbaren Verpflichtungs- oder Leistungsurteils nicht bedarf (BSGE Bd. 71, S. 115, Haufe Onlinekommentar Rz. 17 zu § 55 SGG).

Die Feststellungsklage ist ferner erst dann zulässig, wenn der Kläger zuvor die Feststellung bei dem Sozialleistungsträger beantragt und ein Verwaltungsverfahren stattgefunden hat (BSG, SozR 1500 § 55 Nr. 27). Lediglich im Falle der Untätigkeit der Behörde kann unmittelbar - ohne vorherige Untätigkeitsklage i.S. des § 88 SGG -Feststellungsklage erhoben werden (Haufe Onlinekommentar Rz. 18 zu § 55 SGG).

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f) Klagebefugnis bei der Untätigkeitsklage

Voraussetzung für die Zulässigkeit der Untätigkeitsklage ist die Einhaltung der Wartefristen gem. § 88 SGG bzw. § 75 VwGO. Die Wartefrist beträgt gem. § 88 Abs. 1 SGG nach Antrag auf Erlass eines Verwaltungsaktes sechs Monate. Nach Erhebung des Widerspruchs beträgt sie drei Monate (§ 88 Abs. 2 SGG). Im Verwaltungsgerichtsprozess beträgt die Wartefrist gemäß § 75 S. 2 VwGO sowohl nach Antrag auf Erlass eines Verwaltungsaktes als auch nach Erhebung des Widerspruchs drei Monate. Die §§ 88 SGG und 75 VwGO weichen auch ansonsten nicht unerheblich voneinander ab. So sieht § 75 VwGO z.B. eine im SGG nicht vorgesehene Verkürzung der Frist wegen besonderer Umstände vor. Die Untätigkeitsklage im Sozialgerichtsprozess ist ein Unterfall der Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG. Zum Unterschied zwischen § 88 SGG und § 75 VwGO vgl. BSG, Urteil v. 08.12.1993, AZ. 14a RKa 1/93, BSGE Bd. 73, S. 244, 247.

Durch die Wartefristen soll den Behörden eine angemessene Zeit für das Verwaltungshandeln eingeräumt werden.

Wenn die Untätigkeitsklage schon vor Ablauf der Wartefrist erhoben worden ist, ist sie nicht als unzulässig abzuweisen. Vielmehr ist das Verfahren nach überwiegender Auffassung bis zum Fristablauf auszusetzen. Wenn bis zum Ablauf der Frist die Untätigkeit fortdauert, ist der Zulässigkeitsmangel geheilt (vgl. BSG, Urteil v. 26.8.1994, 13 RJ 17/94, SozR 3-1500 § 88 Nr. 2 m.w.N.; vgl. Haufe Onlinekommentar Rz. 9 zu § 88 SGG auch zu abweichenden Meinungen).

Wenn die Behörde den Verwaltungsakt bzw. Widerspruchsbescheid nach Erhebung der Untätigkeitsklage erlässt, fehlt für deren Weiterführung das Rechtsschutzbedürfnis. Sie muss deshalb für erledigt erklärt oder zurückgenommen werden. Anderenfalls wird die Untätigkeitsklage als unzulässig abgewiesen. Gegen den Verwaltungsakt kann dann gegebenenfalls Widerspruch erhoben werden. Die Untätigkeitsklage kann aber auch gegebenenfalls gemäß § 99 SGG bzw. § 91 VwGO in eine Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage geändert werden.

In der Praxis führt die Androhung einer Untätigkeitsklage gegenüber einer Behörde häufig zu einer raschen Entscheidung.

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4.2.8 Begründetheit der Klagen

Die folgenden Ausführungen sind weitgehend dem Kapitel „4.5 Varianten der Begründetheit“ aus Francke/Dörr „Verfahren nach dem Sozialgerichtsgesetz“ S. 94 ff. entnommen.

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4.2.8.1 Differenzierung nach Klagearten
a) Begründetheit der Anfechtungs- und Ablehnungsgegenklage

Die Anfechtungsklage und die Ablehnungsgegenklage sind begründet, wenn der angefochtene Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist.

Für die Anfechtungs- und Ablehnungsgegenklage (§ 54 Abs. 1 S. 1 Alt. 1-3 SGG bzw. § 42 VwGO) bestimmt § 54 Abs. 2 S. 1 SGG bzw. § 113 Abs. 1 s. 1 VwGO, dass der Kläger beschwert ist, wenn der Verwaltungsakt oder die Ablehnung eines Verwaltungsakts rechtswidrig ist. Da ein Verwaltungsakt auch rechtswidrig sein kann, ohne den Kläger zugleich zu beschweren, kommt es für die Begründetheit der Klage zusätzlich darauf an, dass der Kläger durch den rechtswidrigen Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt ist. Das ergibt sich für das Verwaltungsgerichtsverfahren aus § 113 Abs. 1 S. 1 und Abs. 5 S. 1 VwGO und für das Sozialgerichtsverfahren aus einer Analogie zu § 113 Abs. 1 S. 1 und Abs. 5 S. 1 VwGO, der im SGG in dieser Form keine Entsprechung hat.

Rechtswidrig kann ein Verwaltungsakt aus materiellen oder formalen Gründen sein.

Materielle Fehler entstehen, wenn dem Verwaltungsakt keine oder eine falsche Rechtsgrundlage zugrunde liegt, die Rechtsgrundlage nicht mit höherrangigem Recht vereinbar ist, die Voraussetzungen der Rechtsgrundlage nicht erfüllt sind oder die Behörde ihre Entscheidung aufgrund unzutreffender Tatsachen getroffen hat. Materiell rechtswidrig ist ein Verwaltungsakt auch dann, wenn die Verwaltung ein ihr zustehendes Ermessen fehlerhaft ausgeübt hat (§ 54 Abs. 2 S. 2 SGG bzw. § 114 VwGO).

Formale Fehler eines Verwaltungsakts spielen für die Begründetheit der Klage nur eine geringe Rolle, da gerade die häufiger auftretenden formalen Mängel (beschrieben in § 41 Abs. 1 Nr. 2 bis 6 SGB X und den entsprechenden Bestimmungen der Verwaltungsverfahrensgesetze) noch in den Tatsacheninstanzen nachgeholt und dadurch geheilt werden können (vgl. § 41 Abs. 2 SGB X bzw. die entsprechenden Bestimmungen in den Verwaltungsverfahrensgesetzen) und das Gericht, das Verfahren zu diesem Zweck aussetzen kann (§ 114 Abs. 2 S. 2 SGG). Überdies dürfen selbst mit formalen Fehlern behaftete Verwaltungsakte vom Gericht dann nicht aufgehoben werden, wenn sie die Entscheidung der Verwaltung in der Sache offensichtlich nicht beeinflusst haben (§ 42 S. 1 SGB X). Das gilt wegen der besonderen Bedeutung der Anhörung in Verwaltungsverfahren (§ 24 SGB X) nicht bei Anhörungsmängeln (§ 42 S. 2 SGB X). Eine unterlassene Anhörung muss, um den Formfehler zu heilen, stets nachgeholt werden.

Für die Ablehnungsgegenklage ist zu beachten: Sie ist begründet, wenn die Rechtsverletzung darin besteht, dass ein Anspruch des Klägers auf den abgelehnten Verwaltungsakt verneint wurde. Anderenfalls fehlt für eine Verurteilung zum Erlass des Verwaltungsakts die Spruchreife (§ 131 Abs. 2 SGG bzw. § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).

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b) Begründetheit der Verpflichtungsklage

Wenn der Kläger einen Verwaltungsakt begehrt, bei dessen Erlass die Behörde ein Ermessen hat, muss sein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung (§ 39 Abs. 1 S. 2 SGB I) verletzt sein. In diesem Fall verpflichtet das Gericht die Verwaltung zur Neubescheidung des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts (§ 131 Abs. 3 SGG bzw. § 113 Abs. 5 S. 2 VwGO).

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c) Begründetheit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage

Die unechte Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG bzw. § 42 VwGO) als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage ist begründet, wenn der angefochtene Verwaltungsakt rechtswidrig ist und der Kläger einen Rechtsanspruch auf die begehrte Leistung hat.

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d) Begründetheit der allgemeinen Leistungsklage

Die allgemeine Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG) ist begründet, wenn der Kläger einen Rechtsanspruch auf eine bestimmte Leistung hat, ohne dass ein Verwaltungsakt zu ergehen hatte.

Unter „Leistung" ist hier jegliches Tun oder Unterlassen einer Verwaltung zu verstehen, das nicht in einem Verwaltungsakt besteht oder für das eine besondere Klageart in Betracht kommt. Einen Rechtsanspruch hat der Kläger, wenn ihm ein subjektives Recht auf die Leistung zusteht.

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e) Begründetheit der Feststellungsklage

Die Begründetheit der Feststellungsklage beurteilt sich nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 und Abs. 2 SGG bzw. § 43 VwGO in Verbindung mit dem im einzelnen Fall anzuwendenden materiellen Recht.

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f) Begründetheit der Fortsetzungsfeststellungsklage

Die Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 131 Abs. 1 S. 3 SGG bzw. bzw. § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO) ist bei Rechtswidrigkeit des erledigten Verwaltungsakts begründet.

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g) Begründetheit der Untätigkeitsklage

Klagegegenstand der Untätigkeitsklage gem. § 88 SGG bzw. § 75 S. 1 VwGO ist nur die Bescheidung des Klägers, nicht jedoch der materielle Leistungsanspruch. Die Untätigkeitsklage ist schon und nur dann begründet, wenn ein zureichender Grund (§ 88 Abs. 1 S. 1 SGG bzw. § 75 S. 3 VwGO) für die unterbliebene Bescheidung fehlt. Ein „zureichender Grund“ kann zwar in einer Arbeitsüberlastung auf Grund einer gesetzlichen Neuregelung, nicht aber im Personalmangel allgemein liegen.

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4.2.8.2 Maßgebende Zeitpunkte für die Beurteilung der Begründetheit

Wegen der unterschiedlichen Anforderungen für die Begründetheit der einzelnen Klagearten sind für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage je nach Klageart unterschiedliche Zeitpunkte zu Grunde zu legen. Die damit verbundenen Fragen spielen vor allem im Zusammenhang mit Anfechtungs- und Leistungsklagen eine Rolle.

Bei der Anfechtungsklage ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Verwaltungsakts (in Gestalt des Widerspruchsbescheids, § 95 SGG bzw. § 79 VwGO) maßgebend. Spätere tatsächliche oder rechtliche Änderungen können die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts nicht mehr beeinflussen. Sie sind deshalb bei der gerichtlichen Entscheidung nicht zu berücksichtigen.

Ausnahmsweise kommt es bei der Anfechtungsklage auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung an, wenn ein vermeintlich rechtswidriger, tatsächlich aber rechtmäßiger Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, der in die Zukunft wirkt, angefochten ist; denn diesen kann die Änderung tatsächlicher oder rechtlicher Gegebenheiten während des Klageverfahrens rechtlich beeinflussen.

Bei den Leistungsklagen ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, im Allgemeinen also der letzten mündlichen Verhandlung, maßgebend, und zwar auch bei Kombination mit einer Anfechtungsklage (wie z.B. bei § 54 Abs. 4 SGG). In Bezug auf die Sachlage ist dies die letzte mündliche Verhandlung in einer Tatsacheninstanz (Sozial- oder Landessozialgericht bzw. Verwaltungs- oder Oberverwaltungsgericht), in Bezug auf die Rechtslage im Revisionsfall die letzte mündliche Verhandlung beim Bundessozialgericht bzw. Bundesverwaltungsgericht (Schluss aus § 163 SGG bzw. § 137 Abs. 2 VwGO). Wenn keine Revision eingelegt wird, ist auch in Bezug auf Rechtsfragen die letzte mündliche Verhandlung in der Tatsacheninstanz der maßgebende Zeitpunkt.

Beispiel: Der Kläger erhebt Klage gegen die Ablehnung seines Antrages auf Blindengeld (nach einem Landesblindengeldgesetz). Die Klage wird in der ersten Instanz abgewiesen, weil das Vorliegen des gewöhnlichen Aufenthalts im Sinn von § 30 Abs. 1 SGB I verneint wird. Das Berufungsgericht bejaht demgegenüber das Vorliegen des gewöhnlichen Aufenthalts. Es hebt das Ersturteil auf und spricht den Blindengeldanspruch zu. Für die Frage, ob ein gewöhnlicher Aufenthalt gegeben ist, kommt es in diesem Fall auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung an, weil es sich bei dem Blindengeld um eine Dauerleistung handelt (Urteil des OVG für Nordrhein-Westfalen vom 24.04.2008 - 16 A 3089/07).

Weiteres Beispiel: Der Kläger erhebt Klage gegen die Ablehnung seines Antrages auf Blindengeld (nach einem Landesblindengeldgesetz). Die Klage wird in der ersten Instanz abgewiesen, weil das Sehvermögen noch knapp über 1/50 liege. In der Berufungsverhandlung legt der Kläger ein neues Gutachten vor, wonach sich das Sehvermögen zwischenzeitlich weiter verschlechtert hat, so dass nunmehr der Anspruch gerechtfertigt ist. Das Ersturteil ist aufzuheben und Blindengeld ab dem Zeitpunkt zuzusprechen, ab welchem die gesetzlichen Voraussetzungen vorgelegen haben.

Folgendes Beispiel ist Francke/Dörr „Verfahren nach dem Sozialgerichtsgesetz“ (dort S. 98 Beispiel 27) entnommen: Die Klägerin begehrt mit der Ablehnungsgegenklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 3 SGG) vom beklagten Land die Erhöhung des mit Bescheid zuerkannten Grades der Behinderung von 40 % auf 60 %. Während des - nach Klageabweisung durch das Sozialgericht angestrengten - Berufungsverfahrens erleidet die Klägerin am 15.5. eine weitere Gesundheitsstörung mit Funktionsbeeinträchtigung des Bewegungsapparats. Das Landessozialgericht muss diese neue Sachlage bei seiner Entscheidung über den zukünftigen Gesamtbehinderungsgrad (am 15.9.) berücksichtigen und der Berufung ggf. stattgeben.

Bei der Ablehnungsgegenklage kann ausnahmsweise der Zeitpunkt der Bescheiderteilung maßgebend sein, wenn dem Kläger die Leistung nach der Rechtslage zu diesem Zeitpunkt zu Unrecht vorenthalten wurde und wegen einer danach zu seinen Ungunsten erfolgten Gesetzesänderung nun nicht mehr zuerkannt werden dürfte.

Bei im Klageweg angefochtenen Ermessensentscheidungen der Verwaltung ist für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage immer der Zeitpunkt der Verwaltungsentscheidung maßgebend, weil das Gericht nicht eigene Ermessenserwägungen an die Stelle derjenigen der Verwaltung setzen darf.

Bei der Untätigkeitsklage gem. § 88 SGG bzw. § 75 VwGO kommt es auf einen maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage nicht an, da die Verwaltung noch keine Entscheidung in Form eines Verwaltungsakts oder Widerspruchsbescheids getroffen hat.

Zum Ganzen vgl. Francke/Dörr „Verfahren nach dem Sozialgerichtsgesetz“ S. 97 f., insbesondere die dort enthaltenen Beispiele.

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4.2.9 Verfahrensgrundsätze

Die im Folgenden behandelten Verfahrensgrundsätze gelten für alle Instanzen.

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4.2.9.1 Rechtliches Gehör

Beim Anspruch auf rechtliches Gehör handelt es sich um ein verfassungsrechtlich gewährleistetes prozessuales Grundrecht (Art. 103 Abs. 1 GG). Seine einfachgesetzliche Ausformung findet der Grundsatz nicht nur in § 62 SGG, sondern auch in zahlreichen weiteren Regelungen des SGG, z.B. in §§ 104, 105 Abs. 1 S. 2, 108, 112 Abs. 2, 116, 120 und 128 SGG. Für die VwGO vgl. §§ 85 S. 2, 86 Abs. 4, 87 Abs. 1 Nr. 2, 87b Abs. 1, 97, 100, 103 und 108. Auf einige dieser Regelungen wird im Folgenden näher eingegangen.

Vor jeder Entscheidung des Gerichts ist den Beteiligten i.S.v. § 69 SGG bzw. § 62 VwGO rechtliches Gehör zu gewähren (§ 62 SGG; zum Begriff der Beteiligten vgl. 4.4.1.5.1). Das gilt für alle Verfahrensarten einschließlich des vorläufigen Rechtsschutzes und unabhängig davon, ob das Gericht auf Grund mündlicher Verhandlung (§ 124 Abs. 1 SGG bzw. § 101 Abs. 1 VwGO) oder im schriftlichen Verfahren (§ 124 Abs. 2, § 126 SGG bzw. § 101 Abs. 2 VwGO) entscheidet. Die Anhörung kann schriftlich oder elektronisch geschehen.

Keine Anhörung ist bei der Verbindung oder Trennung von Verfahren, bei der Beiladung, dem Erlass eines Beweisbeschlusses sowie der Aufnahme eines ausgesetzten oder ruhenden Verfahrens erforderlich (Haufe Onlinekommentar Rz. 1 zu § 62 SGG).

Die Beteiligten haben nach dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs das Recht, sich vor Erlass einer gerichtlichen Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gegenüber dem Gericht zu äußern. Der Anhörung des Betroffenen selbst steht die Anhörung seines gesetzlichen Vertreters oder Bevollmächtigten gleich.

Der Anspruch auf Beachtung des rechtlichen Gehörs wirkt sich auf das gesamte Verfahren aus. Er ist bereits bei der Vorbereitung des Verfahrens zu beachten.

Die Beteiligten sind im gesamten gerichtlichen Verfahren über alle prozessrechtlich relevanten Vorgänge zu unterrichten. Dazu gehört die Übermittlung der Schriftsätze der übrigen Beteiligten nach § 104 und § 108 S. 2, SGG bzw. § 86 Abs. 4 S. 3 VwGO, ferner die Mitteilung der von Amts wegen durchgeführten Ermittlungen, wie etwa Auskunftsersuchen, Beweisbeschlüsse einschließlich der Ergebnisse der Sachaufklärungsmaßnahmen. Hierzu gehört auch die Mitteilung, dass vom Gericht veranlasste Aufklärungsversuche gescheitert sind, damit der die objektive Beweislast tragende Beteiligte die Möglichkeit hat, auf anderweitige Wege der Sachaufklärung hinzuweisen (Haufe Onlinekommentar Rz. 2 zu § 62 SGG; BSG, Beschluss v. 6.2.2007, B 8 KN 16/05 B = SozR 4-1500 Nr.). Soweit Beweisaufnahmetermine stattfinden, ist eine Benachrichtigung der Beteiligten erforderlich, insbesondere damit sie auch Gelegenheit haben, ihrerseits Fragen zu stellen (§ 116 SGG bzw. § 97 VwGO). Werden Akten oder etwa Röntgenbilder beigezogen, sind die Beteiligten hiervon zu unterrichten. Sie können ggf. Akteneinsicht nach § 120 SGG bzw. § 100 VwGO nehmen.

Für die Gerichte ergibt sich aus dem Anhörungsrecht der Beteiligten die Verpflichtung, diese zur Sach- und Rechtslage anzuhören und ihnen insbesondere in Bezug auf die Tatsachen ausreichend Gelegenheit zur Äußerung zu geben. § 112 Abs. 2 S. 2 SGG bzw. § 104 Abs. 1 VwGO verlangt darüber hinaus vom Vorsitzenden die Erörterung des Sach- und Streitverhältnisses mit den Beteiligten, d.h. auch der Rechtslage, soweit dies möglich ist, ohne den Eindruck der Befangenheit zu erwecken (§ 60 Abs. 1 SGG i.V.m. § 42 ZPO). Aus dieser Verpflichtung ergibt sich das Verbot einer Überraschungsentscheidung. D.h. eine Entscheidung darf nicht auf Gesichtspunkte gestützt werden, zu denen die Beteiligten nicht Stellung genommen haben, weil dazu aus ihrer Sicht keine Veranlassung bestand. Dementsprechend kann die Entscheidung nicht auf Gründe gestützt werden, die im Verfahren zu keinem Zeitpunkt erörtert worden sind (§ 128 Abs. 2 SGG bzw. § 108 Abs. 2 VwGO). Wenn in der mündlichen Verhandlung neue Tatsachen oder rechtliche Gesichtspunkte zutage treten, zu denen sich die Beteiligten bislang nicht äußern konnten, muss das Gericht einem Vertagungsantrag entsprechen und eine angemessene Frist zur Stellungnahme einräumen (Haufe Onlinekommentar Rz. 8 zu § 62 SGG; BSG, SozR 4-1500 § 62 Nr. 1).

Zum rechtlichen Gehör gehört auch, dass das Gericht den Vortrag der Beteiligten in seine Erwägungen einbezieht. Daraus folgt, dass in den Entscheidungsgründen zu den wesentlichen Punkten des Vortrags Stellung genommen werden muss (Haufe Onlinekommentar Rz. 9 zu § 62 SGG; BVerfG, SozR 1500 § 62 Nr. 13).

Keine Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt vor, wenn die Beteiligten Gelegenheit zur Äußerung erhalten, tatsächlich aber nicht Stellung genommen haben.

Ein Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs stellt einen Grund für die Zulassung der Berufung (§ 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG bzw. § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) oder der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 3 Halbs. 1 SGG bzw. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) dar. Die angefochtene Entscheidung muss auf dem Mangel beruhen. Dabei genügt, dass die Möglichkeit einer anderen Entscheidung besteht (BSG, SozR 3-1500 § 62 Nr. 21; BSG, SozR 3-1750 § 227 ZPO Nr. 1). Im Berufungsverfahren kommt eine Heilung des Mangels in Betracht, wenn der Beteiligte nachträglich die Gelegenheit erhält, sich ausreichend zu äußern (BSGE 44 S. 211; BVerfGE 8 S. 184).

Gegen unanfechtbare Urteile und Beschlüsse ist bei Verletzung des rechtlichen Gehörs der Rechtsbehelf der Anhörungsrüge nach § 178a SGG bzw. § 152a VwGO (eingefügt durch das Anhörungsrügengesetz vom 9.12. 2004, BGBl. I S. 3220) möglich. Danach können bei Verletzung des rechtlichen Gehörs unter bestimmten Voraussetzungen nicht mehr anfechtbare gerichtliche Endentscheidungen von dem Gericht, das die Entscheidung erlassen hat, überprüft werden. Ggf. wird das Rechtsbehelfsverfahren wieder eröffnet. Wenn die Rüge begründet ist, hilft ihr das Gericht ab, indem es das Verfahren fortführt, soweit dies aufgrund der Rüge geboten ist. Das Verfahren wird in die Lage zurückversetzt, in der es sich vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung befand.

Weil die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 103 GG ist, kommt sogar eine Verfassungsbeschwerde in Frage. Allerdings muss die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör vorher in einer Anhörungsrüge geltend gemacht worden sein.

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4.2.9.2 Mündliche Verhandlung, Öffentlichkeit des Verfahrens

Im Mittelpunkt des gerichtlichen Verfahrens steht die mündliche Verhandlung. Die Sozial- und Verwaltungsgerichte entscheiden über den Rechtsstreit mit Urteil soweit nichts anderes bestimmt ist aufgrund mündlicher Verhandlung (§ 124 Abs. 1, SGG bzw. § 101 Abs. 1 VwGO). Andere Entscheidungen des Gerichts, wie z.B. Beweisbeschlüsse, können ohne mündliche Verhandlung ergehen, soweit nichts anderes bestimmt ist (§ 124 Abs. 3 SGG bzw. § 101 Abs. 3 VwGO).

Die Bedeutung der mündlichen Verhandlung liegt nicht nur in der umfassend möglichen Verwirklichung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, sondern auch in der direkten Erörterung von Zweifelsfragen und der Unmittelbarkeit des Eindrucks, den das Gericht von den agierenden Beteiligten sowie von Zeugen und Sachverständigen im Rahmen der Beweiserhebung gewinnt.

Die mündliche Verhandlung bedarf einer sorgfältigen Vorbereitung. Dieser dienen insbesondere die §§ 106 Abs. 2 und 3, 108, 110 und 111 SGG bzw. die §§ 87 Abs. 1, 86 Abs. 4, 102 und 87 VwGO.

Nach § 106 Abs. 2 SGG bzw. § 87 Abs. 1 VwGO hat der Vorsitzende (im Verwaltungsgerichtsverfahren der Vorsitzende oder der Berichterstatter) bereits vor der mündlichen Verhandlung alle Maßnahmen zu treffen, die notwendig sind, um den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen. Es herrscht der Grundsatz der Einheit der mündlichen Verhandlung, die erforderlichenfalls in mehreren Terminen stattfindet.

Der Vorbereitung dienen die Schriftsätze der Beteiligten (§ 108 SGG bzw. § 86 Abs. 4 VwGO). Nach § 110 Abs. 1 S. 1 SGG bzw. § 102 Abs. 1 VwGO bestimmt der Vorsitzende Ort und Zeit der mündlichen Verhandlung und teilt sie den Beteiligten in der Regel zwei Wochen vorher mit. Für das Bundesverwaltungsgericht beträgt die Ladungsfrist vier Wochen. In der Ladung sind die Beteiligten darauf hinzuweisen, dass bei ihrem Ausbleiben auch ohne sie, gegebenenfalls nach Aktenlage entschieden werden kann (§ 110 Abs. 1 S. 2 SGG bzw. § 102 Abs. 2 VwGO).

Der Vorsitzende (im Verwaltungsgerichtsverfahren der Vorsitzende oder der Berichterstatter) kann das persönliche Erscheinen eines Beteiligten zur mündlichen Verhandlung anordnen sowie Zeugen und Sachverständige laden (§ 111 Abs. 1 S. 1 SGG bzw. § 87 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 und 6 VwGO). Auf die Folgen des Ausbleibens ist dabei hinzuweisen. Bei Nichterscheinen eines Beteiligten trotz entsprechender Anordnung kann gegen ihn gemäß § 202 SGG i.V.m. § 141 Abs. 3 ZPO bzw. § 173 S. 1 VwGO i.V.m. § 141 Abs. 3 ZPO ein Ordnungsgeld wie gegen einen im Vernehmungstermin nicht erschienenen Zeugen festgesetzt werden.

Die Anordnung des persönlichen Erscheinens z.B. des Klägers kann sinnvoll sein, wenn sein schriftliches Vorbringen bzw. der schriftlich gestellte Antrag unklar ist oder wenn sich das Gericht von dem Prozessbeteiligten einen persönlichen Eindruck verschaffen will. Aber auch andere Gründe können für die Anordnung des persönlichen Erscheinens sprechen, z.B. die Möglichkeit, eine gütliche Einigung zu erreichen. Angeordnet kann auch das persönliche Erscheinen eines gesetzlichen Vertreters werden (vgl. Haufe Onlinekommentar Rz. 7 zu § 111 SGG).

Der Ablauf der mündlichen Verhandlung ist in den §§ 112 und 117 SGG bzw. §§ 103, 104 und § 96 VwGO geregelt.

Der Vorsitzende eröffnet und leitet die mündliche Verhandlung (§ 112 Abs. 1 S. 1 SGG bzw. § 103 Abs. 1 VwGO). Nach Aufruf der Sache stellt er als erstes die Anwesenheit der Beteiligten fest. Daraufhin beginnt die mündliche Verhandlung mit der Darstellung des Sachverhalts (§ 112 Abs. 1 S. 2 SGG bzw. § 103 Abs. 2 VwGO). Hierauf erhalten die Beteiligten das Wort, um ihre Anträge zu stellen und zu begründen (§ 112 Abs. 2 S. 1 SGG bzw. § 103 Abs. 3 VwGO). Als erstes wird das Wort dem Kläger erteilt. Der Vorsitzende hat das Sach- und Streitverhältnis mit den Beteiligten zu erörtern und dahin zu wirken, dass sie sich über erhebliche Tatsachen vollständig erklären sowie angemessene und sachdienliche Anträge stellen (§ 112 Abs. 2 S. 2 SGG bzw. § 104 Abs. 1 VwGO).

Die Beweiserhebung erfolgt in der mündlichen Verhandlung, soweit nicht ein besonderer Beweistermin erforderlich ist (§ 117 SGB bzw. § 96 VwGO).

Nach genügender Erörterung der Streitsache erklärt der Vorsitzende die mündliche Verhandlung für geschlossen (§ 121 SGG bzw. § 104 Abs. 3 S. 1 VwGO).

Die Beteiligten können bis zur Schließung der mündlichen Verhandlung neue Tatsachen vortragen und neue Beweismittel einbringen. Nach Schluss der mündlichen Verhandlung darf das Gericht weiteres Vorbringen nicht mehr berücksichtigen (§ 202 SGG bzw. § 173 S. 1 VwGO jeweils i.V.m. § 296 a S. 1 ZPO).

Wegen § 124 Abs. 1 SGG bzw. § 101 Abs. 1 VwGO müssen die Entscheidungsgrundlagen, auf die sich das Gericht im Urteil stützt, ausnahmslos Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sein. Dazu gehören die in § 106 Abs. 3 SGG bzw. § 87 Abs. 1 VwGO aufgeführten Beweismittel und Maßnahmen ebenso wie die vorbereitenden Schriftsätze (§ 108 SGG bzw. § 86 Abs. 4 VwGO) sowie die Akten der Verwaltung.

Die mündliche Verhandlung findet grundsätzlich öffentlich statt (§ 61 Abs. 1 SGG bzw. § 55 VwGO i.V.m. § 169 S. 1 ZPO). Zeitgemäßen Kommunikationsmöglichkeiten in der mündlichen Verhandlung („Videokonferenz") trägt § 128 a ZPO Rechnung, der über § 202 SGG bzw. § 173 S. 1 VwGO auch für das Sozialgerichtsverfahren gilt.

Für die Öffentlichkeit, Sitzungspolizei und Gerichtssprache gelten nach § 61 Abs. 1 SGG bzw. § 55 VwGO die §§ 169, 171b bis 191a des Gerichtsverfassungsgesetzes entsprechend.

Hinweis für die Praxis: Es ist zu empfehlen, mit den Parteien so rechtzeitig zum Gerichtstermin zu kommen, dass wenigstens ein vorausgehender Verhandlungstermin mitverfolgt werden kann und nicht vor dem Gerichtssaal bis zum Aufruf des eigenen Termins zu warten. Weil die Verhandlungen öffentlich sind, ist das möglich. Die in Gerichtsverhandlungen häufig unerfahrenen Parteien können so die Verhandlungsatmosphäre kennen lernen. Das wirkt erfahrungsgemäß sehr beruhigend.

Kommt es trotz Anberaumung eines Termins nicht zur Durchführung der mündlichen Verhandlung, weil die Beteiligten nicht erschienen sind, steht es im Ermessen des Gerichts, nach Lage der Akten zu entscheiden, wenn es die Beteiligten in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen hat (§ 126 SGG bzw. § 202 Abs. 2 VwGO). Dasselbe gilt, wenn die (nicht vollzählig) erschienenen Beteiligten die Entscheidung nach Aktenlage beantragen (§ 126 SGG). Bei der Entscheidung nach Aktenlage handelt es sich um eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung. Das Gericht kann aber auch die mündliche Verhandlung eröffnen und z.B. Beweis durch die Einvernahme von Zeugen erheben und dann auf Grund der mündlichen Verhandlung durch Urteil entscheiden (vgl. Haufe Rz. 4 zu § 126 SGG).

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4.2.9.3 Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung

Durch Urteil ohne mündliche Verhandlung darf das Gericht mit vorher erklärtem ausdrücklichem, eindeutigem und unbedingtem Einverständnis aller Prozessbeteiligten i.S.d. § 69 SGG bzw. § 63 VwGO entscheiden (§ 124 Abs. 2 SGG bzw. § 101 Abs. 2 VwGO). Haben nicht alle Beteiligten zugestimmt, kommt das dennoch ergehende Urteil verfahrensfehlerhaft zustande.

Das Gericht kann jedoch die mündliche Verhandlung auch dann durchführen, wenn sich alle Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 SGG bzw. § 101 VwGO).

Bei einem schriftlichen Urteil tritt an die Stelle der Verkündung (§ 132 SGG bzw. § 116 Abs. 1 VwGO) die Zustellung (§ 133 SGG bzw. § 116 Abs. 3 VwGO).

Schriftlich vorgetragene Tatsachen oder schriftlich bezeichnete Beweismittel können nur bis zur Aufgabe des schriftlichen Urteils durch die Geschäftsstelle zur Post berücksichtigt werden.

Will das Gericht unter den Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 S. 1 SGG bzw. § 84 Abs. 1 VwGO durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist, braucht keine mündliche Verhandlung stattzufinden. Die Beteiligten können jedoch nach Erlass des Gerichtsbescheids innerhalb der Rechtsmittelfrist die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragen (§ 105 Abs. 2 S. 3 SGG bzw. § 84 Abs. 2 VwGO). Der Gerichtsbescheid gilt dann als nicht ergangen und eine reguläre mündliche Verhandlung wird durchgeführt (§ 105 Abs. 3 HS 2 SGG bzw. § 84 Abs. 3 HS 2 VwGO).

Hinweis für die Praxis: Es ist sehr sorgfältig abzuwägen, ob das Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gegeben wird. Die mündliche Verhandlung bietet die Möglichkeit, auf Grund der sich in ihr ergebenden Situation zu argumentieren. Da in der mündlichen Verhandlung vom Vorsitzenden oder Berichterstatter zunächst der Sachverhalt vorgetragen wird, lässt sich erkennen, ob das Gericht den Sachverhalt richtig erfasst hat. Die Erörterung der Sach- und Rechtslage im „Rechtsgespräch“ nach § 112 Abs. 2 SGG bzw. § 104 VwGO gibt wichtige Aufschlüsse über die Rechtsauffassung des Gerichts. Nicht selten wird in der mündlichen Verhandlung eine gütliche Einigung erreicht. Das Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung sollte deshalb nur gegeben werden, wenn die Sach- und Rechtslage eindeutig ist. Sie kann auch dann sinnvoll sein, wenn vor Eröffnung der mündlichen Verhandlung bereits ein Erörterungstermin stattgefunden hat.

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4.2.9.4 Beschränkung auf den Streitgegenstand

In § 123 SGG bzw. § 88 VwGO ist die strikte Bindung an den Streitgegenstand festgelegt. Vgl. auch oben 4.2.5. Der Streitgegenstand wird nach Inhalt und Umfang allein vom Kläger durch das mit der Klage verfolgte Begehren bestimmt. Das Gericht muss über alle vom Kläger geltend gemachten Ansprüche entscheiden, wobei nicht die Fassung des Antrags, sondern der erhobene Anspruch, der durch Auslegung zu ermitteln ist, maßgebend ist. Das Gericht darf dabei nicht über das Klagebegehren hinausgehen („ne ultra petita"), aber auch nicht zum Nachteil des Klägers die Verwaltungsentscheidung bzw. das von ihm angefochtene Urteil ändern („Verböserungsverbot" – vgl. Haufe Onlinekommentar Rz. 2 zu § 123 SGG; Einschränkungen/Ausnahmen Haufe Onlinekommentar Rn. 9 ff. zu § 123 SGG). So darf es z.B. nicht zur Leistung verurteilen, wenn der Kläger lediglich Feststellung begehrt, und nicht einen anderen Verwaltungsakt aufheben, als den vom Kläger angefochtenen. Möglich ist, dass das Gericht weniger als beansprucht zuspricht und die Klage im Übrigen oder auch vollständig abweist.

Beispiele:

Wenn der Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 2 SGB VI beantragt, spricht das Gericht Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung zu und weist im Übrigen die Klage ab, wenn nur die Voraussetzungen für die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 1 SGB VI vorliegen. Liegen auch die Voraussetzungen dafür nicht vor, weil etwa die allgemeine Wartezeit von 5 Jahren nach § 50 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI nicht erfüllt ist, wird die Klage vollständig abgewiesen. Unabhängig von den prozessualen Wirkungen stellt sich in einem solchen Fall die Frage, ob der Prozessgegner die Urteilsgründe zum Anlass nehmen kann, den Fortbestand des Rentenbescheides zu überprüfen. Dieser Überprüfung steht jedoch in der Regel § 47 SGB X entgegen.

Wenn der Rentenversicherungsträger bereits Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zugestanden hat, der Kläger aber Rente wegen voller Erwerbsminderung begehrt, kann das Gericht nur das Begehren auf Rente wegen voller Erwerbsminderung ablehnen, wenn die Voraussetzungen dafür nicht gegeben sind. Es kann aber nicht auch die vom Rentenversicherungsträger bereits zugestandene Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit absprechen (Verböserungsverbot).

Wenn der Kläger eine Leistung begehrt, bei deren Ausgestaltung dem Leistungsträger ein Ermessen zusteht, wie z.B. bei medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen nach § 40 Abs. 3 SGB V, wird nicht zur Erbringung einer bestimmten Leistung, sondern lediglich zur Verbescheidung unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts statt zum Erlass des beantragten Verwaltungsakts verurteilt.

Eine Besonderheit im SGG ist die Erweiterung des Verfahrens nach § 96 SGG. Eine entsprechende Regelung fehlt in der VwGO. Nach § 96 Abs. 1 SGG wird ein neuer Verwaltungsakt, welcher den mit der Klage angefochtenen Verwaltungsakt ändert oder ersetzt, nach Klageerhebung dann Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheides ergangen ist. § 96 SGG dient der Prozessökonomie. Ein zweites Verfahren zwischen den Beteiligten soll vermieden werden. Darüber hinaus soll die Regelung den Betroffenen vor Rechtsnachteilen schützen, die ihm dadurch entstehen könnten, dass er im Vertrauen auf ein bereits anhängiges Verfahren gegen neue Verwaltungsakte keine Rechtsmittel mehr einlegt (Haufe Onlinekommentar Rz. 1 zu § 96 SGG). Die Verwaltungsakte, welche § 96 erfasst, werden ohne weiteres Zutun kraft Gesetzes Gegenstand des Verfahrens. Es handelt sich damit um eine spezielle Form der Klageänderung. Auf den Willen der Beteiligten kommt es nicht an (Haufe Onlinekommentar Rz. 2 zu § 96 SGG).

Auch im Berufungsverfahren findet § 96 SGG über § 153 Abs. 1 SGG Anwendung.

Eine Abänderung liegt vor, wenn der Verwaltungsakt teilweise aufgehoben und durch eine Neuregelung ersetzt wird. Bei einer Ersetzung wird der alte Verwaltungsakt vollständig ersetzt.

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4.2.10 Ermittlung des Sachverhalts

Anders als in der Zivilgerichtsbarkeit mit dem dort herrschenden Parteiengrundsatz gilt sowohl in der Sozial- als auch in der Verwaltungsgerichtsbarkeit für das Verfahren der Amtsermittlungs- oder Untersuchungsgrundsatz (§ 103 SGG bzw. § 86 VwGO). Der Amtsermittlungsgrundsatz besagt, dass das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen erforscht. Die Beteiligten sind bei der Ermittlung des Sachverhalts heranzuziehen, sind aber nicht, wie im Zivilprozess damit belastet, alle Tatsachen in den Prozess einführen und die Beweise für die Begründetheit ihres Anspruchs erbringen zu müssen oder den Vortrag der Gegenseite zu bestreiten und gegebenenfalls den Gegenbeweis zu führen.

Der Untersuchungsgrundsatz gilt für das erstinstanzliche wie für das zweitinstanzliche Verfahren uneingeschränkt, während § 163 SGG für das Verfahren vor dem Bundessozialgericht bzw. § 137 Abs. 2 VwGO für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht maßgebend ist. Nach deren Inhalt sind das BSG bzw. das BVwG im Grundsatz an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden.

Das Gericht ist im Sozialgerichts- bzw. im Verwaltungsgerichtsverfahren an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden (§ 103 S. 2 SGG bzw. § 86 Abs. 1 S. 2 VwGO). Das Gericht bestimmt im Rahmen des Klagebegehrens selbst, welche Tatsachen für die Bildung der richterlichen Überzeugung zu ermitteln sind (§ 128 Abs. 1 S. 1 SGG bzw. § 108 Abs. 1 S. 1 VwGO). Über alle Tatsachen, die nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen, so dass kein vernünftiger Zweifel besteht, muss Beweis erhoben werden. Trotz des Amtsermittlungsgrundsatzes sind die Beteiligten im eigenen Interesse gut beraten, alle ihnen verfügbaren Beweismittel vorzulegen oder die ihnen bekannten Beweismittel zu benennen. Zu beachten sind überdies § 106a SGG bzw. § 87b VwGO. Nach Abs. 1 dieser Bestimmungen kann der Vorsitzende (im Verwaltungsgerichtsverfahren der Vorsitzende oder der Berichterstatter) dem Kläger eine Frist setzen zur Angabe der Tatsachen, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren er sich beschwert fühlt. Nach Abs. 2 kann einem Beteiligten unter Fristsetzung aufgegeben werden, zu bestimmten Vorgängen erstens Tatsachen anzugeben oder Beweismittel zu bezeichnen, zweitens Urkunden oder andere bewegliche Sachen vorzulegen sowie elektronische Dokumente zu übermitteln, soweit der Beteiligte dazu verpflichtet ist. Nach Abs. 3 kann das Gericht unter den dort genannten Voraussetzungen Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf einer nach den Absätzen 1 und 2 gesetzten Frist vorgebracht werden, zurückweisen.

Das Gericht erhebt Beweis in der mündlichen Verhandlung, soweit die Beweiserhebung nicht etwa wegen ihres Umfangs einen besonderen Termin erfordert (§ 117 SGG bzw. § 96 Abs. 1 S. 1 VwGO). Das Gericht soll sich durch die Beweissaufnahme in der mündlichen Verhandlung einen unmittelbaren Eindruck verschaffen können.

Die Beteiligten werden gemäß § 116 SGG bzw. § 97 VwGO von allen Beweisaufnahmeterminen benachrichtigt und können der Beweisaufnahme beiwohnen. Sie können an Zeugen und Sachverständige sachdienliche Fragen richten lassen. Wenn eine Frage beanstandet wird, entscheidet das Gericht durch Beschluss über die Zulassung der Frage. Die §§ 116 SGG bzw. 97 VwGO dienen der Realisierung des Anspruchs auf rechtliches Gehör.

Eine systematische Zusammenstellung der in Frage kommenden Beweismittel, wie sie § 21 SGB X für das Verwaltungsverfahren enthält, fehlt im SGG. Nach § 21 Abs. 1 SGB X können die Verwaltungsbehörden insbesondere: Auskünfte jeder Art einholen, Beteiligte anhören, Zeugen und Sachverständige vernehmen oder die schriftliche oder elektronische Äußerung von Beteiligten, Sachverständigen und Zeugen einholen, Urkunden und Akten beiziehen und den Augenschein einnehmen.

§ 96 Abs. 1 S. 2 VwGO stellt für das Verwaltungsgerichtsverfahren fest, dass das Gericht „insbesondere Augenschein einnehmen, Zeugen, Sachverständige und Beteiligte vernehmen und Urkunden heranziehen“ kann.

Selbstverständlich stehen diese Beweismöglichkeiten auch im Gerichtsverfahren vor den Sozialgerichten zur Verfügung. Es wird jedoch auf die einschlägigen Bestimmungen der ZPO verwiesen. Auf die Beweisaufnahme sind nach §§ 118 Abs. 1 S. 1 SGG die §§ 358 bis 363, 365 bis 378, 380 bis 386, 387 Abs. 1 und 2, §§ 388 bis 390, 392 bis 444, 478 bis 484 der Zivilprozessordnung entsprechend anzuwenden, soweit im SGG nichts anderes bestimmt wird. § 98 VwGO verweist für das Verfahren vor den Verwaltungsgerichten auf die §§ 358 bis 444 und 450 bis 494 der Zivilprozessordnung. In diesen Bestimmungen der ZPO werden die Einzelheiten für die Beweiserhebung durch Augenschein, Zeugenvernehmung, den Sachverständigenbeweis und den Urkundsbeweis geregelt.

Die Beweisaufnahme des Gerichts erfolgt auf Grund eines Beweisbeschlusses (§§ 358 ff. ZPO).

Im Sozialrecht hängen zahlreiche Leistungen von medizinischen Sachverhalten ab. Zu nennen sind z.B. die Feststellung einer Behinderung und des Grades der Behinderung (§§ 2 und 69 SGB IX), das Vorliegen einer verminderten Erwerbsfähigkeit (§ 43 SGB VI) oder das Vorliegen einer Blindheit als Voraussetzung für den Anspruch auf Blindengeld nach einem Landesblindengeldgesetz. Dem medizinischen Sachverständigengutachten kommt deshalb in vielen Verfahren eine entscheidende Bedeutung zu. Auf Grund der Verweisung in § 118 Abs. 1 SGG auf die entsprechenden Bestimmungen der ZPO sind für den Sachverständigenbeweis die §§ 402 ff. ZPO einschlägig. Zusätzlich ist § 109 SGG zu beachten.

Der Bedeutung des Sachverständigenbeweises trägt insbesondere § 109 SGG Rechnung, welcher den Amtsermittlungsgrundsatz einschränkt: Auf Antrag des Versicherten, des Behinderten, des Versorgungsberechtigten oder Hinterbliebenen muss nach § 109 Abs. 1 S. 1 ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden. Die Anhörung kann allerdings davon abhängig gemacht werden, dass der Antragsteller die Kosten vorschießt und endgültig trägt, soweit das Gericht ihn nicht von der Kostentragungspflicht befreit (§ 109 Abs. 1 S. 2 SGG). Das erfolgt insbesondere dann, wenn die Anhörung dieses Sachverständigen zum Erfolg der Klage wesentlich beigetragen hat. Das Gericht kann den Antrag allerdings ablehnen, wenn ein von ihm angeforderter Kostenvorschuss nicht gezahlt wurde oder es zu einer Verzögerung des Rechtsstreits aus grober Nachlässigkeit oder in Verschleppungsabsicht kommen würde (§ 109 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 SGG). Wenn ein Versicherter, ein Behinderter, ein Versorgungsberechtigter oder Hinterbliebener einen bestimmten Arzt nennt, weil er zur Sachaufklärung beitragen kann, muss geklärt werden, ob es sich um einen Antrag im Sinn von § 109 Abs. 1 S. 1 SGG handelt oder ob dem Gericht lediglich eine Anregung zur Tatsachenermittlung gegeben werden sollte. Das ist gegebenenfalls durch Nachfrage zu klären. Der Unterschied ist wegen der Kostentragung wichtig.

In der Regel werden Sachverständigengutachten schriftlich erstattet. Wenn das schriftliche Sachverständigengutachten Widersprüche aufweist oder nicht ausreichend ist, sollte von der Möglichkeit Gebrauch gemacht werden zu beantragen, dass der Sachverständige zur Erläuterung seines Gutachtens geladen wird. Auf die Mängel des Gutachtens sollte im Antrag hingewiesen werden.

Wegen der Bedeutung des Sachverständigengutachtens spielt für die Praxis die Frage eine Rolle, wann ein Sachverständiger, welcher vom Gericht benannt wird, abgelehnt werden kann. Nach § 406 ZPO kann ein Sachverständiger aus den gleichen Gründen abgelehnt werden, aus welchen auch ein Richter abgelehnt werden kann. Die Ablehnungsgründe sind deshalb den §§ 41 und 42 der ZPO zu entnehmen. Allerdings kann ein Sachverständiger gemäß § 206 Abs. 1 S. 2 ZPO nicht deshalb abgelehnt werden, weil er als Zeuge vernommen worden ist. Infolge der Verweisung auf § 42 ZPO kann ein Sachverständiger wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden. Besorgnis der Befangenheit ist zu bejahen, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Sachverständigen zu rechtfertigen. Das könnte z.B. gegeben sein, wenn ein Arzt zum Gutachter bestellt wird, der im Vorverfahren bereits ein für den Kläger negatives Gutachten abgegeben hat.

Die Ablehnung eines Sachverständigen muss bei dem Gericht oder Richter, der den Sachverständigen ernannt hat, vor seiner Vernehmung, spätestens jedoch binnen zwei Wochen nach Verkündung oder Zustellung des Beschlusses über die Ernennung des Sachverständigen, beantragt werden (§ 406 Abs. 2 S. 1 ZPO). Nach Ablauf dieser Ausschlussfrist ist die Ablehnung nur zulässig, wenn der Antragsteller glaubhaft macht, dass er ohne sein Verschulden verhindert war, den Ablehnungsgrund früher geltend zu machen (§ 406 Abs. 2 S. 2 ZPO). Das kann z.B. der Fall sein, wenn die Tatsachen, welche die Befangenheit begründen, sich erst bei einer körperlichen Untersuchung gezeigt haben. Die Entscheidung über den Antrag auf Ablehnung eines Sachverständigen ergeht durch Beschluss (§ 406 Abs. 4 ZPO). Wenn die Ablehnung des Sachverständigen in dem Beschluss für begründet erklärt wird, ist gegen diesen Beschluss kein Rechtsmittel möglich. Wenn der Antrag auf Ablehnung des Sachverständigen für unbegründet erklärt wird, kann dieser Beschluss mit sofortiger Beschwerde angegriffen werden (§ 406 Abs. 5 ZPO).

Für die Ablehnung eines Sachverständigen im Verwaltungsgerichtsverfahren gilt auf Grund der Verweisung auf die entsprechenden Vorschriften der ZPO in § 98 VwGO das Gleiche. Die VwGO enthält allerdings keine dem § 109 SGG entsprechende Vorschrift, wonach auf Antrag ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden muss.

Beweistermine können bereits vor Eröffnung der Hauptverhandlung zu deren Vorbereitung (§ 106 Abs. 2 und Abs. 3 Nr. 4 und 5 SGG bzw. § 96 Abs. 2 VwGO) bzw. wenn dies erforderlich ist, in besonderen Beweisterminen (§ 117 SGG) durchgeführt werden.

Auf Grund des Amtsermittlungsgrundsatzes obliegt dem Gericht zwar die Beweisführungspflicht. Die materielle Beweislast bleibt jedoch bei demjenigen, der ein Recht geltend macht. Lassen sich die Voraussetzungen für den geltend gemachten Anspruch nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachweisen, wird die Klage als unbegründet abgewiesen. Kann z.B. Blindheit auf Grund der möglichen medizinischen Untersuchungsmethoden weder bejaht noch verneint werden, wird die Klage auf Gewährung von Blindengeld nach einem Landesblindengeldgesetz als unbegründet abgewiesen.

Ergänzend ist auf das Beweissicherungsverfahren nach § 76 SGG hinzuweisen. Im Beweissicherungsverfahren wird eine vorsorgliche Tatsachenfeststellung getroffen, wenn ein Prozess noch nicht begonnen hat oder bei einem schwebenden Prozess eine Beweisaufnahme noch nicht angeordnet oder möglich ist. Voraussetzung ist das Gesuch eines Beteiligten, das mit der Besorgnis begründet wird, dass ein Beweismittel verloren geht oder die Durchführung der Beweisaufnahme erschwert wird. Ein typisches Beispiel hierfür ist der Wegzug eines Zeugen ins Ausland oder die erforderliche Sektion einer Leiche (vgl. BSG, SozR 3-1750 § 444 Nr. 1). Eine Beweissicherung kommt ferner in Betracht, wenn der gegenwärtige Zustand einer Person oder Sache festgestellt werden soll und der Antragsteller ein berechtigtes Interesse an der Feststellung hat. Letzteres ist etwa anzunehmen, wenn ohne eine vorsorgliche Tatsachenfeststellung der gegenwärtige Gesundheitszustand zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr oder nur erschwert festgestellt werden kann (vgl. Haufe Onlinekommentar Rz. 1 zu § 76b SGG und LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss v. 18.5.2005, L 4 KR 7/059). Das Beweissicherungsverfahren gibt grundsätzlich nur die Gelegenheit, Erkenntnismaterial zu sammeln und zu bewahren, das die Grundlage für die Feststellung der zu beweisenden Tatsache bildet. Ein Beweisergebnis wird noch nicht formuliert (BSG, Urteil v. 21.2.1996, 5 RJ 82/95).

Nach § 76 Abs. 3 SGG i.V.m. § 487 ZPO muss der Antragsteller den Prozessgegner und die Tatsachen angeben, über die Beweis erhoben werden soll, sowie die Beweismittel. Als Beweismittel kommen nach § 76 Abs. 1 SGG nur Augenscheinnahme sowie die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen in Betracht.

Die Zuständigkeit des Gerichts richtet sich nach § 76 Abs. 2 SGG. Danach ist in erster Linie das Sozialgericht zuständig, das für das Hauptsacheverfahren zuständig ist oder wäre. Nur in Fällen dringender Gefahr kann das Gesuch auch bei einem anderen Sozialgericht oder einem Amtsgericht angebracht werden (§ 76 Abs. 2 S. 2 SGG).

Das Gericht entscheidet über den Antrag durch Beschluss (§ 490 Abs. 1 ZPO). Es prüft lediglich die Voraussetzungen des § 76 Abs. 1 SGG, nicht die Zweckmäßigkeit der Beweiserhebung oder die Beweiserheblichkeit der zu ermittelnden Tatsachen (Haufe Onlinekommentar Rz. 4 zu § 76 SGG). In dem Beschluss sind die Tatsachen, über die der Beweis zu erheben ist, und die Beweismittel unter Benennung der zu vernehmenden Zeugen und Sachverständigen zu bezeichnen (§ 490 Abs. 2 S. 1 ZPO). Ein ablehnender Beschluss des Sozialgerichts ist gemäß § 172 SGG mit der Beschwerde anfechtbar.

Die Beweisaufnahme folgt den allgemeinen Verfahrensvorschriften (§ 492 Abs. 1 ZPO). Zur Wahrung seines rechtlichen Gehörs ist daher der Gegner unter Zustellung des Beschlusses und einer Abschrift des Antrags zu dem für die Beweisaufnahme bestimmten Termin so zeitig zu laden, dass er in dem Termin seine Rechte wahrzunehmen vermag (§ 491 Abs. 1 ZPO). Erscheint der Gegner im Termin nicht, kann das Beweisergebnis nur genutzt werden, wenn er rechtzeitig geladen war (§ 493 Abs. 2 ZPO).

Im Verwaltungsgerichtsverfahren ist eine vorläufige Beweissicherung ebenfalls möglich. Nach § 98 ZPO gelten die §§ 485 ff ZPO über das Beweissicherungsverfahren entsprechend. Die obigen Ausführungen sind deshalb auch hier zutreffend.

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4.2.11 Abschluss des Verfahrens

Aufgabe des Gerichtsverfahrens ist es, einen Rechtsstreit zu klären und zu einem Abschluss zu führen. Der Abschluss des Verfahrens kann durch Urteil, Gerichtsbescheid, Vergleich, Annahme eines Anerkenntnisses oder Klagerücknahme erfolgen.

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4.2.11.1 Urteile

Das Verfahren wird, soweit nichts anderes bestimmt ist, durch Urteil abgeschlossen (§ 125 SGG bzw. § 107 VwGO).

Urteile lassen sich nach unterschiedlichen Kriterien in eine Reihe von Arten unterteilen.

Zu unterscheiden ist zwischen Prozessurteilen, in welchen über die Zulässigkeit der Klage entschieden wird, und Sachurteilen, welche zum materiellen Inhalt des Rechtsstreits ergehen.

Weiter ist zu unterscheiden zwischen Endurteilen und Zwischenurteilen (§ 130 Abs. 2 SGG). Im Normalfall ist das Urteil Endurteil.

Das Gericht kann durch Zwischenurteil über eine entscheidungserhebliche Sach- oder Rechtsfrage vorab entscheiden, wenn dies sachdienlich ist (§ 130 Abs. 2 SGG). So kann z.B. über die Zulässigkeit oder die Erfüllung einzelner Tatbestandsvoraussetzungen vorab entschieden werden. Sachdienlich ist ein Zwischenurteil vor allem dann, wenn nur einzelne Sach- oder Rechtsfragen strittig sind und erwartet werden kann, dass nach Entscheidung über diesen strittigen Teil der Rechtsstreit für erledigt erklärt wird. Wenn durch ein Urteil die Zulässigkeit einer Klage verneint wird, handelt es sich nicht um ein Zwischen-, sondern um ein Endurteil. Für das Verwaltungsgerichtsverfahren vgl. § 109 VwGO.

Wenn eine Streitsache entscheidungsreif ist, erlässt das Gericht ein Endurteil (§ 202 SGG i.V.m. § 300 Abs. 1 ZPO). Mit dem Endurteil entscheidet das Gericht für den jeweiligen Rechtszug abschließend über das Klagebegehren.

Von Urteilen, welche über den gesamten Streitgegenstand abschließend entscheiden (Vollurteile), sind Teilurteile zu unterscheiden. Ein Teilurteil kann nach Ermessen des Gerichts über einen abtrennbaren Teil des Streitgegenstands ergehen, auf den der Ausgang des weiteren Prozesses keinen Einfluss mehr nehmen kann. Das ist der Fall, wenn die Behörde über abtrennbare Teile des Streitgegenstandes getrennte Bescheide hätte erlassen können. Das Teilurteil ist Endurteil und selbständig anfechtbar. Über den durch das Teilurteil nicht erledigten Teil wird durch Schlussurteil entschieden. Für das Verwaltungsgerichtsverfahren vgl. § 110 VwGO.

Nach § 130 Abs. 1 S. 1 SGG kann auch zur Leistung nur dem Grunde nach verurteilt Werden, wenn gemäß § 54 Abs. 4 oder 5 SGG eine Leistung in Geld begehrt wird, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Die Geldleistung darf nicht im Ermessen des zur Leistung Verpflichteten stehen (Haufe Onlinekommentar Rz. 6 zu § 130 SGG). Ob ein Grundurteil ergeht, steht im Ermessen des Gerichts. Die Verurteilung zu einer Leistung lediglich dem Grunde nach ist ein Teilurteil und damit ein Endurteil, weil über die Höhe der Leistung, z.B. der begehrten Rente, nicht entschieden wird. Grundurteile ergehen in der Praxis häufig auf Grund von Leistungsklagen nach § 54 Abs. 4 SGG. Das sind Klagen, mit welchen ein Verwaltungsakt angefochten wird, durch welchen der Anspruch auf eine Sozialleistung abgelehnt worden ist. Die Berechnung der begehrten Sozialleistung, zu welcher der Sozialleistungsträger verurteilt worden ist, wird diesem überlassen.

Der Tenor eines sozialgerichtlichen Grundurteils lautet z.B.:

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom ... in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom ... verurteilt, der Klägerin ab ... Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung ab ... zu zahlen.

Die Rentenhöhe wird dann von dem Rentenversicherungsträger im notwendig zu erteilenden Ausführungsbescheid festgestellt. Dieser wird nicht Gegenstand des Klageverfahrens, sondern ist ggf. wiederum mit dem Widerspruch anzufechten.

Gemäß § 130 Abs. 1 S. 2 SGG kann das Gericht mit dem Grundurteil die Anordnung der Gewährung vorläufiger - einmaliger oder laufender - Leistungen verbinden.

Diese Anordnung ist zu beziffern. Die Anordnung ist, anders als die einstweilige Anordnung nach § 86b SGG, welche durch Beschluss ergeht (§ 86b Abs. 4 SGG), Bestandteil des Urteils und nur zusammen mit diesem mit dem dagegen vorgesehenen Rechtsmittel anfechtbar (§130 Abs. 1 S. 3 SGG).

Im Verwaltungsgerichtsverfahren kann das Gericht, wenn bei einer Leistungsklage ein Anspruch nach Grund und Betrag streitig ist, durch Zwischenurteil über den Grund vorab entscheiden (§ 111 S. 1 VwGO). Über die Höhe des strittigen Betrags wird dann gegebenenfalls durch Endurteil entschieden. Das Gericht kann, wenn der Anspruch für begründet erklärt ist, anordnen, dass über den Betrag zu verhandeln ist (§ 111 S. 2 VwGO).

Endurteile sind mit den gegebenen Rechtsmitteln (Berufung oder Revision) anfechtbar. Zwischenurteile können nur zusammen mit dem jeweiligen Endurteil angefochten werden.

Wenn man auf den Inhalt des Urteils abstellt, lassen sich, entsprechend der jeweiligen Klageart, Gestaltungsurteil (auf Anfechtungsklage), Leistungsurteil (auf Verpflichtungs- oder Leistungsklage), Feststellungs- und Bescheidungsurteil unterscheiden. Bescheidungsurteil ist das Urteil welches auf Grund einer Verpflichtungsklage zum Erlass eines Verwaltungsaktes ergeht, bei welchem der erlassenden Stelle ein Ermessen eingeräumt ist. Die Verurteilung zum Erlass des Verwaltungsaktes ergeht beim Bescheidungsurteil „unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts“. Die Unterscheidung der genannten Urteile ist für die Vollstreckung von Bedeutung; denn Urteile sind Vollstreckungstitel (§ 199 Abs. 1 Nr. 1 SGG), haben jedoch nicht immer einen vollstreckungsfähigen Inhalt. Wenn bereits der Urteilsspruch des Gerichts die Rechtslage gestaltet, wie z.B. bei der auf Anfechtungsklage (gem. § 54 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 SGG) erfolgten Aufhebung eines Verwaltungsakts, bedarf es keines weiteren Handelns des Beklagten oder Beigeladenen und somit auch keiner Vollstreckung. Auch Feststellungsurteile haben keinen vollstreckungsfähigen Inhalt (Haufe Onlinekommentar Rz. 9 zu § 199 SGG).

Aufbau und Inhalt der Urteile ergeben sich aus § 136 SGG. Nach Abs. 1 enthält das Urteil

  1. die Bezeichnung der Beteiligten, ihrer gesetzlichen Vertreter und der Bevollmächtigten nach Namen, Wohnort und ihrer Stellung im Verfahren,
  2. die Bezeichnung des Gerichts und die Namen der Mitglieder, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben,
  3. den Ort und Tag der mündlichen Verhandlung,
  4. die Urteilsformel,
  5. die gedrängte Darstellung des Tatbestands,
  6. die Entscheidungsgründe und
  7. die Rechtsmittelbelehrung.

§ 136 Abs. 1, 2 und 3 SGG entsprechen weitgehend § 117 Abs. 2, 3 und 5 VwGO.

Urteile, gegen die Rechtsmittel möglich sind, werden nach Ablauf der Rechtsmittelfrist rechtskräftig. Gegen Endurteile des BSG ist kein Rechtsmittel möglich, sodass diese zugleich mit Verkündung bzw. Zustellung rechtskräftig werden.

Nur der Urteilstenor (die Urteilsformel, § 136 Abs. 1 Nr. 4 SGG bzw. § 117 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) wird rechtskräftig. Die Entscheidungsgründe (§ 136 Abs. 1 Nr. 6 SGG bzw. § 117 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) erwachsen nicht in Rechtskraft. Sie sind aber zur Auslegung der Urteilsformel heranzuziehen, soweit diese für sich alleine unklar ist. So lautet der Tenor bei Abweisung der Klage stets:

Die Klage .. wird abgewiesen, gleichgültig, ob es sich um ein Prozess- oder Sachurteil handelt.

Für einige Klagearten bestimmt § 131 SGG den Inhalt von Urteilsformeln bei begründeter Klage. § 131 SGG trifft aber Bestimmungen über die Entscheidungsformel nur für einige Sonderfälle. Die allgemeine Leistungsklage, die Feststellungsklage und auch die Hauptanwendungsfälle der Anfechtungs- sowie der Verpflichtungsklage werden - anders als in der Parallelvorschrift der VwGO (vgl. § 113 Abs. 1 S. 1 und Abs. 5 VwGO) - nicht angesprochen.

Bei zulässiger isolierter Anfechtungsklage hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf, soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist (vgl. dazu § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).

Der Tenor lautet üblicherweise:

Der Bescheid (exakter: Verwaltungsakt) vom ... und der Widerspruchsbescheid vom ... werden aufgehoben.

Üblich ist auch:

Der Bescheid (exakter: Verwaltungsakt) vom ... in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom ... wird aufgehoben.

§ 131 Abs. 1 S. 1 und 2 SGG behandelt den Folgenbeseitigungsanspruch. Wenn ein Verwaltungsakt oder ein Widerspruchsbescheid, der bereits vollzogen ist, aufgehoben wird, kann danach das Gericht aussprechen, dass und in welcher Weise die Vollziehung des Verwaltungsakts rückgängig zu machen ist. Dies ist nur zulässig, wenn die Verwaltungsstelle rechtlich dazu in der Lage und diese Frage ohne weiteres in jeder Beziehung spruchreif ist (ebenso § 113 Abs. 1 S. 2 und 3 VwGO). Erforderlich ist dafür ein Antrag.

§ 131 Abs. 1 S. 3 SGG behandelt die sogenannte Fortsetzungsfeststellungsklage. Wenn sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt hat, spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat (ebenso § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO).

Bei begründeter Fortsetzungsfeststellungsklage stellt das Gericht fest, dass der Verwaltungsakt vom ... rechtswidrig (gewesen) ist bzw. dass der Verwaltungsakt vom ... rechtswidrig und die Beklagte zur Vornahme des Verwaltungsakts (zur Bescheidung) verpflichtet gewesen ist.

Die auf den Erlass eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsaktes gerichtete Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 S. 1 SGG) behandelt § 131 Abs. 2 SGG. Wenn das Gericht die Verurteilung zum Erlass eines abgelehnten Verwaltungsakts für begründet und diese Frage in jeder Beziehung für spruchreif hält, ist im Urteil die Verpflichtung auszusprechen, den beantragten Verwaltungsakt zu erlassen. Für das Verwaltungsgerichtsverfahren vgl. §§ 42 Abs. 1, 113 Abs. 5 S. 1 VwGO.

Die Entscheidung bei fehlender Spruchreife, insbesondere weil der Erlass des begehrten Verwaltungsakts im Ermessen der Behörde steht, regelt § 131 Abs. 3 SGG bzw. für das Verwaltungsgerichtsverfahren § 113 Abs. 5 S. 2 VwGO. Es kommt nur ein Bescheidungsurteil in Betracht. Im Urteil ist die Verpflichtung auszusprechen, den begehrten Verwaltungsakt unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu erlassen.

Der Tenor lautet:

Der Bescheid (Verwaltungsakt) vom ... und der Widerspruchsbescheid vom ... werden aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt (verpflichtet), den Antrag des Klägers vom ... unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

Die Möglichkeit der Zurückverweisung an die Behörde sieht § 131 Abs. 5 SGG vor. Wenn das Gericht in den Fällen des § 54 Abs. 1 S. 1 (Anfechtungs- und Verpflichtungsklage) und Abs. 4 (kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage) SGG eine weitere Sachaufklärung für erforderlich hält, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid durch Urteil aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Dem Gericht sollen dadurch die oft umfangreichen Ermittlungen in der Sache selbst erspart werden. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlass des neuen Verwaltungsakts durch Beschluss eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, dass Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurück gewährt werden müssen. Dieser Beschluss kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden (§ 131 Abs. 5 S. 2 und 3 SGG). Eine Entscheidung nach § 131 Abs. 5 S. 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen. Für das Verwaltungsgerichtsverfahren vgl. § 113 Abs. 3 VwGO. In der Praxis wird dieser Regelung keine große Bedeutung beigemessen (Haufe Onlinekommentar Rz. 41 zu § 131 SGG).

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4.2.11.2 Gerichtsbescheid

Ein Gerichtsbescheid (§ 105 SGG bzw. § 84 VwGO) kann nur das Klageverfahren in erster Instanz, also in der Regel vor dem Sozialgericht bzw. dem Verwaltungsgericht, beenden. Für das Berufungs- und Revisionsverfahren ist er ausgeschlossen (§§ 153 Abs. 1 und 165 SGG bzw. §§ 125 Abs. 1 S. 2 und 141 S. 1 VwGO).

Ein Gerichtsbescheid ist zwar kein Urteil, wirkt aber als Urteil (§ 105 Abs. 3 HS 1 SGG bzw. § 84 Abs. 3 HS 1 VwGO). Er gilt aber nach dem 2. HS dieser Vorschriften als nicht ergangen, wenn rechtzeitig ein Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt wird.

Der Gerichtsbescheid kann ohne mündliche Verhandlung ergehen. Das bedeutet nicht, dass keine mündliche Verhandlung stattfinden darf. Ein Gerichtsbescheid ergeht aber nicht innerhalb der mündlichen Verhandlung. Er kommt nur in Betracht, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (§ 105 Abs. 1 S. 1 SGG bzw. § 84 Abs. 1 S. 1 VwGO).

Der Gerichtsbescheid ergeht ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter (§ 12 Abs. 1 S. 2 SGG bzw. § 5 Abs. 3 S. 2 VwGO).

Die Beteiligten müssen vom Gericht zu seiner Absicht, mit Gerichtsbescheid zu entscheiden, besonders gehört werden (§ 105 Abs. 1 S. 2 SGG bzw. § 84 Abs. 1 S. 2 VwGO).

Im Übrigen gelten in Bezug auf den Gerichtsbescheid für das Verfahren, die Form und den Inhalt die Vorschriften über Urteile entsprechend (§ 105 Abs. 1 S. 3 SGG bzw. § 84 Abs. 1 S. 3 VwGO). Dazu vgl. 4.2.11.1.

Ein Gerichtsbescheid hat dieselbe Rechtskraftwirkung wie ein Urteil (§ 105 Abs. 3 HS 1 SGG i.V.m. § 141 Abs. 1 SGG bzw. § 84 Abs. 3 HS 1 VwGO i.V.m. § 121 VwGO).

Ein rechtskräftiger Gerichtsbescheid ist Vollstreckungstitel (§ 199 Abs. 1 Nr. 1 SGG bzw. § 168 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).

Außer dem Antrag auf mündliche Verhandlung sind Berufung und Revision bzw. die Nichtzulassungsbeschwerde die gegen einen Gerichtsbescheid möglichen Rechtsbehelfe (§ 105 Abs. 2 SGG bzw. § 84 Abs. 2 VwGO).

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4.2.11.3 Vergleich

In der Praxis werden viele Verfahren nicht durch Urteil oder Gerichtsbescheid, sondern durch gerichtlichen Vergleich beendet. Rechtsgrundlage ist § 101 Abs. 1 SGG bzw. § 106 VwGO. Die Gerichte sind bemüht, durch einen Vergleich Rechtsfrieden zwischen den Beteiligten herzustellen. Vergleiche kommen deshalb häufig „auf Vorschlag des Gerichts“ zu Stande. Ein Vergleich hat dann Sinn, wenn unsicher ist, ob für den Rechtsstreit erhebliche Tatsachen bewiesen werden können. Wesentliches Merkmal eines Vergleichs ist die Beseitigung einer tatsächlichen oder rechtlichen Ungewissheit durch gegenseitiges Nachgeben.

Ein Vergleich hat das Ziel, den Rechtsstreit vollständig oder zum Teil zu erledigen. Ein Vergleich ist nur insoweit möglich, als die Beteiligten über den Streitgegenstand verfügen können. In den Vergleich können aber auch nicht rechtshängige Gegenstände mit einbezogen werden, selbst wenn diese nicht in die Zuständigkeit des Gerichts fallen.

Ob ein Vergleich von Bedingungen abhängig gemacht werden kann, ist strittig. Möglich ist der Abschluss unter einem Widerrufsvorbehalt. Für den Widerruf wird in aller Regel eine Frist vereinbart. Ein Widerrufsvorbehalt ist vor allem dann sinnvoll, wenn der Vergleich von einem Prozessbevollmächtigten abgeschlossen wird und die vertretene Partei im Termin nicht anwesend ist.

Im Vergleich kann und sollte die Kostentragung geregelt werden. Ohne Kostenregelung trägt jeder Beteiligte seine Kosten selbst (§ 195 SGG), sofern nicht das Gericht auf Antrag eines Beteiligten die Kosten anders verteilt hat (§ 193 Abs. 1 S. 3 SGG). Für das Verwaltungsgerichtsverfahren vgl. § 160 VwGO.

Um einen gerichtlichen Vergleich handelt es sich nur, wenn der Vergleich in einem anhängigen Klageverfahren zur Niederschrift des Gerichts, des Vorsitzenden oder des beauftragten oder ersuchten Richters vereinbart wird (§ 101 Abs. 1 SGG bzw. § 106 S. 1 VwGO) oder wenn im Verwaltungsgerichtsverfahren die Beteiligten einen in der Form eines Beschlusses ergangenen Vorschlag des Gerichts, des Vorsitzenden oder des Berichterstatters schriftlich gegenüber dem Gericht annehmen (§ 106 S. 2 VwGO). Er kann in allen Instanzen, also auch vor dem BSG bzw. dem BVwG, abgeschlossen werden.

Mit Eintritt seiner Wirksamkeit wird durch den Vergleich die Rechtshängigkeit beendet.

Ein wirksam abgeschlossener Vergleich ist ein Vollstreckungstitel (§ 199 Abs. 1 Nr. 3 SGG bzw. § 168 Abs. 1 Nr. 3 VwGO).

Wenn ein Vergleich nicht als gerichtlicher Vergleich, sondern außerhalb der Gerichtsverhandlung geschlossen wird, wird dadurch die Rechtshängigkeit nicht beendet. Die Beteiligten können jedoch auf Grund ihrer Dispositionsbefugnis den Rechtsstreit gegenüber dem Gericht für erledigt erklären bzw. kann der Kläger die Klage nach § 102 SGG bzw. § 92 Abs. 1 VwGO zurücknehmen.

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4.2.11.4 Annahme eines Anerkenntnisses

Ein Rechtsstreit wird auch durch ein Anerkenntnis beendet.

Für das Verfahren vor den Sozialgerichten gilt folgendes: Wenn vom Kläger eine Anerkenntniserklärung über den Streitgegenstand angenommen wird, wird dadurch im Umfang des Anerkenntnisses der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt (§ 101 Abs. 2 SGG). Wenn eine Anerkenntniserklärung nicht angenommen wird, bleibt der Rechtsstreit anhängig.

Im Gegensatz zum Vergleich (§ 101 Abs. 1 SGG bzw. § 106 VwGO) ist eine besondere Form für das Anerkenntnis nicht vorgeschrieben, sodass es auch schriftlich gegenüber dem Gericht oder in der mündlichen Verhandlung erklärt werden kann. Die Erklärung muss aber gegenüber dem Gericht erfolgen. Eine Erklärung lediglich gegenüber der anderen Partei genügt nicht (Haufe Onlinekommentar Rz. 33 zu § 101 SGG). Dasselbe gilt für die Annahme des Anerkenntnisses.

Ob ein Vergleich oder ein (angenommenes) Anerkenntnis gewollt ist wenn die Erklärungen in der mündlichen Verhandlung protokolliert werden, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab und ist im Zweifel durch Auslegung zu ermitteln. Im Gegensatz zum Anerkenntnis ist ein Vergleich durch gegenseitiges Nachgeben charakterisiert.

Ein Einstellungsbeschluss des Gerichts ist nicht erforderlich. Er kann aber bei vorhandenem Interesse auf Antrag ergehen (Haufe Onlinekommentar Rz. 39 zu § 101 SGG).

Das Anerkenntnis ist gemäß § 199 Abs. 1 Nr. 3 SGG ein Vollstreckungstitel.

Für das Verwaltungsgerichtsverfahren gilt folgendes: Eine ausdrückliche Regelung wie in § 101 Abs. 2 SGG fehlt in der VwGO. Aber auch im Verwaltungsrechtsstreit ist es dem Beklagten möglich, den Klageanspruch anzuerkennen. Die Möglichkeit eines Anerkenntnisses wird in § 87a Abs. 1 Nr. 2 VwGO, wonach der Vorsitzende bei Zurücknahme der Klage, Verzicht auf den geltend gemachten Anspruch oder Anerkenntnis des Anspruchs entscheidet, vorausgesetzt. Die Entscheidung ergeht gemäß §§ 107, 173 (Verweisung auf die ZPO) VwGO i.V.m. § 307 ZPO durch ein Anerkenntnisurteil. Das Urteil ergeht ohne mündliche Verhandlung (§ 307 S. 2 ZPO).

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4.2.11.5 Klagerücknahme, Erledigungserklärung

Ein Rechtsstreit wird auch durch die Rücknahme der Klage beendet. Der Kläger kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils gem. § 102 Abs. 1 S. 1 SGG bzw. § 92 Abs. 1 S. 1 VwGO ganz oder teilweise zurücknehmen. Eine Einwilligung des Beklagten ist im Verfahren vor den Sozialgerichten nicht erforderlich. Davon abweichend ist im Verfahren vor der Verwaltungsgerichtsbarkeit nach Stellung der Anträge in der mündlichen Verhandlung die Einwilligung des Beklagten und, wenn ein Vertreter des öffentlichen Interesses an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat, auch seine Einwilligung erforderlich (§ 92 Abs. 1 S. 2 VwGO). Die Einwilligung gilt nach § 92 Abs. 1 S. 3 VwGO als erteilt, wenn der Klagerücknahme nicht innerhalb von zwei Wochen seit Zustellung des die Rücknahme enthaltenden Schriftsatzes widersprochen wird. Das Gericht hat auf diese Folge hinzuweisen.

Eine Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger in Verfahren vor den Sozialgerichten das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt (§ 102 Abs. 2 S. 1 SGG). In der Verwaltungsgerichtsbarkeit beträgt diese Frist nur zwei Monate (§ 92 Abs. 2 S. 1 VwGO). Auf diese Folge und die Folgen für die Kostentragung muss das Gericht ausdrücklich hinweisen (§ 102 Abs. 2 S. 3 SGG bzw. § 92 Abs. 2 S. 3 VwGO).

Durch die Klagerücknahme wird der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt und damit die Rechtshängigkeit beseitigt (§ 102 Abs. 1 S. 2 SGG). Wenn die Klage zurückgenommen worden ist oder sie als zurückgenommen gilt, stellt das Gericht in der Sozialgerichtsbarkeit das Verfahren auf Antrag durch Beschluss ein und entscheidet über Kosten, soweit diese entstanden sind (§ 102 Abs. 3 S. 1 SGG).

In der Verwaltungsgerichtsbarkeit erfolgt die Einstellung des Verfahrens und die Entscheidung über die sich daraus ergebenden Folgen, ohne dass ein Antrag dafür erforderlich ist (§ 92 Abs. 3 VwGO).

Die Klagerücknahme ist in allen Rechtszügen möglich. Für die Berufung und die Revision vgl. dazu die spezielle Regelung über die Rücknahme des Rechtsmittels in § 156 SGG, welcher über § 165 SGG auch für das Revisionsverfahren gilt bzw. für die Verwaltungsgerichtsbarkeit die Regelungen in § 126 VwGO für die Rücknahme der Berufung und in § 140 VwGO für die Rücknahme der Revision. Nach § 126 Abs. 2 VwGO gilt die Berufung auch dann als zurückgenommen, wenn der Berufungskläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt.

Der Berufungskläger muss in der Aufforderung auf diese Wirkung und die sich aus § 155 Abs. 2 VwGO ergebende Kostentragungspflicht ausdrücklich hingewiesen werden. § 156 SGG enthält für die Berufung in der Sozialgerichtsbarkeit keine Rücknahmefiktion bei Nichtbetreiben des Berufungsverfahrens. Wenn nur das Rechtsmittel und nicht auch die Klage zurückgenommen wird, wird das Urteil, gegen welches sich das Rechtsmittel richtete, rechtskräftig.

Da für die Klagerücknahme keine Form vorgeschrieben ist, kann sie schriftlich, zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle oder durch Erklärung in der mündlichen Verhandlung erfolgen.

Außer der (einseitigen) Klagerücknahme kommt auch eine beiderseitige Erledigungserklärung in Frage (§ 202 SGG i.V.m §§ 91a ZPO bzw. § 173 S. 1 VwGO i.V.m. § 91a ZPO). Auch sie führt zur Beendigung des Verfahrens. Ob eine Klagerücknahme oder eine Erledigungserklärung vorliegt, kann sich auf die Kostenentscheidung auswirken. Dazu vgl. Haufe Onlinekommentar Rz. 3 zu § 102 SGG.

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4.3 Rechtsmittel und andere Rechtsbehelfe

In diesem Kapitel werden die Rechtsmittel Berufung (4.3.1), Revision (4.3.2) und Beschwerde (4.3.3) sowie die neben diesen Rechtsmitteln gegebenen weiteren Rechtsbehelfe der Erinnerung und der Anhörungsrüge (4.3.4) behandelt.

Rechtsmittel sind solche Rechtsbehelfe, welche die Streitsache in eine höhere Instanz bringen (Devolutiveffekt) und die Rechtskraft des Urteils hinausschieben (Suspensiveffekt). Das ist bei der Berufung, der Revision und der Beschwerde der Fall.

Andere Rechtsbehelfe, die diese Wirkungen nicht haben, sind die Erinnerung (§ 178 SGG bzw. § 151 VwGO) und die Anhörungsrüge wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 178a SGG bzw. § 152a VwGO).

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4.3.1 Das Berufungsverfahren

Das Berufungsverfahren in der Sozialgerichtsbarkeit ist in den §§ 143 ff. SGG, das Berufungsverfahren in der Verwaltungsgerichtsbarkeit in den §§ 124 ff. VwGO geregelt. Die Berufung ist ein Rechtsmittel gegen erstinstanzliche Endurteile. Sie ist ferner statthaft gegen Gerichtsbescheide (§ 105 Abs. 2 S. 1 SGG, § 84 Abs. 2 VwGO) und Ergänzungsurteile (§ 140 SGG). Sie eröffnet eine neue Tatsacheninstanz, d.h. der gesamte Prozessstoff ist grundsätzlich neu zu prüfen und zu würdigen (§ 157 SGG bzw. § 128 VwGO).

Um im Berufungsverfahren erfolgreich zu sein, muss sie zulässig und begründet sein.

Sachlich zuständig für die Berufung sind die Landessozialgerichte (§ 143 SGG) bzw. die Oberverwaltungsgerichte (§ 124 VwGO).

Auch für die Berufung und das Berufungsverfahren gilt der Dispositionsgrundsatz. D.h. der Berufungskläger entscheidet, ob und in welchem Umfang er gegen das Urteil oder den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts bzw. des Verwaltungsgerichts vorgehen will. Das ist der Streitgegenstand. Das Berufungsbegehren legt der Berufungskläger durch seinen Antrag fest. Nur innerhalb des durch den Antrag gezogenen Rahmens wird das angegriffene Urteil überprüft. Mit der Berufung kann das Urteil oder der Gerichtsbescheid sowohl vom Kläger als auch vom Beklagten bzw. vom Beigeladenen angegriffen werden, soweit sie durch die Gerichtsentscheidung beschwert sind, d.h. eine für sie negative Entscheidung ergangen ist. Der bisherige (erstinstanzliche) Kläger ist beschwert, wenn die Entscheidung von seinem Klagebegehren zu seinem Nachteil abgewichen ist. Der bisherige Beklagte ist beschwert, wenn das Urteil ihn belastet, er z.B. zur Erbringung einer Leistung oder zum Erlass eines Verwaltungsaktes verurteilt, bzw. ein von ihm erlassener Verwaltungsakt aufgehoben worden ist.

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4.3.1.1 Statthaftigkeit und Einlegung der Berufung

Zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen der Berufung gehört ihre Statthaftigkeit. Diese ist in den §§ 143 und 144 SGG bzw. 124 und 124a VwGO geregelt.

Für das Sozialgerichtsverfahren gilt nach dem Regel-Ausnahmeprinzip folgendes:

Grundsätzlich ist die Berufung gegen Urteile und Gerichtsbescheide der Sozialgerichte nach § 143 SGG statthaft und damit zulässig, wenn die allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Klage vorliegen (Regelfall). Ausnahmsweise ist die Berufung unterhalb der gesetzlichen Bagatellgrenzen des § 144 Abs. 1 erst nach Zulassung durch das Sozialgericht im Urteil oder durch Beschluss des Landessozialgerichts auf Grund einer Nichtzulassungsbeschwerde statthaft. In § 144 Abs. 2 wird bestimmt, in welchen Fällen die Berufung trotz Unterschreiten der Bagatellgrenze zugelassen werden muss. Durch die Regelungen in § 144 SGG sollen Bagatellstreitigkeiten vermieden werden.

Die Berufung ist gemäß § 144 Abs. 1 SGG nur nach Zulassung statthaft, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes

  1. bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750,00 Euro oder
  2. bei einer Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden 10.000,00 Euro

nicht übersteigt. Die Bagatellgrenzen des § 144 Abs. 1 SGG gelten jedoch nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen, z.B. Blindengeld, für mehr als ein Jahr betrifft. Ist dem gegenüber nur ein begrenzter kürzerer Zeitraum des Leistungsbezugs von einem Volumen nicht über 750,00 Euro Gegenstand der Klage, so ist die Berufung nicht ohne Zulassung durch das Sozialgericht statthaft.

Wenn die Bagatellgrenzen des § 144 Abs. 1 nicht überschritten werden, muss die Berufung nach § 144 Abs. 2 zugelassen werden, wenn

  1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
  2. das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
  3. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

Grundsätzliche Bedeutung (§ 144 Abs. 2 Nr. 1) hat eine Rechtsfrage, wenn sie über den Einzelfall hinaus für zahlreiche andere Fälle entscheidungserheblich ist, bisher höchstrichterlich nicht geklärt wurde und geeignet ist, die Rechtseinheit zu erhalten oder die Fortbildung des Rechts zu fördern.

Der Einheit der Rechtsprechung dient § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG. Das Urteil des Sozialgerichts muss von den tragenden Gründen der obergerichtlichen Rechtsprechung abweichen und nicht nur von „beiläufigen Bemerkungen“ (den so genannten obiter dicta).

Ein Verfahrensmangel (§ 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG) liegt vor, wenn Verfahrensvorschriften verletzt werden, wenn z.B. unzureichendes rechtliches Gehör gewährt wird.

Wenn die Berufung im Urteil zugelassen wird, ist das Landessozialgericht an die Zulassung gebunden (§ 144 Abs. 3 SGG).

Ausdrücklich ausgeschlossen ist die Berufung, wenn sie sich nur gegen die Kostenentscheidung wendet (§ 144 Abs. 4 SGG).

Die Nichtzulassung der Berufung durch das Sozialgericht kann mit Beschwerde beim Landessozialgericht angefochten werden (§ 145 Abs. 1 SGG). Die Beschwerde ist bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten einzulegen.

Die Beschwerde soll das angefochtene Urteil bezeichnen und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben (§ 145 Abs. 2 SGG). Durch die Einlegung der Beschwerde wird die Rechtskraft des Urteils gehemmt (§ 145 Abs. 3 SGG).

Das Landessozialgericht entscheidet gemäß § 145 Abs. 4 SGG über die Nichtzulassungsbeschwerde durch Beschluss. Die Zulassung der Berufung muss nicht begründet werden. Der Ablehnung der Beschwerde soll eine kurze Begründung beigefügt werden. Mit der Ablehnung der Beschwerde wird das Urteil rechtskräftig.

Wenn das Landessozialgericht die Berufung zulässt, wird das Beschwerdeverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt. Die Berufung muss also nicht mehr durch den Beschwerdeführer gesondert eingelegt werden. Darauf ist in dem Beschluss hinzuweisen (§ 145 Abs. 5 SGG).

In allen anderen Fällen, also wenn sie gemäß § 143 SGG zulässig ist oder im Urteil des Sozialgerichts zugelassen wurde, ist die Berufung bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen (§ 151 Abs. 1 SGG). Die Berufungsfrist ist gemäß § 151 Abs. 2 SGG auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem Sozialgericht schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. In diesem Fall legt das Sozialgericht die Berufungsschrift oder die Niederschrift mit seinen Akten unverzüglich dem Landessozialgericht vor.

Die Berufungsschrift soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben (§ 151 Abs. 3 SGG).

Für das Verwaltungsgerichtsverfahren gilt folgendes:

Das Berufungsverfahren ist in den §§ 124 ff. VwGO geregelt. Gegenüber dem Sozialgerichtsverfahren ist die Statthaftigkeit in den §§ 124 und 124a VwGO abweichend geregelt. Nach § 124 Abs. 1 VwGO ist die Berufung gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 VwGO und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 VwGO statthaft, wenn sie vom Verwaltungsgericht oder vom Oberverwaltungsgericht zugelassen wird. Es bedarf also immer einer Entscheidung über die Zulässigkeit. Nach § 124 Abs. 2 VwGO ist die Berufung nur zuzulassen:

  1. wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
  2. wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
  3. wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
  4. wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
  5. wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

Nach § 124a Abs. 1 S. 1 VwGO lässt das Verwaltungsgericht die Berufung im Urteil zu, wenn die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 VwGO vorliegen, also wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr. 3) oder wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nr. 4). Das Oberverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden (§ 124a Abs. 1 S. 2 VwGO).

Die Berufung ist, wenn sie von dem Verwaltungsgericht zugelassen worden ist, innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils beim Verwaltungsgericht einzulegen. Die Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen (§ 124a Abs. 2 VwGO). Die Berufung ist zu begründen. Die Berufungsbegründung ist, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt, innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils beim Oberverwaltungsgericht einzureichen (§ 124a Abs. 3 S. 1 VwGO). Diese Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden des Senats verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe) enthalten. Wenn es an einem dieser Erfordernisse mangelt, ist die Berufung unzulässig. (§ 124a Abs. 3 VwGO).

Wenn die Berufung nicht im Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen wird, ist die Zulassung innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils beim Verwaltungsgericht zu beantragen (§ 124a Abs. 4 S. 1 und 2 VwGO). Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils ist zu begründen, warum die Berufung hätte zugelassen werden müssen (§ 124a Abs. 4 S. 4). Wenn diese Begründung nicht bereits im Antrag auf Zulassung der Berufung enthalten ist, ist sie beim Oberverwaltungsgericht einzureichen (§ 124a Abs. 4 S. 5 VwGO). Durch die Stellung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Rechtskraft des Urteils gehemmt (§ 124a Abs. 4 S. 6 VwGO).

Über den Antrag auf Zulassung der Berufung entscheidet das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss (§ 124a Abs. 5 S. 1 VwGO). Die Berufung ist zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 VwGO dargelegt wurde und vorliegt (§ 124a Abs. 5 S. 2 VwGO). Wenn der Antrag auf Zulassung der Berufung abgelehnt wird, wird damit das Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 S. 4 VwGO).

Wenn die Berufung vom Oberverwaltungsgericht zugelassen wird, wird das Antragsverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt. Deshalb ist es nicht erforderlich, erneut die Berufung einzulegen (§ 124a Abs. 5 S. 5 VwGO). Die Berufung ist aber innerhalb eines Monats nach Zustellung des Zulassungsbeschlusses zu begründen (§ 124a Abs. 6 S. 1 VwGO). Die Begründung ist beim Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe) angeben. Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig (§ 124a Abs. 6 S. 3 VwGO).

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4.3.1.2 Anschlussberufung

Der Berufungsbeklagte oder der Beigeladene kann sich, wenn er nicht ohnehin auch seinerseits Berufung gegen das Urteil eingelegt hat, der Berufung des Berufungsklägers im Wege der Anschlussberufung anschließen. Anders als im Verwaltungsgerichtsverfahren ist die Anschlussberufung im SGG nicht speziell geregelt. Nach § 202 SGG sind deshalb die einschlägigen Bestimmungen der ZPO anzuwenden. Dort ist die Anschlussberufung in § 524 ZPO geregelt. Bei der Anschlussberufung handelt es sich nicht um ein selbständiges Rechtsmittel; denn sie setzt die Berufung eines anderen Prozessbeteiligten, und zwar auch deren Zulässigkeit voraus. Sie verliert ihre Wirkung, wenn die „Hauptberufung“ z.B. gemäß § 156 SGG zurückgenommen wird (§ 202 SGG i.V.m. § 524 Abs. 4 ZPO).

Das Besondere an der Anschlussberufung ist, dass sie auch statthaft ist, wenn auf die Einlegung einer eigenständigen Berufung verzichtet wurde oder die Berufungsfrist für eine eigenständige Berufung verstrichen ist (§ 524 Abs. 2 S. 1 ZPO). Sie ist bis zum Ablauf der dem Berufungsbeklagten gesetzten Frist zur Berufungserwiderung zulässig (§ 524 Abs. 2 S. 2 ZPO).

Wegen der aufgezeigten Unterschiede muss, wenn nach einer von einem Prozessbeteiligten eingelegten Berufung auch ein anderer Prozessbeteiligter Berufung einlegt, stets geprüft werden, ob es sich um eine selbständige oder eine Anschlussberufung handelt.

Für das Verwaltungsgerichtsverfahren ist die Anschlussberufung in § 127 VwGO geregelt. Es gilt im Wesentlichen dasselbe wie für die Anschlussberufung im Sozialgerichtsverfahren. Wichtig ist jedoch, dass die Anschlussberufung nach § 127 Abs. 4 VwGO keiner Zulassung bedarf, während diese für die Berufung im Verwaltungsgerichtsverfahren stets erforderlich ist.

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4.3.1.3 Verfahrensgrundsätze im Berufungsverfahren

Nach § 153 Abs. 1 SGG bzw. § 125 Abs. 1 VwGO gelten für das Berufungsverfahren die gleichen Verfahrensvorschriften und Verfahrensgrundsätze wie im ersten Rechtszug, soweit nicht besondere Regelungen eingreifen. Zu den Verfahrensgrundsätzen vgl. oben 3.2.9.

Für den Berufungsrechtszug im Sozialgerichtsverfahren gelten demnach nach § 153 Abs. 1 SGG die Vorschriften des ersten Rechtszugs, also die §§ 87 bis 122. Hiervon ausgenommen sind ausdrücklich § 91 (Fristwahrung durch Klageerhebung bei einer anderen Stelle als dem Sozialgericht) und § 105 SGG (Entscheidung durch Gerichtsbescheid). Über § 202 SGG gelten ferner die Vorschriften der ZPO, soweit dies wegen der grundsätzlichen Unterschiede beider Verfahrensordnungen nicht ausgeschlossen ist.

Da § 105 SGG ausgeschlossen ist, ist eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid im Berufungsverfahren nicht möglich. § 153 Abs. 4 SGG ermöglicht aber für offensichtlich unbegründete Berufungen ein vereinfachtes Verfahren. Danach kann das Landessozialgericht außer in den Fällen des § 105 Abs. 2 S. 1 SGG, die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören. Die Möglichkeit, in einem Schriftsatz Stellung zu nehmen, genügt dafür. Gegen diesen ein Urteil ersetzenden Beschluss steht den Beteiligten nach § 158 S. 3 SGG das Rechtsmittel zu, das zulässig wäre, wenn das Gericht durch Urteil entschieden hätte. Die Beteiligten sind über dieses Rechtsmittel zu belehren. Wenn gegen einen vom Sozialgericht erlassenen Gerichtsbescheid Berufung eingelegt worden ist (Fall des § 105 Abs. 2 S. 1 SGG) ist ein urteilersetzender Beschluss nach § 153 Abs. 4 SGG (Zurückweisung der Berufung wegen offensichtlicher Unbegründetheit) nicht möglich. Es muss also ein Berufungsverfahren durchgeführt werden. Der Senat kann aber durch Beschluss die Durchführung des Berufungsverfahrens dem Berichterstatter übertragen (§ 153 Abs. 5 SGG). Dieser entscheidet dann zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern. Dadurch soll gewährleistet werden, dass innerhalb der Tatsacheninstanzen wenigstens eine mündliche Verhandlung durchgeführt wird.

Im Verwaltungsgerichtsverfahren finden nach § 125 Abs. 1 VwGO auf das Berufungsverfahren die Bestimmungen des zweiten Teiles (Verfahren), also die §§ 54 bis 123 VwGO, mit Ausnahme des § 84 VwGO, Anwendung. Da § 84 VwGO ausgeschlossen ist, kann auch im Verwaltungsgerichtsverfahren in der Berufungsinstanz kein Gerichtsbescheid ergehen. Wenn gegen einen Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Berufung eingelegt wird, erfolgt in der Regel gemäß § 6 VwGO die Übertragung des Rechtsstreits an den Einzelrichter, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist.

Außer in dem oben behandelten Fall des § 153 Abs. 5 SGG, wonach der Senat durch Beschluss das Berufungsverfahren gegen Gerichtsbescheide dem Berichterstatter übertragen kann, sieht § 155 SGG die Möglichkeit vor, dass der Vorsitzende seine in § 155 Abs. 1 genannten Aufgaben einem Berufsrichter des Senats übertragen kann. Die Übertragungsmöglichkeit ist, anders als nach § 6 VwGO für das Verwaltungsgerichtsverfahren auf diese Aufgaben beschränkt. Der Berufsrichter, dem die Aufgaben übertragen worden sind, wird dann als Berichterstatter (für den Senat) tätig. Die vom Vorsitzenden auf den beauftragten Richter übertragbaren Aufgaben sind in § 155 Abs. 1 SGG abschließend aufgeführt. Übertragbar sind hiernach: die Übersendung der Berufungsschrift (§ 104 SGG), Maßnahmen zur Sachaufklärung (§ 106 SGG), die Mitteilung von Beweisergebnissen (§ 107 SGG), die Übersendung vorbereitender Schriftsätze (§ 108 SGG) und die Versagung/Beschränkung der Akteneinsicht (§ 120 SGG).

Wenn ein Berichterstatter bestellt ist, was in der Regel der Fall ist, erfolgt die Aufgabenübertragung nicht nach § 155. Abs. 1 SGG durch den Vorsitzenden. Seine Zuständigkeit ergibt sich vielmehr in diesem Fall aus § 155 Abs. 2 SGG. Er muss in den in § 155 Abs. 2 SGG genannten Fällen kraft Gesetzes allein und damit als Einzelrichter entscheiden (§ 155 Abs. 4 SGG). Seine Entscheidung ist dennoch die des Senats, wenngleich in der Besetzung mit einem Einzelrichter. Es handelt sich im Wesentlichen um verfahrensvorbereitende Entscheidungen.

Nach § 155 Abs. 3 SGG kann der Vorsitzende bzw. nach § 155 Abs. 4 SGG der Berichterstatter im Einverständnis mit den Beteiligten auch sonst anstelle des Senats entscheiden. Sie sind damit befugt an Stelle des gesamten Senats das Berufungsverfahren in vollem Umfang durchzuführen und zu entscheiden, d.h. auch ein Urteil zu erlassen.

Der Berufungsrechtszug ist eine zweite Tatsacheninstanz. Im Sozialgerichtsverfahren prüft das Landessozialgericht den Streitfall im gleichen Umfang wie das Sozialgericht (§ 157 SGG). Das Landessozialgericht kann die vom Sozialgericht erhobenen Beweise verwerten. Es kann die Beweisaufnahme aber auch wiederholen oder ergänzen; denn an die Ergebnisse und Feststellungen des Sozialgerichts ist das Landessozialgericht nicht gebunden. Das Landessozialgericht hat grundsätzlich auch neu vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel zu berücksichtigen (§ 157 SGG). Neue Erklärungen und Beweismittel, die im ersten Rechtszug entgegen einer hierfür gesetzten Frist (§ 106a Abs. 1 und 2 SGG) nicht vorgebracht worden sind, kann das Gericht unter den Voraussetzungen des § 106a Abs. 3 SGG zurückweisen (§ 157a Abs. 1 SGG). Erklärungen und Beweismittel, die das Sozialgericht zu Recht zurückgewiesen hat, bleiben nach § 157a Abs. 2 SGG auch im Berufungsverfahren ausgeschlossen. Mit dieser Bestimmung soll eine Prozessverzögerung verhindert werden.

Für das Verwaltungsgerichtsverfahren vgl. die §§ 128 und 128a VwGO, die im Wesentlichen den gleichen Inhalt haben.

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4.3.1.4 Verfahrensabschlüsse im Berufungsverfahren

Das Berufungsverfahren kann durch Urteil, urteilersetzenden Beschluss, Vergleich, angenommenes Anerkenntnis, Zurücknahme der Klage oder der Berufung oder beiderseitige Erledigungserklärung abgeschlossen werden, nicht jedoch durch Gerichtsbescheid (§ 153 Abs. 1 SGG bzw. § 125 VwGO). Im Einzelnen dazu:

In Fällen unzweifelhafter Aussichtslosigkeit der Berufung in der Sache kann das Landessozialgericht die Berufung ohne mündliche Verhandlung durch einen urteilersetzenden Beschluss zurückweisen (§ 153 Abs. 4 S. 1 SGG). Für den Beschluss ist § 142 SGG zu beachten. Er ist insbesondere zu begründen. Der Beschluss muss einstimmig sein und darf nur nach vorheriger (schriftlicher) Anhörung der Beteiligten ergehen (§ 153 Abs. 4 S. 1 und 2 SGG). Der Beschluss ist ggf. mit der Revision anfechtbar (§ 153 Abs. 4 S. 3 i.V.m. § 158 S. 3 SGG).

Im Verwaltungsgerichtsverfahren kann das Oberverwaltungsgericht nach § 130a VwGO über die Berufung durch einen das Urteil ersetzenden Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet hält und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich erachtet. Es ist also auch eine positive Entscheidung möglich.

Eine Berufung, welche nicht statthaft oder nicht in der gesetzlichen Frist oder nicht schriftlich oder nicht in elektronischer Form oder nicht zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wurde, muss als unzulässig verworfen werden (§ 158 S. 1 SGG). Dasselbe gilt, wenn sie aus einem anderen Grund, z.B. wegen fehlender Beschwer unzulässig ist (Haufe Onlinekommentar Rz. 3 zu § 158 SGG). Die unzulässige Berufung kann durch Urteil oder durch einen das Urteil ersetzenden Beschluss verworfen werden (§ 158 S. 2 SGG). Als urteilsersetzender Beschluss ist dieser zu begründen (§ 142 Abs. 2 SGG). Diese für den Berufungskläger negative Prozessentscheidung ergeht ohne Sachprüfung durch das Landessozialgericht. Der urteilsersetzende Beschluss kann wie das Urteil mit Nichtzulassungsbeschwerde oder - sofern zugelassen - mit der Revision angegriffen werden (§ 158 S. 3 SGG).

Die VwGO enthält für das Verwaltungsgerichtsverfahren in § 125 Abs. 2 eine entsprechende Regelung.

§ 159 SGG räumt unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit ein, den Rechtsstreit an das Sozialgericht zurückzuverweisen. Zwar ist das Berufungsgericht verpflichtet, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln und grundsätzlich selbst zu entscheiden. Kommt das Berufungsgericht zum Ergebnis, dass die Berufung begründet ist, muss es grundsätzlich in der Sache entscheiden. Eine unbegründete Berufung ist zurückzuweisen. Die unzulässige Berufung ist zu verwerfen (§ 158 SGG).

Eine Zurückverweisung ist jedoch statthaft, wenn die Voraussetzungen des § 159 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 vorliegen. Das Landessozialgericht kann danach durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn

  1. dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden,
  2. das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet,
  3. nach dem Erlass des angefochtenen Urteils neue Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die für die Entscheidung wesentlich sind.

Ob das Landessozialgericht den Rechtsstreit zurückverweist oder selbst entscheidet, liegt in seinem Ermessen. Im Fall der Zurückverweisung ist das Sozialgericht an die rechtliche Beurteilung des Landessozialgerichts gebunden (§ 159 Abs. 2 SGG).

Für das Verwaltungsgerichtsverfahren enthält § 130 VwGO eine entsprechende Regelung. Abweichend vom Sozialgerichtsverfahren erfolgt im Verwaltungsgerichtsverfahren die Zurückverweisung aber nur auf Antrag der Beteiligten (§ 130 Abs. 2 VwGO).

Das Berufungsverfahren endet auch durch Klagerücknahme. Der Berufungskläger kann die Berufung zurücknehmen. Das hat den Verlust des Rechtsmittels zur Folge (§ 156 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 SGG). Das Urteil des Sozialgerichts wird mit der Zurücknahme rechtskräftig. Die Zurücknahme ist bis zur Rechtskraft des Berufungsurteils oder der urteilsersetzenden Beschlüsse nach § 153 Abs. 4 oder § 158 S. 2 SGG möglich (§ 156 Abs. 1 S. 1 SGG). Sie bedarf nach Schluss der mündlichen Verhandlung aber (im Gegensatz zur Zurücknahme der Klage) der Einwilligung des Gegners (§ 156 Abs. 1 S. 2 SGG). Die Rücknahme der Berufung ist in denselben Formen wie die Einlegung der Berufung (§ 151 Abs. 1 SGG) und in der mündlichen Verhandlung möglich.

Für das Verwaltungsgerichtsverfahren enthält § 126 VwGO eine entsprechende Regelung. Die Rücknahme nach Stellung der Anträge in der mündlichen Verhandlung setzt gem. § 126 Abs. 1 S. 2 VwGO die Einwilligung des Beklagten und, wenn ein Vertreter des öffentlichen Interesses an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat, auch seine Einwilligung voraus. Die Berufung gilt als zurückgenommen, wenn der Berufungskläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt (§ 126 Abs. 1 VwGO).

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4.3.2 Das Revisionsverfahren

Das Revisionsverfahren ist für die Sozialgerichtsbarkeit in den §§ 160 bis 171 SGG und für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in den §§ 132 bis 145 VwGO geregelt.

Um Erfolg zu haben, muss die Revision statthaft und auch im Übrigen zulässig sowie begründet sein.

Für die Revision ist das Bundessozialgericht bzw. das Bundesverwaltungsgericht instantiell zuständig (§ 39 Abs. 1 SGG bzw. § 49 VwGO).

Das Revisionsgericht hat die Aufgabe, die Anwendung des revisiblen Rechts durch die Vorinstanz zu prüfen. Was revisibles Recht ist, ergibt sich für die Sozialgerichtsbarkeit aus § 162 SGG und für die Verwaltungsgerichtsbarkeit aus § 137 VwGO.

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4.3.2.1 Anzuwendende Vorschriften im Revisionsverfahren

Für das Revisionsverfahren gelten, soweit in den §§ 160 bis 171 SGG bzw. 132 bis 145 VwGO nichts Abweichendes geregelt ist, die Bestimmungen über das Berufungsverfahren entsprechend (§ 165 S. 1 SGG § 141 VwGO). Die §§ 153 Abs. 2 und 4 SGG sowie 155 Abs. 2 bis 4 SGG sind von der Anwendung ausdrücklich ausgeschlossen (§ 165 S. 2 SGG). Über die Verweisung auf die Vorschriften im ersten Rechtszug in § 153 Abs. 1 SGG finden auch die allgemeinen Verfahrensgrundsätze Anwendung.

Im Revisionsverfahren der Sozialgerichtsbarkeit gelten danach:

  • die Vorschriften über die Revision unmittelbar (§§ 160 ff. SGG),
  • die Vorschriften über die Berufung entsprechend, soweit sich nicht aus den §§ 160 ff. SGG etwas anderes ergibt (§ 165 S. 1 SGG),
  • die Vorschriften über das erstinstanzliche Verfahren entsprechend mit Ausnahme der §§ 91 (Wahrung der Klagefrist durch Einreichung bei einer Behörde oder einem Versicherungsträger), 105 SGG (Entscheidung durch Gerichtsbescheid) (§ 165, § 153 Abs. 1 SGG), so gelten z.B. die Vorschriften über die Aufklärungspflicht des Vorsitzenden (§ 106 Abs. 1 SGG), die Terminsbestimmung und Ladung (§ 110 SGG) oder die mögliche Anordnung des persönlichen Erscheinens (§ 111 SGG),
  • die gemeinsamen Verfahrensvorschriften (§§ 60 bis 75 SGG) unmittelbar, B. über das rechtliche Gehör (§ 62 SGG), die Partei- und Prozessfähigkeit (§§ 70, 71 SGG), die Bestellung eines besonderen Vertreters (§ 72 SGG), die Entscheidung mit oder ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 1 und 2 SGG), die grundsätzliche Entscheidung durch Urteil (§ 125 SGG), das Grundurteil (§ 130 SGG) oder auch die Urteilsformel (§ 131 SGG),
  • über die Verweisung in § 202 SGG die Vorschriften der ZPO entsprechend, soweit das SGG keine Bestimmungen enthält.

Weil nach § 163 SGG das BSG grundsätzlich an die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil gebunden ist, ist § 157 SGG, der das Landessozialgericht im Berufungsverfahren zur Prüfung des Streitfalls im selben Umfang wie das Sozialgericht und somit auch in tatsächlicher Hinsicht verpflichtet, im Revisionsverfahren nicht anzuwenden.

Im Revisionsverfahren der Verwaltungsgerichtsbarkeit gelten nach § 141 VwGO die Vorschriften über die Berufung entsprechend, soweit sich aus den §§ 132 ff. VwGO nichts anderes ergibt. Ausdrücklich von der Geltung ausgenommen sind die §§ 87a, 130a und 130b VwGO.

Durch die Verweisung in § 125 Abs. 1 VwGO gelten damit auch die Vorschriften des zweiten Teils (Vorschriften über das Verfahren) entsprechend.

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4.3.2.2 Statthaftigkeit und Zulässigkeit

Zulässig ist die Revision, wenn sie statthaft ist und die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen vorliegen.

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4.3.2.2.1 Allgemeines zur Statthaftigkeit

Statthaft ist die Revision, wenn

  1. sie gegen die angefochtene Entscheidung gesetzlich vorgesehen ist,
  2. die Berufung statthaft war und
  3. das LSG oder BSG, bzw. im Fall einer Sprungrevision das SG, sie zugelassen hat.

Das Rechtsmittel der Revision kommt im Sozialgerichtsverfahren in Frage:

  • gegen das Urteil eines Landessozialgerichts (§ 160 Abs. 1 SGG),
  • gegen den Beschluss eines Landessozialgerichts gem. § 153 Abs. 4 S. 1 SGG, (urteilsersetzender Beschluss, durch welchen die Berufung als unbegründet zurückgewiesen werden kann, wenn dieser Beschluss einstimmig gefasst und eine mündliche Verhandlung für nicht notwendig gehalten wird) und
  • als Sprungrevision gegen das Urteil eines Sozialgerichts (§ 161 Abs. 1 S. 1 SGG).

Für das Verwaltungsgerichtsverfahren vgl. § 132 Abs. 1 VwGO (Urteile des Oberverwaltungsgerichts und Beschlüsse nach § 47 Abs. 5 S. 1 VwGO im Normenkontrollverfahren nach § 47 VwGO) und § 134 Abs. 1 VwGO (Sprungrevision gegen Urteile des Verwaltungsgerichts).

Die Revision ist allerdings nur statthaft, wenn sie zugelassen wird (§ 160 Abs. 1 SGG bzw. § 132 Abs. 1 VwGO).

Die Zulassung erfolgt im Sozialgerichtsverfahren

  • im Urteil des Landessozialgerichts (§ 160 Abs. 1 SGG) oder
  • im Beschluss des Landessozialgerichts gem. § 153 Abs. 4 SGG oder
  • durch Beschluss des BSG auf Nichtzulassungsbeschwerde (§ 160 Abs. 1 i.V.m. § 160a Abs. 4 S. 2 SGG) oder
  • im Urteil oder durch gesonderten Beschluss des Sozialgerichts bei Sprungrevision (§ 161 Abs. 1 S. 1 SGG).

Für die Zulassung der Revision im Verwaltungsgerichtsverfahren vgl. die §§ 132 (Zulassung im Urteil des OVG), 133 Abs. 1 (Zulassung durch Beschluss auf Grund einer Nichtzulassungsbeschwerde) und § 134 (Sprungrevision).

Wenn ein Landessozialgericht die Revision oder ein Sozialgericht die Sprungrevision zugelassen hat, ist das BSG an diese Entscheidung gebunden (§ 160 Abs. 3, § 161 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Entsprechendes gilt für das Verwaltungsgerichtsverfahren nach den §§ 132 Abs. 3, 134 Abs. 2 S. 2 VwGO.

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4.3.2.2.2 Zulassungsgründe im Sozialgerichtsverfahren

Die Gründe, aus welchen die Revision im Sozialgerichtsverfahren zuzulassen ist, sind in § 160 Abs. 2 SGG bzw. für die Sprungrevision in § 161 Abs. 2 SGG abschließend geregelt. Die Revision ist demnach gem. § 160 Abs. 2 nur zuzulassen, wenn

  1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Grundsatzrevision) oder
  2. das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Divergenzrevision) oder
  3. ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (Verfahrensrevision). Der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 (Anhörung eines bestimmten Arztes) und 128 Abs. 1 S. 1 (Beweiswürdigung) gestützt werden. Auf eine Verletzung des § 103 (mangelnde Sachaufklärung) kann er nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

Grundsätzliche Bedeutung (Grundsatzrevision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1) ist gegeben, wenn die Rechtssache eine entscheidungserhebliche, klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus Bedeutung für die Allgemeinheit hat (Haufe Onlinekommentar Rz. 9 zu § 160 SGG).

Die Divergenzrevision (§ 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG) dient der Einheitlichkeit der Rechtsprechung. Abweichung (Divergenz) i.S.v. § 160 Abs. 2 Nr. 2 bedeutet Widerspruch im Rechtssatz, also das Nichtübereinstimmen tragender abstrakter Rechtssätze, die zwei Urteilen zugrunde gelegt worden sind. Für eine abweichende Entscheidung ist erforderlich, dass das LSG bewusst einen von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweichenden Rechtssatz aufgestellt und nicht etwa lediglich nur fehlerhaft das Recht angewandt hat (Haufe Onlinekommentar Rz. 14 zu § 160 SGG).

Die Verfahrensrevision (§ 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG) bezweckt, dem BSG die Möglichkeit einzuräumen, auf eine rechtmäßige Anwendung des Verfahrensrechts hinzuwirken und damit im Ergebnis sicherzustellen, dass den Gesichtspunkten der Gerechtigkeit, der sachlichen Richtigkeit und der Rechtssicherheit im Einzelfall hinreichend Rechnung getragen wird. Es soll eine verfahrensfehlerfreie Prozessführung gesichert und insoweit auch die Rechtseinheitlichkeit gewährleistet sein. Als Verfahrensmangel kommt z.B. die Nichtbeachtung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gem. § 62 SGG in Frage. Keine Verfahrensmängel sind nach der ausdrücklichen Regelung in § 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG fehlerhafte Beweiswürdigungen, Verstöße gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze sowie gegen Grundsätze der materiellen Beweislast. Zahlreiche Beispiele für Verfahrensmängel sind bei Haufe Onlinekommentar Rz. 18 zu § 160 SGG aufgeführt.

Der Verfahrensmangel muss erheblich sein. Im Fall eines absoluten Revisionsgrundes (§ 202 SGG i.V.m. § 547 ZPO) wird unwiderlegbar vermutet, dass die Entscheidung auf der Gesetzesverletzung beruht. Rechtserheblich ist ein Verfahrensmangel im Übrigen nicht erst, wenn sich sein Einfluss auf die Entscheidung positiv feststellen lässt. Es genügt vielmehr, wenn das Urteil auf dem Mangel beruhen kann, wenn also jedenfalls die Möglichkeit besteht, dass ohne ihn anders entschieden worden wäre (Haufe Onlinekommentar Rz. 28 zu § 160 SGG).

Was absolute Revisionsgründe sind, ist in § 547 ZPO aufgelistet. Eine Entscheidung ist danach stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen,

  1. wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war,
  2. wenn bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen war, sofern nicht dieses Hindernismittels eines Ablehnungsgesuchs ohne Erfolg geltend gemacht ist,
  3. wenn bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, obgleich er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt und das Ablehnungsgesuch für begründet erklärt war,
  4. wenn eine Partei in dem Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten war, sofern sie nicht die Prozessführung ausdrücklich oder stillschweigend genehmigt hat,
  5. wenn die Entscheidung auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind,
  6. wenn die Entscheidung entgegen den Bestimmungen dieses Gesetzes nicht mit Gründen versehen ist.

Die Zulassung der Revision führt zu ihrer Statthaftigkeit. Die allgemeinen Zulässigkeitsgründe im Übrigen sind gesondert zu prüfen. Wenn zugelassen wird und die Revision im Übrigen zulässig ist, ist die Revision eröffnet. Der Zulassungsgrund und der Revisionsgrund müssen nicht identisch sein. Im Revisionsverfahren können alle Verletzungen materiellen und formellen Rechts geltend gemacht werden (BSGE 40 S. 51). Eine zugelassene und zulässige Revision führt als Vollrevision grundsätzlich zur Überprüfung des gesamten angefochtenen Urteils (BSG, Urteil v. 07.11.2001, - B 9 SB 1/01 R).

Auch die Eingrenzung der Verfahrensrevision, wie sie in § 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG enthalten ist, bezieht sich nur auf das Zulassungsverfahren. Nach Zulassung können alle Verfahrensrügen geltend gemacht werden (Haufe Onlinekommentar Rz. 29 zu § 160 SGG). Es kann also auch eine Verletzung der §§ 109 (Anhörung eines bestimmten Arztes) und 128 Abs. 1 S. 1 (Beweiswürdigung) SGG beanstandet werden. Gravierende Verfahrensmängel sind sodann von Amts wegen zu prüfen Die Zulassung bewirkt, dass nunmehr alle Beteiligten, also Kläger, Beklagter und Beigeladener (§ 69 SGG), Revision einlegen können, sofern sie beschwert sind.

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4.3.2.2.3 Besonderheiten bei der Sprungrevision im Sozialgerichtsverfahren

Besondere Vorschriften enthält § 161 SGG für die Sprungrevision. Die Sprungrevision ist nur dann zweckmäßig, wenn der Sachverhalt eindeutig feststeht und unumstritten ist, aber grundsätzliche Rechtsfragen geklärt werden sollen oder Divergenz zur Rechtsprechung im Sinn von § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG besteht.

Die Sprungrevision wird statthaft, wenn der Gegner schriftlich zustimmt und das SG sie zulässt (§ 161 Abs. 1 SGG).

Die Sprungrevision ist gem. § 161 Abs. 2 S. 1 SGG nur zuzulassen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 (Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung) oder Nr. 2 (Divergenzrevision) SGG vorliegen. Auf Verfahrensmängel kann die Sprungrevision nicht gestützt werden (§ 161 Abs. 4 SGG). Wenn die Zulassung der Sprungrevision abgelehnt wird, ist dieser Beschluss unanfechtbar, kann also nicht mit der Nichtzulassungsbeschwerde angegriffen werden (§ 161 Abs. 2 S. 3 SGG). Mit der Zustellung des Ablehnungsbeschlusses beginnt deshalb die Berufungsfrist oder die Frist für die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung von neuem zu laufen (§ 161 Abs. 3 S. 1 SGG).

Die Zulassung der Sprungrevision erfolgt (von Amts wegen) im Urteil oder auf Antrag durch Beschluss (§ 161 Abs. 1 SGG). Wenn sie im Urteil zugelassen wird, muss das im Tenor (Urteilsformel) ausgesprochen werden. Eine Zulassung in der Rechtsbehelfsbelehrung genügt nicht.

Beginnend mit der Zustellung des Beschlusses oder Urteils läuft für jeden Verfahrensbeteiligten seine Revisionseinlegungsfrist. Die Revision ist nunmehr statthaft. Die allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen müssen ungeachtet dessen vorliegen.

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4.3.2.2.4 Zulassungsvoraussetzungen im Verwaltungsgerichtsverfahren

Für das Verwaltungsgerichtsverfahren sind die Voraussetzungen, unter welchen die Revision zuzulassen ist, in § 132 Abs. 2 VwGO und für die Sprungrevision in § 134 Abs. 2 S. 1 VwGO entsprechend geregelt.

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4.3.2.2.5 Allgemeine Verfahrensvoraussetzungen

Damit die statthafte Revision insgesamt zulässig ist, müssen die Sachurteilsvoraussetzungen (vgl. 4.1.7.1) sowie weitere, nur für die Revision geltende formale Erfordernisse erfüllt sein.

Vor dem Bundessozialgericht herrscht für die Beteiligten grundsätzlich Vertretungszwang. Nach § 73 Abs. 4 SGG müssen sich die Beteiligten dort, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Als Bevollmächtigte sind außer den in § 73 Absatz 2 Satz 1 SGG bezeichneten Personen nur die in Absatz 2 Satz 2 Nr. 5 bis 9 bezeichneten Organisationen zugelassen. Das bedeutet, dass auch Selbsthilfeorganisationen in Verfahren vor dem Bundessozialgericht für ihre Mitglieder als Prozessbevollmächtigte handeln können. Die zugelassenen Organisationen müssen in Verfahren vor dem Bundessozialgericht durch Personen mit Befähigung zum Richteramt (Volljuristen) handeln. Eine Zulassung als Rechtsanwalt ist nicht erforderlich. Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer

öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse sowie private Pflegeversicherungsunternehmen können sich durch eigene Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt oder durch Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse vertreten lassen.

Für die Revision vor dem Bundesverwaltungsgericht bestimmt § 67 Abs. 3 VwGO, dass die Vertretung außer im Prozesskostenhilfeverfahren nur durch Rechtsanwälte oder Hochschullehrer mit Befähigung zum Richteramt möglich ist. Nur Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse können sich durch eigene Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt oder durch Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse vertreten lassen (§ 67 Abs. 4 S. 4 VwGO).

Prozesshandlungen kann für die Beteiligten nur ein Prozessbevollmächtigter gem. § 73 SGG bzw. § 67 VwGO vornehmen (Postulationsfähigkeit). Nur er kann z.B. Revision einlegen und begründen, Verfahrensanträge stellen, Erklärungen abgeben, das Verfahren einseitig durch Zurücknahme der Revision beenden usw.

Bei fehlender Postulationsfähigkeit ist die Revision unzulässig.

Die statthafte Revision muss in der gesetzlichen Frist und Form eingelegt und begründet worden sein (§ 169 S. 1 SGG bzw. § 143 S. 1 VwGO).

Die Einlegung beim Bundessozialgericht muss innerhalb eines Monats nach Zustellung entweder des Urteils des Landessozialgerichts (§ 164 Abs. 1 S. 1 SGG), des Urteils des Sozialgerichts im Fall der Sprungrevision (§ 164 Abs. 1 S. 1 SGG), des Zulassungsbeschlusses des BSG (§ 164 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 160a Abs. 4 S. 2 und 5 SGG) oder des Zulassungsbeschlusses des Sozialgerichts im Fall der Sprungrevision (§ 164 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 161 Abs. 3 S. 2 SGG) erfolgen.

Die Zustellung im Ausland setzt die dreimonatige Rechtsmittelfrist in Lauf (§§ 165, 153 Abs. 1, 87 Abs. 1 S. 2 SGG). § 66 Abs. 2 SGG gilt auch für die Revisionsfrist.

Die Einlegung muss schriftlich erfolgen (§ 164 Abs. 1 S. 1 SGG). Wegen des Vertretungszwangs (§ 73 SGG) kommt es auf die Unterschrift eines postulationsfähigen Vertreters an. Wie bei Klage und Berufung erkennt die Rechtsprechung auch hier moderne Kommunikationsformen wie Telegramm, Telefax oder Computerfax ohne originär handschriftliche Signatur an. Neben die schriftliche Einlegung der Revision tritt unter den Voraussetzungen des § 65a Abs. 1 Satz 1 SGG die elektronische Form.

Die Datei bedarf einer qualifizierten elektronischen Signatur (§ 65a Abs. 1 S. 3 SGG i.V.m. § 2 Nr. 3 Signaturgesetz).

Wenn Frist- oder Formmängel vorliegen, ist die Berufung als unzulässig zu verwerfen (§ 169 S. 1 und 2 SGG). Die Verwerfung kann ohne mündliche Verhandlung erfolgen. Das geschieht dann durch Beschluss, wobei die ehrenamtlichen Richter nicht zugezogen werden.

Die Revision kann nur beim BSG eingelegt werden. § 91 SGG gilt im Revisionsverfahren nicht (§ 165, § 153 Abs. 1 SGG).

Von der Revisionsfrist ist die Revisionsbegründungsfrist zu unterscheiden. Die Begründung der Revision muss innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils des Landessozialgerichts oder - im Fall der Sprungrevision - des Sozialgerichts beim BSG eingereicht sein (§ 164 Abs. 2 S. 1 SGG). Die Begründungsfrist kann jedoch vom Vorsitzenden des erkennenden Senats auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag verlängert werden (§ 164 Abs. 2 S. 2 SGG).

Die Revisionsbegründung muss schriftlich erfolgen (Schluss aus § 164 Abs. 2 S. 3 SGG) und inhaltlich den Erfordernissen des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG entsprechen.

Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten. Die verletzte Rechtsnorm muss bezeichnet, d.h. zumindest inhaltlich deutlich werden. Soweit Verfahrensmängel gerügt werden, müssen die Tatsachen bezeichnet werden, die den Mangel ergeben.

Frist- und Formmängel führen ebenfalls zur Unzulässigkeit der Revision (§ 169 S. 1 und 2 SGG).

Für das Verwaltungsgerichtsverfahren enthält die VwGO in den §§ 139 (Einlegung und Begründung der Revision), 67 (Vertretung) 55a (elektronische Übermittlung von Schriftsätzen), 143 (Prüfung der Statthaftigkeit und Zulässigkeit der Revision) und 144 (Entscheidung über die Zulässigkeit der Revision) entsprechende Regelungen. Folgende Abweichungen sind zu beachten: Die Revision ist nach § 139 Abs. 1 VwGO bei dem Gericht einzureichen, dessen Urteil angegriffen wird. Sie kann aber auch direkt beim Bundesverwaltungsgericht eingelegt werden. Die Begründung muss aber fristgerecht beim Bundesverwaltungsgericht eingereicht werden (§ 139 Abs. 3 VwGO). Wenn die Revision unzulässig ist, wird sie durch das Bundesverwaltungsgericht stets durch Beschluss verworfen (§ 144 Abs. 1 VwGO).

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4.3.2.2.6 Nichtzulassungsbeschwerde

Wenn die Revision nicht zugelassen wird, kommt als Rechtsbehelf die Nichtszulassungsbeschwerde in Frage (§ 160a Abs. 1 S. 1 SGG). Statthaft ist die Nichtzulassungsbeschwerde gegen revisible Urteile des LSG, nicht jedoch gegen das eine Sprungrevision versagende Urteil des SG (§ 161 Abs. 2 S. 3 SGG).

Die nach § 160 SGG statthafte Nichtzulassungsbeschwerde wird zulässig, wenn Form und Frist gewahrt sind und die Prozessvoraussetzungen einschließlich Rechtsschutzbedürfnis und Beschwer vorliegen (Haufe Onlinekommentar Rz. 4 zu § 160a SGG). Die Beschwerde ist beim BSG einzulegen. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist schriftlich einzulegen. Die Beschwerdefrist beträgt einen Monat seit Zustellung des vollständigen Urteils an den Beschwerdeführer (Einlegungsfrist). Die Einlegungsfrist ist von der Begründungsfrist nach § 160a Abs. 2 SGG zu unterscheiden. Sie kann als gesetzliche Frist nicht verlängert werden (§ 65 SGG).

Der Beschwerde soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das Revision eingelegt werden soll, beigefügt werden (§ 160a Abs. 1 S. 2). Die unbegründete Nichtzulassungsbeschwerde wird zurückgewiesen. Die begründete Nichtzulassungsbeschwerde führt zur Zulassung der Revision. Das BSG entscheidet durch Beschluss unter Einbeziehung der ehrenamtlichen Richter (§ 160a Abs. 4 S. 2 SGG). Wird die Nichtzulassungsbeschwerde (als unzulässig) verworfen, wirken die ehrenamtlichen Richter hingegen nicht mit. Das folgt daraus, dass sie auch bei einer Verwerfung der Revision als unzulässig nicht mitwirken und damit für die Nichtzulassungsbeschwerde nichts anderes gelten kann (Haufe Onlinekommentar Rz. 9 zu § 160a SGG).

Die Beschwerdebegründungsfrist beträgt zwei Monate nach Zustellung des vollständigen Urteils an den Beschwerdeführer, im Ausland vier Monate. Die Begründungsfrist kann nach § 160a Abs. 2 S. 2 vom Vorsitzenden einmal um einen Monat verlängert werden. Der Antrag muss vor Fristablauf beim BSG eingegangen sein.

An die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde werden hohe Anforderungen gestellt. Sie muss deshalb sehr sorgfältig begründet werden. Die Beschwerde richtet sich allein gegen die Nebenentscheidung des LSG „Die Revision wird nicht zugelassen". Streitgegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde ist daher allein, ob und ggf. warum einer der drei Zulassungsgründe des § 160 Abs. 2 SGG vorliegt. Jegliche Ausführungen zur Richtigkeit der Hauptsacheentscheidung sind verfehlt. Wenn sachlich-rechtliches Vorbringen mit der Rüge von Zulassungsgründen vermischt wird, kann dies mangels Klarheit der Beschwerdebegründung zur Unzulässigkeit der Beschwerde führen (Haufe Onlinekommentar Rz. 17 zu § 160a SGG). Zahlreiche Beispiele über eine unzureichende Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde finden sich bei Haufe Onlinekommentar Rz. 22 zu § 160a SGG. Muster für die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde enthält Haufe Onlinekommentar Rz. 43 (wegen grundsätzlicher Bedeutung), 44 (wegen Verfahrensmängel) und 45 (wegen Divergenz).

Für das Verwaltungsgerichtsverfahren vgl. § 133 VwGO. Im Wesentlichen gelten dafür die obigen Ausführungen entsprechend. Einige Abweichungen sind jedoch zu beachten: Anders als im Sozialgerichtsverfahren ist die Nichtzulassungsbeschwerde nach § 133 Abs. 2 S. 1 VwGO beim Oberverwaltungsgericht einzulegen. Dieses kann, ebenfalls anders als im Sozialgerichtsverfahren, der Beschwerde abhelfen. Eine Verlängerung der Frist für die Begründung der Beschwerde ist nach § 134 VwGO nicht möglich.

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4.3.2.3 Anschlussrevision

Für das Sozialgerichtsverfahren ist die Anschlussrevision im SGG nicht ausdrücklich geregelt, aber auch hier statthaft (§ 202 SGG i.V.m. § 554 ZPO). Eine Anschlussrevision liegt vor, wenn der Revisionsbeklagte über den Antrag hinausgeht, die Revision des Klägers zurückzuweisen (Haufe Onlinekommentar Rz. 4 zu § 160 SGG). Die Anschließung erfolgt durch Einreichung einer Revisionsanschlussschrift bei dem Revisionsgericht. Wendet sich der Beteiligte allerdings innerhalb der Revisionsfrist an das BSG mit dem Begehren, das Berufungsurteil zu seinen Gunsten abändern zu lassen, so handelt es sich nicht um eine Anschlussrevision, sondern um eine eigenständige Revision dieses Beteiligten. Die Anschließung setzt demzufolge voraus, dass sie nach Ablauf der Revisionsfrist für die eigenständige Revision erklärt wird (Haufe Onlinekommentar a.a.O.). Gemäß § 554 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 ZPO kann sich der Revisionsbeklagte der Revision nach Ablauf der Revisionsfrist anschließen, wenn er dies binnen eines Monats nach der Zustellung der Revisionsbegründung erklärt. Die Anschlussrevision kann nicht nur vom Revisionsbeklagten, sondern auch von einem Beigeladenen erhoben werden (Haufe Onlinekommentar Rz. 5 zu § 160 SGG).

Für das Verwaltungsgerichtsverfahren ergibt sich die Möglichkeit der Anschlussrevision aus § 141 VwGO, wonach die Vorschriften über das Berufungsverfahren entsprechend gelten, soweit für das Revisionsverfahren nichts Abweichendes geregelt ist, i.V.m. § 127 VwGO. Nach § 127 Abs. 4 VwGO bedarf die Anschlussrevision keiner Zulassung. Die Anschlussrevision kann nach der ausdrücklichen Bestimmung in § 127 Abs. 1 S. 1 VwGO von allen Beteiligten erhoben werden.

Vgl. zum Ganzen auch die Ausführungen zur Anschlussberufung unter 4.3.1.2.

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4.3.2.4 Begründetheit der Revision

Im Sozialgerichtsverfahren ist die Revision gem. § 162 SGG nur dann begründet, wenn die Entscheidung auf der Verletzung von Bundesrecht oder einer sonstigen im Bezirk des Berufungsgerichts geltenden Vorschrift beruht, deren Geltungsbereich sich über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt.

Das revisible Recht muss verletzt sein (§ 202 SGG i.V.m. § 546 ZPO). Das ist dann der Fall, wenn eine revisible Vorschrift nicht oder unrichtig angewandt worden ist. Nicht angewandt ist eine Vorschrift, wenn sie in den Gründen überhaupt nicht erwähnt wird; ferner, wenn sie zwar erwähnt wird, aber als für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht bedeutsam angesehen wird; unrichtig angewandt ist die Vorschrift, wenn sie unrichtig ausgelegt worden ist (Haufe Onlinekommentar Rz. 4 zu § 162 SGG).

Zum revisiblen Recht gehören danach z.B.:

  • Verfassungs-, Gesetzes- und Verordnungsrecht,
  • Bundesgewohnheitsrecht,
  • Satzungen bundesunmittelbarer Körperschaften,
  • Recht der Europäischen Union,
  • allgemeine Rechtsgrundsätze, z.B. Verwirkung, Übermaßverbot, Gleichheitssatz, Äquivalenzprinzip, Folgenbeseitigungsanspruch, Willkürverbot, Vertrauensschutz, Verfahrensfairness,
  • gesetzliche Auslegungsregeln (§§ 133, 157 BGB),
  • Denkgesetze,
  • überbezirkliches Satzungsrecht, z.B. Satzungen der Berufsgenossenschaften,
  • Landesrecht, sofern es durch Bundesgesetz für revisibel erklärt wird.

Vgl. dazu Haufe Onlinekommentar Rz. 5 zu § 162 SGG.

Für die Revision gegen Urteile, welche im Rechtsstreit nach einem Landesblindengeldgesetz ergangen sind, ist § 162 SGG von Bedeutung. Vgl. dazu 8.2.6 in Heft 6 der Schriftenreihe. Bei Landesrecht, das nur in einem Land gilt, handelt es sich nach der Rechtsprechung des BSG dann um Rechtsvorschriften, die über den Bezirk des Landessozialgerichts dieses Landes hinaus gelten, wenn in anderen Bundesländern inhaltlich übereinstimmende Vorschriften erlassen worden sind und das bewusst und gewollt um der Rechtseinheit Willen geschehen ist. Mit Bezug auf die Landesblindengeldgesetze hat das BSG in seinem Urteil vom 31.01.1995 -1 RS 1/93 = SozR 3-5920, § 1 Nr. 1 -, welches zur optischen Agnosie ergangen ist, das hinsichtlich des Blindheitsbegriffes angenommen. Das BSG stellt in dieser Entscheidung fest, dass der Blindheitsbegriff, wie er in § 1 Abs. 3 Nr. 2 des saarländischen Blindheitshilfegesetzes (Gesetz Nr. 761) verankert ist, wortgleich in den Landesblindengeldgesetzen anderer Länder wiedergegeben wird. Weiter wird festgestellt, dass diese Fassung ausdrücklich im Blick auf die Regelungen des BSHG (§ 67 BSHG - jetzt § 72 SGB XII) ergangen ist, denn in der amtlichen Begründung des Saarländischen Landtages vom 28. Januar 1982 (Drucks. 8/812) heißt es ausdrücklich, dass die vorgeschlagene Neufassung des § 1 der Anpassung an die in §§ 24 und 67 BSHG (jetzt § 72 SGB XII) enthaltenen Bestimmungen dient und dass damit u.a. der Blindheitsbegriff an diese Vorschriften angeglichen wird. Vgl. auch Urteil des BSG vom 11.12.2007 - B 8/9b SO 20/06 R (FEVS 59, 441-445) wonach es sich beim Blindengeld um privilegiertes Einkommen handelt und BSG Urteil vom 26.10.2004 - B 7 SF 2/03 R (SozR 4-5921 Art 1 Nr. 1) zur faktischen Blindheit.

Die Rechtsverletzung kann sich aus einer Norm des Verfahrens- oder des materiellen Rechts ergeben. Eine Rechtsverletzung liegt auch bei einem Subsumtionsfehler oder dann vor, wenn die Vorinstanz die entscheidungserheblichen Tatsachen nicht festgestellt oder eine unzutreffende Beweiswürdigung vorgenommen hat und deshalb zu einem rechtswidrigen Ergebnis gekommen ist.

Die Rechtsverletzung muss für die angegriffene Entscheidung ursächlich sein. Wenn keine Rechtsverletzung vorliegt, weist das Bundessozialgericht die Revision als unbegründet zurück (§ 170 Abs. 1 S. 1 SGG). Wenn sich die angegriffene Entscheidung trotz einer Rechtsverletzung aus anderen Gründen als richtig erweist, ist die Revision ebenfalls als unbegründet zurückzuweisen, weil dann die Rechtsverletzung für die Entscheidung nicht kausal war (§ 170 Abs. 1 S. 2 SGG).

In den Fällen der absoluten Revisionsgründe des § 202 SGG i.V.m. § 547 ZPO wird die Kausalität unwiderlegbar vermutet. Absolute Revisionsgründe sind nach § 547 ZPO gegeben:

  1. wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war,
  2. wenn bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen war, sofern nicht dieses Hindernismittels eines Ablehnungsgesuchs ohne Erfolg geltend gemacht ist,
  3. wenn bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, obgleich er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt und das Ablehnungsgesuch für begründet erklärt war,
  4. wenn eine Partei in dem Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten war, sofern sie nicht die Prozessführung ausdrücklich oder stillschweigend genehmigt hat,
  5. wenn die Entscheidung auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind,
  6. wenn die Entscheidung entgegen den Bestimmungen dieses Gesetzes nicht mit Gründen versehen ist.

Das BSG prüft die Gesetzesverletzung in rechtlicher Hinsicht eigenständig. An die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen ist es grundsätzlich gebunden, außer wenn in bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind (§ 163 SGG). Für die Entscheidung erhebliche Tatsachen, die vom LSG nicht festgestellt worden sind, die aber unter den Parteien unstrittig sind, darf das BSG seiner Entscheidung zu Grunde legen (Haufe Onlinekommentar Rz. 7 zu § 163 SGG). Auch generelle Tatsachen darf das BSG feststellen. Zu den generellen Tatsachen rechnet z.B. auch, ob eine bestimmte Untersuchungs- oder Behandlungsmethode dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht und ob eine diesem Standard genügende Behandlung im Inland möglich ist (Haufe Onlinekommentar Rz. 8 zu § 163 SGG). Schließlich hat das BSG Tatsachen, die von Amts wegen zu beachten sind, selbst zu prüfen und zu beachten. Dazu gehören z.B. die Prozessvoraussetzungen wie Parteifähigkeit, Prozessfähigkeit, Vollmachtserteilung, Rechtsschutzbedürfnis, Unterlassen einer notwendigen Beiladung, unterlassene Verfahrenshandlungen usw. (Haufe Onlinekommentar Rz. 11 zu § 163 SGG mit weiteren Beispielen und Hinweisen auf die Rechtsprechung). Soweit das BSG solche Tatsachen zu beachten hat, kann es auch Beweise erheben.

Die Prüfung erfolgt unabhängig von den Gründen, aus denen die Revision zugelassen ist sowie unabhängig von der Revisionsbegründung.

Die Grenzen der Prüfungsbefugnis des BSG ergeben sich jedoch aus dem Antrag der den Umfang der Sachprüfung bestimmt (Dispositionsgrundsatz).

Für das Verwaltungsgerichtsverfahren gelten die obigen Ausführungen entsprechend. Folgendes ist zu beachten: Im Verwaltungsgerichtsverfahren kann die Revision nach § 137 Abs. 1 VwGO nur darauf gestützt werden, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung von Bundesrecht oder einer Vorschrift des Verwaltungsverfahrensgesetzes eines Landes, die ihrem Wortlaut nach mit dem Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes übereinstimmt, beruht. Die absoluten Revisionsgründe des § 138 VwGO decken sich mit den absoluten Revisionsgründen, wie sie gem. § 202 SGG i.V.m. § 547 ZPO für das Sozialgerichtsverfahren geregelt sind.

Die Bindung an Tatsachen und damit der Umfang der Nachprüfung ist in § 137 Abs. 2 VwGO geregelt. Er entspricht dem des Revisionsverfahrens in der Sozialgerichtsbarkeit nach § 163 SGG.

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4.3.2.5 Abschlüsse im Revisionsverfahren

Ebenso wie die Verfahren im ersten und zweiten Rechtszug kann das Revisionsverfahren durch Urteil (§ 125 SGG), gerichtlichen Vergleich (§ 101 Abs. 1 SGG), angenommenes Anerkenntnis (§ 101 Abs. 2 SGG), Zurücknahme der Klage (§ 102 S. 1 SGG), Zurücknahme des Rechtsmittels oder beiderseitige Erledigungserklärung abgeschlossen werden.

Wenn die Revision nicht statthaft, nicht form- oder fristgerecht eingelegt oder nicht form- oder fristgerecht begründet worden ist, muss das BSG sie ohne Sachprüfung als unzulässig verwerfen (§ 169 S. 1 SGG). Die unzulässige Revision kann aufgrund mündlicher Verhandlung oder ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2, § 126 SGG) durch Urteil verworfen werden. Will das BSG ohne mündliche Verhandlung entscheiden, kann es nach S. 3 auch durch Beschluss entscheiden. Der Beschluss wird ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter gefasst (§ 169 S. 3 SGG). Für die Verwaltungsgerichtsbarkeit vgl. § 143 VwGO.

Wenn die Revision zwar zulässig, in der Sache aber unbegründet ist, weist sie das BSG durch Urteil zurück (§ 170 Abs. 1 S. 1, § 125 SGG) (für die Verwaltungsgerichtsbarkeit vgl. § 144 Abs. 2 VwGO). Dasselbe gilt, wenn die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils eine Gesetzesverletzung enthalten, die Entscheidung selbst aber aus anderen Gründen richtig ist (§ 170 Abs. 1 S. 2 SGG). Für die Verwaltungsgerichtsbarkeit vgl. § 144 Abs. 4 VwGO.

Wenn die Revision begründet ist, ist das BSG grundsätzlich verpflichtet, selbst eine Entscheidung zu fällen (§ 170 Abs. 2 S. 1 SGG). Nur wenn das unzweckmäßig ist, darf es die Sache an die Vorinstanz zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen (§ 170 Abs. 2 S. 2 SGG). Hierzu kommt es insbesondere z.B., wenn das BSG nicht selbst über den streitigen Anspruch entscheiden kann, weil weitere Ermittlungen zum Sachverhalt erforderlich sind (§ 163 SGG) oder wenn die Vorinstanz ihre Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) verletzt oder die Grenzen der Beweiswürdigung überschritten hat (§ 128 Abs. 1 S. 1 SGG). Für die Verwaltungsgerichtsbarkeit enthält § 144 Abs. 3 VwGO entsprechende Regelungen. Das Gericht, an das die Sache zurückverwiesen worden ist, hat seiner Entscheidung die rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts zugrunde zu legen (§ 170 Abs. 5 SGG). Für das Verwaltungsgerichtsverfahren vgl. § 144 Abs. 6 VwGO. Bei der Sprungrevision (§ 161 SGG) kann das BSG die Sache nach seinem Ermessen auch an das Landessozialgericht zurückverweisen, welches für die Berufungsverhandlung zuständig gewesen wäre (§ 170 Abs. 4 SGG). Im Verwaltungsgerichtsverfahren ist in diesem Fall Zurückweisung an das OVG möglich (§ 144 Abs. 5 VwGO).

Der Inhalt des Tenors des Revisionsurteils ist abhängig vom Revisionsbegehren, von den Entscheidungen der Vorinstanzen und ggf. denen der Verwaltung.

Bei Leistungsklagen kann es neben der Aufhebung der mit der Revision angegriffenen Entscheidung auch zur Verurteilung zu einer bestimmten Leistung kommen, sofern deren Voraussetzungen erfüllt sind.

Es ist jedoch bei Leistungsklagen nicht immer eine Verurteilung zur Leistung durch das BSG erforderlich.

Wenn z.B. das Sozialgericht den Rentenversicherungsträger zur Gewährung einer Rente verurteilt hat und dieses Urteil im Berufungsverfahren vom Landessozialgericht aufgehoben worden ist, das BSG im Revisionsverfahren den Rentenanspruch aber für begründet hält, hebt es das Berufungsurteil auf. Damit lebt das Urteil des SG wieder auf. Eine Verurteilung des Rentenversicherungsträgers zur Rentengewährung durch das BSG ist deshalb nicht mehr notwendig.

Die Rücknahme der Revision ist bis zur Rechtskraft des Urteils möglich (§ 165 S. 1 i.V.m. § 156 Abs. 1 S. 1 SGG). Nach Schluss der mündlichen Verhandlung ist für die Rücknahme die Einwilligung des Revisionsbeklagten erforderlich (§ 165 i.V.m. § 156 Abs. 1 S. 1 und 2 SGG).

Für das Revisionsverfahren in der Verwaltungsgerichtsbarkeit vgl. §§ 143 und 144 VwGO.

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4.3.3 Die Beschwerden

Rechtsgrundlage für die Beschwerde sind die §§ 172 ff. SGG bzw. 146 VwGO.

Beschwerdefähig sind nach § 172 Abs. 1 SGG alle Entscheidungen des SG und der Vorsitzenden dieser Gerichte, sofern es sich nicht um Urteile und Gerichtsbescheide handelt und die Beschwerde nicht durch Sonderregelungen ausgeschlossen ist. Für das Verwaltungsgerichtsverfahren vgl. § 146 Abs. 1 VwGO. Die Beschwerde ist z.B. gegen den Beschluss über die Kostenentscheidung nach § 109 SGG (gutachtliche Anhörung eines bestimmten Arztes auf Antrag) zulässig. Wenn der Kläger die gutachtliche Vernehmung eines bestimmten Arztes nach § 109 Abs. 1 S. 1 SGG beantragt, hat, ist durch Beschluss über die Frage zu entscheiden, ob er die Kosten dafür zu tragen hat. Wenn ihm die Kosten auferlegt worden sind, kann dieser Beschluss mit der Beschwerde angefochten werden.

Das Recht zur Beschwerde wird zur Entlastung der Gerichte stark eingeschränkt. So ist die Beschwerde ausgeschlossen in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, wenn in der Hauptsache die Berufung nicht zulässig wäre, in Verfahren gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe, wenn das Gericht ausschließlich die persönlichen oder wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe verneint und für Kostengrundentscheidungen nach § 193 SGG, soweit in der Hauptsache kein Rechtsmittel gegeben wäre und der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,00 EUR nicht übersteigt (§ 172 Abs. 3 SGG). Für das Verwaltungsgerichtsverfahren vgl. § 146 Abs. 3 VwGO.

Prozeßleitende Verfügungen, Aufklärungsanordnungen, Vertagungsbeschlüsse, Fristbestimmungen, Beweisbeschlüsse, Beschlüsse über Ablehnung von Beweisanträgen, über Verbindung und Trennung von Verfahren und Ansprüchen und über die Ablehnung von Gerichtspersonen können aus Gründen der Prozessökonomie nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 172 Abs. 2 SGG bzw. § 146 Abs. 2 VwGO).

Nicht statthaft ist die Beschwerde gegen Beschlüsse, die das Gesetz für unanfechtbar erklärt. Die Rechtmäßigkeit unanfechtbarer Beschlüsse kann nur im Zuge des in der Hauptsache zulässigen Rechtsmittels gerichtlich überprüft werden.

Das trifft z.B. auf folgende Fälle zu:

  • Das Sozialgericht hat einen Bevollmächtigten zurückgewiesen (§ 73 6 S. 1 SGG i.V.m. § 157 Abs. 2 S. 2 ZPO),
  • es hat Dritte beigeladen (§ 75 Abs. 3 S. 3 SGG),
  • es hat eine Klageänderung nicht zugelassen (§ 90 Abs. 4 SGG)
  • oder über eine Tatbestandsberichtigung positiv oder negativ entschieden (§ 139 Abs. 2 S. 2 SGG).

Die Beschwerde gegen Entscheidungen des Landessozialgerichts, seines Vorsitzenden oder des Berichterstatters ist mit Ausnahme der Fälle des § 160a Abs. 1 SGG (Nichtzulassung der Revision durch das Landessozialgerichts) und des § 17a Abs. 4 S. 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes (Entscheidung über die Zulässigkeit des beschrittenen Rechtswegs) ausgeschlossen (§ 177 SGG). Für das Verwaltungsgerichtsverfahren enthält § 152 Abs. 1 VwGO entsprechende Regelungen.

Die Beschwerde ist gem. § 173 SGG binnen eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung beim Sozialgericht schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist beim Landessozialgericht schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. Die Belehrung über das Beschwerderecht ist auch mündlich möglich; sie ist dann aktenkundig zu machen.

Im Verwaltungsgerichtsverfahren beträgt die Beschwerdefrist gem. § 147 Abs. 1 VwGO zwei Wochen.

Über die Beschwerde entscheidet im Sozialgerichtsverfahren das Landessozialgericht bzw. im Verwaltungsgerichtsverfahren das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss (§ 176 SGG bzw. § 150 VwGO).

Die Beschwerde muss statthaft und zulässig sein. Statthaft ist die Beschwerde, wenn sie sich gegen eine beschwerdefähige Entscheidung richtet. Zulässig ist sie, wenn sie von einem beschwerdebefugten Beteiligten (Beschwerdeführer) form- und fristgerecht eingelegt wird, dieser beschwert ist und die allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen vorliegen.

Die nicht statthafte bzw. unzulässige Beschwerde wird verworfen. Eine zulässige aber unbegründete Beschwerde wird zurückgewiesen. Wenn sie begründet ist, hebt das Beschwerdegericht den angefochtenen Beschluss ganz oder teilweise auf.

Für die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung (§ 145 Abs. 1 S. 1 SGG bzw. 124a Abs. 4 VwGO) oder der Revision (§ 160a Abs. 1 S. 1 SGG bzw. § 133 VwGO), die so genannte Nichtzulassungsbeschwerde, bestehen besondere Regelungen. Dazu vgl. 4.3.1.1 (Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung) bzw. 4.3.2.2.6 (Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision).

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4.3.4 Erinnerung und Anhörungsrüge

Die Erinnerung und die Anhörungsrüge sind zwar keine Rechtsmittel, sondern Rechtsbehelfe, weil über sie nicht die nächsthöhere Instanz entscheidet. Diese Rechtsbehelfe sind in den Verfahrensordnungen im Abschnitt über die Beschwerde geregelt. Rechtsquellen sind die §§ 178 und 178a SGG bzw. 151 und 152a VwGO.

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4.3.4.1 Erinnerung

Gegen die Entscheidungen des ersuchten oder beauftragten Richters oder des Urkundsbeamten kann binnen eines Monats nach Bekanntgabe das Gericht angerufen werden, das endgültig entscheidet (§ 178 S. 1 SGG). Die §§ 173 bis 175 SGG über die Beschwerde gelten entsprechend (§ 178 S. 2 SGG). § 151 VwGO enthält für die Verwaltungsgerichtsbarkeit eine entsprechende Regelung. Die Frist für die Erinnerung beträgt nach § 151 VwGO allerdings nur zwei Wochen.

Hat z.B. der Vorsitzende des Senats eines Landessozialgerichts gemäß § 106 Abs. 3 Nr. 4 SGG angeordnet, dass Zeugen oder Sachverständige zur Vorbereitung der Hauptverhandlung durch einen ersuchten oder beauftragten Richter vernommen werden sollen, so kann durch Erinnerung die Entscheidung des Senats über die Anordnungen dieses Richters verlangt werden.

Die Erinnerung bezweckt eine Rechtmäßigkeitskontrolle durch dasselbe Gericht.

Sie ist in jedem Rechtszug statthaft.

Über die Erinnerung entscheidet das Gericht durch Beschluss.

Die nicht statthafte oder unzulässige Erinnerung wird verworfen. Die unbegründete Erinnerung wird zurückgewiesen. Im Fall einer begründeten Erinnerung wird die angefochtene Entscheidung aufgehoben. Der Beschluss ist nicht mit der Beschwerde angreifbar.

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4.3.4.2 Anhörungsrüge

Bei der Anhörungsrüge handelt es sich um einen außerordentlichen Rechtsbehelf. Die Einlegung der Anhörungsrüge hat weder Suspensiv- noch Devolutiveffekt.

Nach § 178a Abs. 1 SGG ist auf die Rüge eines durch eine gerichtliche Entscheidung beschwerten Beteiligten das Verfahren fortzuführen, wenn ein Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf gegen die Entscheidung nicht gegeben ist (§ 178a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG) und das Gericht den Anspruch dieses Beteiligten auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat (§ 178a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG).

Das heißt, dass die Rüge gegenüber ordentlichen Rechtsbehelfen subsidiär ist. Sie ist nur statthaft, wenn ein Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf gegen die Entscheidung nicht gegeben ist. Rechtsbehelfe sind die Berufung, die Revision und die Beschwerde, nicht dagegen eine Gegenvorstellung. Nach § 178a Abs. 1 S. 2 findet die Anhörungsrüge gegen eine der Endentscheidung vorausgehende Entscheidung nicht statt. Endentscheidung ist im Regelfall das Endurteil. In Betracht kommen auch Beschlüsse, die entweder die Instanz im Hauptsacheverfahren oder aber einen Beschwerderechtszug abschließen (Haufe Onlinekommentar Rz. 6 zu § 178a SGG); denn erst zum Zeitpunkt der Endentscheidung ist feststellbar, ob der Beteiligte, dessen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt wurde, durch die Entscheidung beschwert ist und ob die Gehörsverletzung entscheidungserheblich war.

Die Anhörungsrüge könnte z.B. gegen ein Urteil des BSG erhoben werden, wenn die Rechtssache mit den Beteiligten nicht gemäß § 112 Abs. 2 S. 2 SGG im erforderlichen Umfang erörtert worden ist, sie sozusagen von der Entscheidung überrascht worden sind; denn gegen eine Entscheidung des BSG gibt es keine ordentlichen Rechtsbehelfe.

Zulässigkeitsvoraussetzung einer Anhörungsrüge ist, dass der Rügeführer das Vorliegen der Voraussetzungen des § 178a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 schlüssig darlegt. Hierzu gehört insbesondere das Aufzeigen der Umstände, aus denen sich die Verletzung des rechtlichen Gehörs durch das Gericht ergibt, gegen dessen Entscheidung sich der Betroffene wendet. Ob das Gericht tatsächlich den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt hat, ist eine Frage der Begründetheit.

Rügeberechtigt ist jeder Beteiligte im Sinn von § 69 SGG, wenn er beschwert ist.

Die Rüge ist innerhalb von zwei Wochen nach Kenntnis von der Verletzung des rechtlichen Gehörs zu erheben. Der Zeitpunkt der Kenntniserlangung ist glaubhaft zu machen. Nach Ablauf eines Jahres seit Bekanntgabe der angegriffenen Entscheidung kann die Rüge nicht mehr erhoben werden (§ 178a Abs. 2 SGG). Die Rüge ist schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Gericht zu erheben, dessen Entscheidung angegriffen wird. Die Rüge muss die angegriffene Entscheidung bezeichnen und darlegen, wodurch das Gericht den Anspruch dieses Beteiligten auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat. Es muss also begründet werden, in welcher Weise die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör für die Entscheidung ursächlich war.

Wenn die Rüge nicht statthaft oder nicht in der gesetzlichen Form oder Frist erhoben worden ist, ist sie als unzulässig zu verwerfen. Wenn die Rüge unbegründet ist, weist das Gericht sie zurück. Die Entscheidung ergeht durch unanfechtbaren Beschluss (§ 178a Abs. 4 SGG). Wenn die Rüge begründet ist, hilft ihr das Gericht ab, indem es das Verfahren fortführt, soweit dies aufgrund der Rüge geboten ist. Das Verfahren wird in die Lage zurückversetzt, in der es sich vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung befand (§ 178a Abs. 5 SGG).

Für das Verwaltungsgerichtsverfahren enthält § 152a VwGO entsprechende Regelungen.

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4.4 Vorläufiger Rechtsschutz durch aufschiebende Wirkung oder einstweilige Anordnung

Der vorläufige Rechtsschutz ist ein Gebot eines verfassungsgemäßen Rechtsschutzes. Er hat den Zweck, während der Dauer eines Verfahrens schwerwiegende Rechtsnachteile für die Beteiligten nach Möglichkeit auszuschließen.

Zum vorläufigen Rechtsschutz steht entweder das Institut der aufschiebenden Wirkung als Folge des Widerspruchs oder der Anfechtungsklage gegen einen belastenden Verwaltungsakt bzw. eines Rechtsbehelfs gegen ein Urteil oder das Institut der einstweiligen Anordnung in anderen Fällen zur Verfügung. Rechtsgrundlagen für das Institut der aufschiebenden Wirkung bzw. die einstweilige Anordnung sind die §§ 86a und 86b SGG bzw. 80 bis 80b VwGO für die aufschiebende Wirkung und § 123 VwGO für die einstweilige Anordnung.

Vorläufiger Rechtsschutz durch aufschiebende Wirkung oder einstweilige Anordnung ist auch im Berufungs- und Revisionsverfahren möglich.

Die Regelungen zum einstweiligen Rechtsschutz nach dem SGG und der VwGO entsprechen sich im Wesentlichen. Die aufschiebende Wirkung steht im Vordergrund. Die einstweilige Anordnung im Sozialgerichts- und im Verwaltungsgerichtsverfahren entspricht der einstweiligen Verfügung des Zivilprozesses.

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4.4.1 Die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage

Die praktisch häufigste Variante des vorläufigen Rechtsschutzes während eines Rechtsbehelfsverfahrens nach dem SGG bzw. der VwGO ist die aufschiebende Wirkung. § 86a Abs. 1 S. 1 SGG bzw. § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO bestimmen, dass Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung auslösen. Dazu bedarf es in diesen Regelfällen keines Antrags. In Fällen, in welchen die aufschiebende Wirkung kraft Gesetzes oder auf Anordnung ausgeschlossen ist, kann der vorläufige Rechtsschutz durch Anordnung der aufschiebenden Wirkung auf Antrag im Einzelfall erreicht werden. Dazu vgl. unten.

Soweit der förmliche Rechtsbehelf gegen einen Verwaltungsakt aufschiebende Wirkung auslöst, darf die angefochtene Verwaltungsentscheidung nicht vollzogen werden. Damit ist jede rechtliche und tatsächliche Folgerung aus dieser Einzelfallregelung untersagt. Für den Eintritt der aufschiebenden Wirkung kommt es nach dem Gesetz nicht darauf an, ob der Rechtsbehelf, der sie auslöst, zulässig ist oder nicht.

§ 86a Abs. 2 SGG bzw. § 80 Abs. 2 VwGO enthalten allgemeine Ausnahmetatbestände, nach denen die Anfechtung bestimmter Verwaltungsentscheidungen keine aufschiebende Wirkung hat.

Nach § 86a Abs. 2 SGG handelt es sich um folgende Fälle:

Keine aufschiebende Wirkung tritt nach § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG bei der Forderung von Beiträgen und vergleichbaren öffentlichen Abgaben ein.

Die aufschiebende Wirkung entfällt nach § 86a Abs. 2 Nr. 2 in Angelegenheiten des sozialen Entschädigungsrechts und der Bundesagentur für Arbeit bei Verwaltungsakten, die eine laufende Leistung, wie z. B. das Arbeitslosengeld, entziehen oder herabsetzen.

Aus § 86a Abs. 2 Nr. 3 SGG ergibt sich, dass bei Verwaltungsakten in Angelegenheiten der Sozialversicherung, d.h. der Renten-, Kranken-, Unfall- und Pflegeversicherung, die eine laufende Leistung, wie z.B. eine Rente oder Krankengeld, herabsetzen oder entziehen, der Widerspruch zwar aufschiebende Wirkung hat, dass aber der Klage gegen den Widerspruchsbescheid keine aufschiebende Wirkung zukommt. Von dieser Regelung wird auch das Blindengeld nach einem Landesblindengeldgesetz erfasst. Wird z.B. das Blindengeld nach einem Landesblindengeldgesetz, nach welchem das SGG anwendbar ist, entzogen, so hat der Widerspruch aufschiebende Wirkung. Das Blindengeld muss weiter bezahlt werden. Wenn über den Widerspruch negativ entschieden wird, und dagegen Klage erhoben wird, hat die Klage keine aufschiebende Wirkung. Das Blindengeld muss deshalb ab der Entscheidung über den Widerspruch nicht mehr weiter gewährt werden. Da in der VwGO eine § 86a Abs. 2 Nr. 3 entsprechende Regelung fehlt, haben sowohl Widerspruch als auch Anfechtungsklage gegen den Entzug des Blindengeldes nach einem Landesgesetz, für welches die VwGO gilt, aufschiebende Wirkung. Das Blindengeld muss deshalb in diesen Fällen bis zur abschließenden Entscheidung weitergezahlt werden.

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs oder der Anfechtungsklage entfällt nach § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG auch in anderen durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen. Zahlreiche Gesetze enthalten solche vorrangigen Sonderregelungen. Ein Beispiel ist § 39 SGB II. Danach haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen Bescheide über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende keine aufschiebende Wirkung. Ein weiteres Beispiel ist § 88 Abs. 4 SGB IX wegen behördlicher Zustimmung zur arbeitsrechtlichen Kündigung eines schwerbehinderten Menschen.

Den Ausnahmekatalog zur aufschiebenden Wirkung nach § 86a Abs. 2 SGG ergänzt § 86a Abs. 4 SGG für die Einschränkung einer Erlaubnis nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz.

Einen ähnlichen Ausnahmekatalog enthält § 80 Abs. 2 S. 1 VwGO in den Nummern 1 bis 3.

§ 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG bzw. § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO räumen der entscheidenden Behörde bei oder nach Erlass eines eingreifenden Verwaltungsaktes, welcher an sich die aufschiebende Wirkung auslöst, ausnahmsweise die Befugnis ein, die sofortige Vollziehung ihrer Verfügung besonders anzuordnen. Dabei geht es um Verwaltungsakte, bei denen die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage nicht schon aufgrund von § 86a Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGG bzw. § 80 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 VwGO eintritt. Voraussetzung dafür ist ein besonderes Interesse der Verwaltung oder eines Beteiligten an der sofortigen Durchführung der getroffenen Regelung. Das besondere Interesse muss die Verwaltungsstelle schriftlich begründen.

In den Fällen, in welchen nach dem Ausnahmekatalog des § 86a Abs. 2 bzw. § 80 Abs. 2 VwGO die sofortige Vollziehbarkeit eintritt oder angeordnet wurde, kann die Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen oder die über den Widerspruch zu entscheiden hat, gemäß § 86 a Abs. 3 SGG bzw. § 80 Abs. 4 VwGO die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise aussetzen. In der amtlichen Begründung zu § 86a SGG heißt es hierzu, es sei sachgerecht, der erlassenden Behörde, die im Fall des Widerspruchs über die Abhilfe entscheiden müsse, bei zweifelhafter Rechtslage auch zu ermöglichen, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wieder herzustellen (BR-Drs. 132/01 S. 54). Ein sachlicher Grund für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86a Abs. 3 bzw. § 80 Abs. 4 S. 3 VwGO liegt vor allem vor, wenn die sofortige Durchsetzung des angefochtenen Verwaltungsaktes für den Betroffenen eine unbillige Härte bedeuten würde. Die Entscheidung kann auf Antrag des Betroffenen oder von Amts wegen erfolgen.

Gegen die Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG bzw. § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO kann der Betroffene nicht nur einen Antrag an die entscheidende Behörde stellen, sondern auch gemäß § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG bzw. § 80 Abs. 5 VwGO die Anordnung der aufschiebenden Wirkung durch das Gericht der Hauptsache beantragen. Auf Antrag kann nämlich das Gericht der Hauptsache gemäß § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG bzw. § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs - ganz oder teilweise - anordnen, wenn für den Antragsteller dieser Suspensiv-Effekt kraft Gesetzes oder durch Anordnung der Verwaltung gem. § 86a Abs. 2 SGG bzw. § 80 Abs. 2 VwGO ausgeschlossen ist.

Der Antrag an das Gericht der Hauptsache auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist unabhängig davon statthaft, ob der Betroffene zuvor einen Aussetzungsantrag nach § 86 a Abs. 3 SGG bzw. § 80 Abs. 4 VwGO an die Verwaltung gerichtet hat. Das zum vorläufigen Rechtsschutz angerufene Gericht trifft seine Entscheidung hierzu regelmäßig nach einer Interessenabwägung.

Aber auch die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit ist durch gerichtliche Entscheidung möglich. Wenn die eingreifende Regelung eines Verwaltungsaktes durch Einlegen eines Rechtsbehelfs aufgeschoben wird, kann ein Beteiligter - wie vor allem die Verwaltung - dagegen über § 86 b Abs. 1 Nr. 1 SGG bzw. § 80 Abs. 5 VwGO eine gerichtliche Entscheidung beantragen, die den Sofortvollzug - ganz oder teilweise - möglich macht.

Wenn auf Grund der aufschiebenden Wirkung Leistungen weitergewährt werden, und diese Leistungen im Endurteil versagt werden, richtet sich der Anspruch auf Rückerstattung der zu Unrecht erhaltenen Leistungen nach § 50 SGB X bzw. nach § 49a des Verwaltungsverfahrensgesetzes des Bundes bzw. der Länder.

Beispiel: A. erhält Blindengeld nach einem Landesblindengeldgesetz, auf welches das SGB X anwendbar ist. Mit der Begründung, dass sich sein Sehvermögen verbessert habe, wird ihm durch Verwaltungsakt das Blindengeld entzogen. Der dagegen eingelegte Widerspruch hat gemäß § 86a Abs. 1 S. 1 aufschiebende Wirkung. Das Blindengeld muss deshalb weiter gewährt werden. Der Widerspruch wird zurückgewiesen. Wenn für das Landesblindengeldgesetz das SGG anwendbar ist, hat die nunmehr erhobene Klage gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 3 zwar keine aufschiebende Wirkung mehr. Wenn die Anfechtungsklage, welche sich gegen den Entziehungsbescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides richtet, abgewiesen wird, hat A. das nach Erhebung des Widerspruchs ausbezahlte Blindengeld zu Unrecht erhalten. Er muss es nach § 50 Abs. 1 S. 1 SGG X zurückzahlen.

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4.4.2 Die einstweilige Anordnung

§ 86b SGG regelt nicht nur den einstweiligen gerichtlichen Rechtsschutz in Anfechtungssachen (Abs. 1 - dazu siehe oben 4.4.1) sondern auch in Vornahmesachen durch einstweilige Anordnung (Abs. 2). Im Verwaltungsgerichtsverfahren ist der vorläufige gerichtliche Rechtsschutz in Anfechtungssachen in § 80 Abs. 5 bis 8 VwGO und in Anordnungssachen in § 123 VwGO geregelt.

Ein vorläufiger Rechtsschutz durch eine einstweilige Anordnung kommt nach § 86b Abs. 2 S. 1 SGG bzw. § 123 Abs. 5 VwGO nur in Frage, wenn eine Sicherung individueller Rechtspositionen durch aufschiebende Wirkung infolge eines Widerspruchs oder einer Anfechtungsklage ausgeschlossen ist (zur aufschiebenden Wirkung von Rechtsbehelfen vgl. 4.4.1).

Das gerichtliche Verfahren zum Erlass einer einstweiligen Anordnung wird durch Antrag eines Beteiligten eingeleitet. Zulässig ist ein Antrag nach § 86b Abs. 2 SGG bzw. § 123 Abs. 5 VwGO nur, wenn für den gegebenen Fall vorläufiger Rechtsschutz durch das Institut der aufschiebenden Wirkung nach § 86a Abs. 1 SGG bzw. § 80 Abs. 1 VwGO generell ausgeschlossen ist. Das bedeutet, dass bei Streitsachen, die in der Hauptsache im Wege der Anfechtungsklage geführt werden, der vorläufige Rechtsschutz durch einstweilige Anordnung ausgeschlossen ist. Ein Antrag nach § 86b Abs. 2 SGG bzw. § 123 Abs. 1 VwGO ist somit auch unzulässig, wenn die Möglichkeit besteht, dass dem Begehren des Antragstellers dadurch genügt wird, dass die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs bzw. der nachfolgenden Anfechtungsklage wiederhergestellt wird. Der Antrag muss schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten des Gerichts gestellt werden.

Zuständig ist das Gericht der Hauptsache. Das ist nach § 86b Abs. 2 S. 3 SGG bzw. § 123 Abs. 2 S. 2 VwGO im ersten Rechtszug das Gericht, bei dem die Hauptsache anhängig ist oder durch Klage anhängig zu machen wäre.

Die typische Fallkonstellation ist der Antrag auf Verpflichtung des Leistungsträgers zur Leistungsgewährung im Wege der einstweiligen Anordnung nach Ablehnung einer Leistung durch einen Sozialleistungsträger. Der Antrag könnte demnach darauf gerichtet sein, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ... (z.B. Krankengeld, Arbeitslosengeld, Verletztenrente, Erwerbsminderungsrente, ein Hilfsmittel, eine Arbeitsplatzausstattung) zu gewähren.

Über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung befindet das angerufene Gericht - positiv oder negativ - durch Beschluss (§ 86b Abs. 4 SGG bzw. § 123 Abs. 4 VwGO).

Die vorläufige gerichtliche Entscheidung muss notwendig sein, um Rechte des Antragstellers zu sichern oder wesentliche Nachteile - zunächst - abzuwenden.

Voraussetzungen jeder einstweiligen Anordnung sind ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund. Anordnungsanspruch ist der dem Antrag zu Grunde liegende materielle Anspruch. Anordnungsgrund sind die Umstände, die die Eilbedürftigkeit begründen.

Ein Anordnungsgrund ist gegeben, wenn dem Antragsteller ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache nicht zuzumuten ist.

Begründet und somit erfolgreich ist ein Gesuch um einstweilige Anordnung, wenn der Antragsteller sein Vorbringen für einen Anordnungsanspruch und für einen Anordnungsgrund glaubhaft machen kann.

Es gilt aber auch in diesem Verfahren der Amtsermittlungsgrundsatz. Die Interessen der Beteiligten sind abzuwägen. Die konkrete Sach- und Rechtslage wird zu dieser Abwägung nur summarisch geprüft.

Wenn sich der Antrag nach § 86b Abs. 2 SGG bzw. § 123 Abs. 1 VwGO als zulässig und begründet erweist, erlässt das Gericht einen Beschluss zur einstweiligen Anordnung gegenüber dem Antragsgegner. Die Anordnung kann mit Auflagen versehen oder befristet werden (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG bzw. § 123 Abs. 3 VwGO jeweils i.V.m. § 938 Abs. 1 ZPO). Den Inhalt einer einstweiligen Anordnung bestimmt das Gericht nach seinen Gestaltungsvorstellungen im Hinblick auf das - vorläufige - Rechtsschutzziel des Antragstellers. Sozialleistungen können z.B. als Darlehen gewährt werden.

Beispiele für eine einstweilige Anordnung nach § 86a Abs. 2 S. 2 SGG:

Ein hochgradig sehbehinderter Schüler benötigt ein spezielles Lesegerät, um den Text auf der Tafel lesen zu können. Die gesetzliche Krankenkasse, deren Verpflichtung sich aus § 33 SGB V ergeben könnte, lehnt den Anspruch ab. Dem Schüler kann nicht zugemutet werden, bis zu einer Entscheidung im Widerspruchsverfahren oder im Klageverfahren zu warten, weil dann die Gefahr bestünde, dass er eine Klasse wiederholen müsste.

Ein blinder Bürokaufmann bekommt eine Stelle, für die er eine spezielle Arbeitsplatzausstattung benötigt. Der Rehabilitationsträger lehnt die beantragte Ausstattung ab. Der blinde Bürokaufmann kann ohne die Arbeitsplatzausstattung seine Stelle nicht antreten. Ihm kann nicht zugemutet werden, den Ausgang des Widerspruchsverfahrens oder des Gerichtsverfahrens abzuwarten.

Gegen einen Beschluss, welcher zum Antrag auf einstweilige Anordnung erlassen wird, ist grundsätzlich das Rechtsmittel der Beschwerde (§ 172 Abs. 1 SGG bzw. § 146 Abs. 1 VwGO) statthaft.

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4.4.3 Vorläufiger Rechtsschutz im Rechtsmittelverfahren

Zu unterscheiden ist auch im Rechtsmittelverfahren (Berufung und Revision) zwischen der aufschiebenden Wirkung von Rechtsmitteln und einstweiligen Anordnungen.

Der vorläufige Rechtsschutz während eines Rechtsmittelverfahrens (Berufung oder Revision) ist im SGG teilweise abweichend von anderen Gerichtsverfahrensgesetzen geregelt. Der Grund ist, dass sozialgerichtliche Urteile ohne Rücksicht auf den Eintritt der Rechtskraft Vollstreckungstitel sind, soweit kein Aufschub eintritt (§ 199 Abs. 1 Nr. 1 SGG).

Nach § 154 Abs. 1 SGG haben die Berufung und die Beschwerde nach § 144 Abs. 1 SGG (das ist die Nichtzulassungsbeschwerde nach § 145 SGG) aufschiebende Wirkung wie eine Klage gem. § 86a SGG. Das ist die Anfechtungsklage. Für die Revision gilt diese Bestimmung entsprechend (§ 165 SGG). Wenn sich diese Rechtsmittel gegen eingreifende Verwaltungsakte richten, tritt auch im Berufungs- und Revisionsverfahren aufschiebende Wirkung ein. Die aufschiebende Wirkung bedeutet Hemmung der Vollstreckbarkeit (Haufe Onlinekommentar Rz. 3 zu § 154 SGG). Die Vollstreckung eines Urteils mit vollstreckungsfähigem Inhalt ist damit nicht möglich (§ 199 Abs. 1 Nr. 1 SGG).

Für das Verwaltungsgerichtsverfahren gilt infolge der Verweisung in § 125 Abs. 1 S. 1 VwGO (Berufung) auf Teil 2 (Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug) und damit auf § 80 Abs. 1 VwGO und in § 141 S. 1 VwGO (Revision) auf die Vorschriften über die Berufung die Regelung über die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage in § 80 VwGO. Die Frage, welche Auswirkung die aufschiebende Wirkung der Berufung oder Revision im Verwaltungsgerichtsverfahren hat, ist allerdings umstritten (vgl. Haufe Onlinekommentar Rz. 3 zu § 154 SGG).

Wenn die Berufung oder die (Nichtzulassungs-) Beschwerde nach § 144 Abs. 1 SGG von einem Versicherungsträger oder in der sog. Kriegsopferversorgung von einem Land gegen ein Urteil, mit welchem der Versicherungsträger oder das Land zu einer laufenden Sozialleistung verurteilt worden ist, eingelegt wird, hemmt dieses Rechtsmittel nach § 154 Abs. 2 SGG die Vollstreckbarkeit des Urteils bzw. Gerichtsbescheids, soweit es sich um Beträge handelt, die für die Zeit vor Erlass des angefochtenen Urteils nachgezahlt werden sollen.

Da der Gesetzgeber es offenbar übersehen hat, in § 154 Abs. 2 SGG „Kriegsopferversorgung" durch „soziales Entschädigungsrecht" zu ersetzen, gilt diese Aufschubnorm nicht nur für Streitigkeiten nach dem Bundesversorgungsgesetz, sondern auch in sämtlichen sonstigen Angelegenheiten des sozialen Entschädigungsrechts (Haufe Onlinekommentar Rz. 6 zu § 154 SGG).

Der Regelungsbereich des § 154 Abs. 2 SGG ist darauf beschränkt, dass Beträge nachgezahlt werden sollen. Erfasst werden nicht nur laufende Leistungen, sondern auch einmalige Erstattungen (z.B. Kostenerstattungen nach § 13 SGB V (Haufe Onlinekommentar Rz. 7. zu § 154 SGG).

Wenn durch die Berufung oder Revision keine aufschiebende Wirkung eintritt, ist das Urteil bzw. der Gerichtsbescheid vollstreckbar (§ 199 Abs. 1 Nr. 1 SGG).

Soweit keine aufschiebende Wirkung eintritt, sind aber vorläufige Anordnungen auch im Berufungsverfahren und auch in der Revisionsinstanz möglich. Die Zulässigkeit und die Begründetheit der einstweiligen Anordnungen richten sich nach § 86b Abs. 2 SGG bzw. § 123 Abs. 1 VwGO (vgl. dazu 4.4.2).

Zuständiges Gericht ist im Berufungsverfahren das Berufungsgericht (§ 86b Abs. 2 S. 3 SGG bzw. § 123 Abs. 2 S. 2 VwGO). Diese Gerichte entscheiden auf Antrag.

Im Revisionsverfahren kann das BSG bzw. das BVwG von Gesetzes wegen keine einstweiligen Anordnungen treffen. Hierfür ist im gegebenen Fall das Gericht erster Instanz, regelmäßig das SG bzw. das VG, zuständig (§ 86b Abs. 2 S. 3 SGG bzw. § 123 Abs. 2 S. 2 VwGO).

Wenn ein Rechtsmittel im Sozialgerichtsverfahren keine aufschiebende Wirkung hat, kann der Vorsitzende des Gerichts, das über das Rechtsmittel zu entscheiden hat, nach § 199 Abs. 2 SGG die Vollstreckung durch einstweilige Anordnung aussetzen. Er kann die Aussetzung und Vollstreckung von einer Sicherheitsleistung abhängig machen; die §§ 108, 109, 113 der Zivilprozessordnung gelten entsprechend. Die Anordnung ist unanfechtbar; sie kann jederzeit aufgehoben werden.

Beispiel (entnommen Franke/Dörr S. 135):

Gegen seine Verurteilung zu laufender Geldleistung durch ein SG am 26.10. legt der beklagte Versicherungsträger Berufung ein. Dieses Rechtsmittel bewirkt für die Zeit ab 26.10. keinen (Leistungs-)Aufschub (s. § 154 Abs. 2 SGG). Insoweit kann der Berufungskläger gem. § 199 Abs. 2 SGG „Aussetzung der Vollziehung" beantragen.

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4.5 Wiederaufnahme des Verfahrens

Auch nach rechtskräftigem Abschluss eines Rechtsstreits durch Urteil bleibt die Möglichkeit, bei der Behörde eine erneute Überprüfung der Rechtslage im Verwaltungsverfahren nach § 44 SGB X bzw. § 48 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 bis 5 VwVfG zu beantragen. Dazu vgl. ausführlich 3.5.5.1.

Davon zu unterscheiden ist die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen gerichtlichen Verfahrens nach § 179 SGG. Die Wiederaufnahme des Verfahrens ist kein Rechtsmittel, sondern es handelt sich um einen außerordentlichen Rechtsbehelf zur Beseitigung der Rechskraftwirkung von Entscheidungen. Auf das Wiederaufnahmeverfahren sind gem. § 179 Abs. 1 SGG die Vorschriften des vierten Buches der ZPO (§§ 578 ff. ZPO) entsprechend anzuwenden. Die in den §§ 179 Abs. 2 und 180 bis 182 SGG enthaltenen Sonderregeln gehen aber vor.

Das Wiederaufnahmeverfahren nach § 179 SGG i.V.m §§ 579, 580 ZPO gliedert sich in 3 Abschnitte:

  1. die Prüfung der Zulässigkeit der Klage Bei Unzulässigkeit ist die Wiederaufnahmeklage als unzulässig zu verwerfen. Der Tenor kann wie folgt lauten: Die Wiederaufnahmeklage gegen das Urteil des Sozialgerichts ... vom ..., Aktenzeichen ..., wird verworfen,
  2. die Prüfung von Amts wegen, ob der behauptete Anfechtungsgrund (§§ 579, 580 ZPO, § 179 Abs. 2 SGG) vorliegt (aufhebendes Verfahren)Ist der Wiederaufnahmegrund nicht erwiesen, wird die Wiederaufnahmeklage als unbegründet zurückgewiesen. Der Tenor kann wie folgt lauten:Die Wiederaufnahmeklage gegen das Urteil des Sozialgerichts ... vom ..., Aktenzeichen ..., wird abgewiesen,
  3. neue Verhandlung und Entscheidung des früheren Rechtsstreits (ersetzendes Verfahren, § 590 ZPO). Bei Vorliegen eines Wiederaufnahmegrundes wird die angefochtene Entscheidung aufgehoben und die Hauptsache neu verhandelt.Der Tenor kann wie folgt lauten:Auf die Wiederaufnahmeklage wird das Urteil des Sozialgerichts ... vom ..., Aktenzeichen ..., aufgehoben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom ... in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom ... verurteilt, dem Kläger ... zu gewähren.

Vgl. Haufe Onlinekommentar Rz. 3 zu § 179 SGG.

Das Wiederaufnahmeverfahren wird durch die Wiederaufnahmeklage eingeleitet. Je nach dem Wiederaufnahmegrund werden die Nichtigkeits- und die Restitutionsklage unterschieden.

Die Wiederaufnahmegründe sind abschließend in den §§ 579, 580 ZPO und 179 Abs. 2 SGG geregelt.

Die Nichtigkeitsklage ermöglicht die Wiederaufnahme eines Verfahrens, wenn der Prozess mit besonders schweren prozessualen Fehlern behaftet ist. Ein Ursachenzusammenhang zwischen dem Nichtigkeitsgrund und der rechtskräftigen Entscheidung ist nicht erforderlich. Die Nichtigkeitsgründe sind in § 579 Abs. 1 ZPO abschließend aufgezählt.

Eine Nichtigkeitsklage findet in folgenden Fällen statt:

  • wenn das erkennende Gericht in der letzten mündlichen Verhandlung nicht vorschriftsmäßig besetzt war (§ 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO),
  • wenn ein Richter bei der Entscheidung mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen war, sofern nicht dieses Hindernis mittels eines Ablehnungsgesuchs oder eines Rechtsmittels ohne Erfolg geltend gemacht ist (§ 579 Abs. 1 Nr. 2 ZPO),
  • wenn bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, obgleich er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt oder das Ablehnungsgesuch für begründet erklärt war (§ 579 Abs. 1 Nr. 3 ZPO),
  • wenn eine Partei in dem Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten war, sofern sie die Prozessführung nicht ausdrücklich oder stillschweigend genehmigt hat (§ 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO).

Dazu vgl. Haufe Onlinekommentar Rz. 5 und 6 zu § 179 SGG.

Die Restitutionsklage soll verhindern, dass die Autorität des Gerichts und das Vertrauen in die Rechtsprechung beeinträchtigt werden, wenn rechtskräftige Urteile nicht überprüft werden können, obwohl ihre Grundlagen erschüttert sind. Die Restitutionsgründe sind in § 580 ZPO abschließend aufgezählt. Sie werden jedoch durch die Bestimmungen des § 179 Abs. 2 und § 180 SGG ergänzt. Zwischen dem Restitutionsgrund und der angefochtenen Entscheidung muss ein Ursachenzusammenhang bestehen, in den Fällen des § 580 Abs. 1 Nr. 2 bis 5 ZPO muss dieser Ursachenzusammenhang zwischen der Straftat und der Entscheidung gegeben sein (Haufe Onlinekommentar Rz. 7 zu § 179 SGG).

Die Restitutionsklage findet in folgenden Fällen statt:

  • wenn eine Urkunde, auf die das Urteil gegründet ist, fälschlich angefertigt oder verfälscht ist (§ 580 Nr. 2 ZPO),
  • wenn bei einem Zeugen oder Gutachten, auf welches das Urteil gegründet ist, der Zeuge oder Sachverständige sich einer strafbaren Verletzung der Wahrheitspflicht schuldig gemacht hat (§ 580 Nr. 3 ZPO),
  • wenn das Urteil von dem Vertreter der Partei oder von dem Gegner oder dessen Vertreter durch eine in Beziehung auf den Rechtsstreit verübte Straftat erwirkt ist (§ 580 Nr. 4 ZPO),
  • wenn ein Richter bei dem Urteil mitgewirkt hat, der sich in Beziehung auf den Rechtsstreit einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten gegen eine Partei schuldig gemacht hat (§ 580 Nr. 5 ZPO),
  • wenn das Urteil eines ordentlichen Gerichts, eines früheren Sondergerichts oder eines Verwaltungsgerichts, auf welches das Urteil gegründet ist, durch ein anderes rechtskräftiges Urteil aufgehoben ist (§ 580 Nr. 6 ZPO),
  • wenn die Partei ein in derselben Sache erlassenes, früher rechtskräftiges Urteil (a) oder eine andere Urkunde auffindet oder zu benutzen in Stande gesetzt wird, die eine ihr günstige Entscheidung herbeigeführt haben würde (b) (§ 580 Nr. 7 ZPO),
  • wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht (§ 580 Nr. 8 ZPO).

Eine Änderung der Rechtsprechung stellt keinen Restitutionsgrund dar. Die Folgen einer Entscheidung des BVerfG, durch die eine Rechtsnorm oder deren Auslegung in einem bestimmten Sinne für verfassungswidrig oder die fachgerichtliche Auslegung und Anwendung unbestimmter Gesetzesbegriffe für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt wird, auf bereits rechtskräftig abgeschlossene andere Verfahren, denen die später als verfassungswidrig erkannte Norm oder Auslegung zugrunde gelegen hat, sind in § 79 BVerfGG abschließend geregelt (Haufe Onlinekommentar Rz. 8 zu § 179 SGG).

Eine Erweiterung der Wiederaufnahmegründe bringt § 179 Abs. 2 SGG. Die Bestimmung des § 179 Abs. 2 geht über den in § 580 Abs. 1 Nr. 4 ZPO geregelten Wiederaufnahmegrund hinaus. Es genügt nach § 179 Abs. 2, dass eine vom Beteiligten fälschlich behauptete oder verschwiegene Tatsache für die Entscheidung von wesentlicher Bedeutung war und der Beteiligte wegen wissentlicher falscher Behauptung einer Tatsache strafgerichtlich verurteilt ist.

Wenn eine gerichtliche Entscheidung unanfechtbar ist und keine Wiederaufnahmegründe nach §§ 579, 580 ZPO, 179 Abs. 2 SGG vorliegen, aber der Anspruch auf Gewährung des rechtlichen Gehörs verletzt worden ist, kommt der Rechtsbehelf der Anhörungsrüge nach § 178a in Frage (vgl. 4.3.4.2).

Nach § 586 Abs. 1 ZPO ist die Wiederaufnahmeklage innerhalb einer Notfrist von einem Monat zu erheben. Die Notfrist beginnt nach § 586 Abs. 2 S. 1 ZPO mit dem Tag, an dem der Beteiligte von dem Anfechtungsgrund Kenntnis erlangt hat, jedoch nicht vor eingetretener Rechtskraft der anzufechtenden Entscheidung zu laufen. Wenn die Notfrist versäumt wird, kommt die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Frage.

Nach Ablauf von fünf Jahren, von dem Tage der Rechtskraft des Urteils an gerechnet, sind die Klagen unstatthaft (§ 586 Abs. 2 S. 2 ZPO). Die 5-Jahresfrist gilt jedoch nach § 586 Abs. 3 ZPO nicht bei Nichtigkeitsklagen wegen mangelnder Vertretung gemäß § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO. Die Notfrist beginnt bei einer solchen Nichtigkeitsklage von dem Tag an zu laufen, an welchem dem mangelhaft vertretenen Beteiligten oder bei mangelnder Prozessfähigkeit seinem gesetzlichen Vertreter das Urteil zugestellt wurde (Haufe Onlinekommentar Rz. 19 zu § 179 SGG).

Zuständig ist grundsätzlich das Gericht, gegen dessen Entscheidung sich die Wiederaufnahmeklage richtet. Zu Einzelheiten vgl. Haufe Onlinekommentar Rz. 25 zu § 179 SGG.

Für das Verwaltungsgerichtsverfahren verweist § 153 Abs. 1 VwGO ebenfalls auf die Vorschriften des vierten Buches der ZPO, also auf die §§ 578 ff. ZPO. Eine dem § 179 Abs. 2 SGG entsprechende Vorschrift enthält die VwGO nicht. Nach § 153 Abs. 2 VwGO kann die Wiederaufnahmeklage auch vom Vertreter des öffentlichen Interesses und im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgerichts vom Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht erhoben werden.

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4.6 Die Mediation

Wo immer das möglich ist, wird in Gerichtsverfahren die Beendigung des Rechtsstreits nicht durch Urteil sondern durch eine gütliche Einigung angestrebt. Eine gütliche Streitbeilegung kann nicht nur durch einen gerichtlichen Vergleich (dazu vgl. 4.2.11.3), sondern auch durch eine Streitschlichtung im Wege der Mediation erreicht werden. Die Teilnahme an einer Mediation ist stets freiwillig. Bei der Mediation handelt es sich um einen nach Verfahrensprinzipien ablaufenden Weg, bei welchem die Streitparteien unter Moderation und Unterstützung des Mediators selbst eine Konfliktlösung erarbeiten. Dadurch unterscheidet sie sich vom Vergleich, der in aller Regel auf Vorschlag des Gerichts im Rahmen der Gerichtsverhandlung zustande kommt. Unterschieden werden die gerichtliche und die gerichtsnahe Mediation. Bei der gerichtlichen Mediation wird ein Richter mit entsprechender Zusatzqualifikation, an welchem die Sache zur Durchführung einer Mediation abgeben wird, durchgeführt. Bei der gerichtsnahen Mediation werden entsprechend ausgebildete außergerichtliche Mediatoren, häufig Rechtsanwälte mit Zusatzqualifikation als Mediatoren tätig.

Die Mediation ist allerdings im SGG und in der VwGO bisher nicht geregelt. Sie ist aber über § 202 SGG i.V.m. § 278 Abs. 1 5 ZPO möglich (für die Verwaltungsgerichtsbarkeit vgl. § 173 VwGO i.V.m. § 278 Abs. 5 S. 2 ZPO). Modelle laufen bereits an einigen Gerichten, so am Sozialgericht München und am bayerischen Landessozialgericht.

Die Mediation kann vor allem zu einem raschen Ergebnis in Streitigkeiten führen, in welchem Ermessens- und Beurteilungsspielräume gegeben sind. Um die Mediation ohne prozessrechtlichen Nachteil für die Parteien durchführen zu können, ist nach deren Einverständnis mit der Durchführung der Mediation das Ruhen des Verfahrens anzuordnen.

Nach erfolgreicher Mediation einigt man sich in der Regel auf eine Klagerücknahme, eine Erledigterklärung, ein Anerkenntnis oder einen Vergleich. Im Falle des Scheiterns erfolgt eine Wiederaufnahme des Verfahrens.

Eine Mediation ist z.B. bei strittigen Fragen bei der Ausstattung mit Hilfsmitteln durch die Krankenversicherung, aber auch durch den Sozialhilfeträger denkbar.

Die Zulässigkeit eines Mediationsverfahrens hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 14. Februar 2007. BVerfG - 1 BvR 1351/01 - festgestellt. Eine gesetzliche Ausgestaltung in den Verfahrensgesetzen wäre wünschenswert.

Ausführliche Informationen sind im Internet unter dem Stichwort „Sozialgerichtliche Mediation in Bayern“ Link: www.verwaltung.bayern.de/Anlage2804642/SozialgerichtlicheMediation.pdf zu finden.

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4.7 Rechtsschutz durch die Verfassungsbeschwerde

Die Verfassungsbeschwerde ist ein außerordentlicher Rechtsbehelf mit dem Personen vor einem Verfassungsgericht eine Verletzung ihrer Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte durch Akte der Staatsgewalt geltend machen können.

Die Verfassungsbeschwerde gibt es sowohl auf Bundesebene als Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht als auch in einigen Ländern vor dem Landesverfassungsgericht (Staatsgerichtshof, Verfassungsgerichtshof). Praktische Bedeutung hat vor allem die Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht. Auf diese wird im Folgenden näher eingegangen.

Verfassungsrechtliche Rechtsgrundlage ist Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a des GG. Danach entscheidet das Bundesverfassungsgericht „über Verfassungsbeschwerden, die von jedermann mit der Behauptung erhoben werden können, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Artikel 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 enthaltenen Rechte verletzt zu sein“.

Das Verfahren richtet sich nach dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG). Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts zur Entscheidung über Verfassungsbeschwerden ergibt sich aus § 13 Nr. 8a BVerfGG. Im BVerfGG ist die Verfassungsbeschwerde im 15. Abschnitt des dritten Teils mit den §§ 90 ff. BVerfGG geregelt.

Damit die Verfassungsbeschwerde Erfolg hat, müssen die Zulassungsvoraussetzungen erfüllt sein. Ferner muss sie vom Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung angenommen werden und die Verfassungsbeschwerde muss begründet sein.

Grundsätzlich kann sich die Verfassungsbeschwerde gegen alle Akte der öffentlichen Gewalt richten, also gegen Rechtsnormen, Gerichtsentscheidungen und Verwaltungshandeln.

Die Verfassungsbeschwerde muss schriftlich beim Bundesverfassungsgericht eingereicht werden. Sie muss das verletzte Recht bezeichnen und die Rechtsverletzung (den hoheitlichen Akt) angeben. Die Beschwerdebegründung muss die Verletzung von Grundrechten möglich erscheinen lassen. Der Beschwerdeführer muss selbst, unmittelbar und gegenwärtig betroffen sein, d.h. es kann kein fremdes Recht oder ein weit zurückliegender oder fern in der Zukunft liegender Grundrechtseingriff (sog. virtuelle Betroffenheit) geltend gemacht werden.

Mit die wichtigste Zulässigkeitsvoraussetzung ist die Ausschöpfung des Rechtswegs. Alle rechtlich vorgesehenen Rechtsmittel und -behelfe, z.B. Berufung, Revision, Beschwerde, Anhörungsrüge, müssen vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde ausgeschöpft worden sein (§ 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht kann jedoch über eine vor Erschöpfung des Rechtswegs eingelegte Verfassungsbeschwerde sofort entscheiden, wenn sie von allgemeiner Bedeutung ist oder wenn dem Beschwerdeführer ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstünde, falls er zunächst auf den Rechtsweg verwiesen würde (§ 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG).

Gesetze, Rechtsverordnungen oder Satzungen können mit der Verfassungsbeschwerde nur ausnahmsweise unmittelbar angegriffen werden und zwar dann, wenn sie den Beschwerdeführer selbst, gegenwärtig und unmittelbar beschweren. In der Regel müssen Rechtsvorschriften jedoch im konkreten Einzelfall durch eine behördliche oder gerichtliche Entscheidung vollzogen werden.

Gegen diesen Rechtsakt muss der Betroffene den Rechtsweg vor den zuständigen Gerichten erschöpfen. In aller Regel ist die Verfassungsbeschwerde daher in solchen Fällen erst nach der Entscheidung des letztinstanzlichen Gerichts zulässig (§ 90 Abs. 2 BVerfGG).

Die Verfassungsbeschwerde gegen Entscheidungen der Gerichte und Behörden ist nur innerhalb eines Monats zulässig. Auch die Begründung muss innerhalb dieser Frist eingereicht werden (§ 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die Frist beginnt mit der Zustellung oder formlosen Mitteilung, wenn diese nach den maßgebenden verfahrensrechtlichen Vorschriften von Amts wegen vorzunehmen ist. In anderen Fällen beginnt die Frist mit der Verkündung der Entscheidung oder, wenn diese nicht zu verkünden ist, mit ihrer sonstigen Bekanntgabe an den Beschwerdeführer. Konnte der Beschwerdeführer die Frist ohne Verschulden nicht einhalten, so kann binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und die Verfassungsbeschwerde nachgeholt werden. Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind glaubhaft zu machen. Das Verschulden eines Verfahrensbevollmächtigten bei der Fristversäumung steht dem Verschulden des Beschwerdeführers gleich (§ 93 Abs. 2 BVerfGG).

Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz, eine Verordnung oder eine Satzung, gegen die kein Rechtsweg offen steht, richtet, gilt eine Frist von einem Jahr seit dem Inkrafttreten der Rechtsnorm (§ 93 Abs. 3 BVerfGG).

Die Begründung muss gem. § 23 Abs. 1 S. 2, § 92 BVerfGG mindestens folgende Angaben enthalten:

  1. Der Hoheitsakt, gegen den sich die Verfassungsbeschwerde richtet, muss genau bezeichnet werden (bei gerichtlichen Entscheidungen und Verwaltungsakten sollen Datum, Aktenzeichen und Tag der Verkündung bzw. des Zugangs angegeben werden).
  2. Das Grundrecht oder grundrechtsähnliche Recht, das durch den beanstandeten Hoheitsakt verletzt sein soll, muss benannt oder jedenfalls seinem Rechtsinhalt nach bezeichnet werden. Rügefähig sind die in Art. 1 bis 12 (ohne 12a), 13-19 (ohne 17a, 18), 20 Abs. 4, 33, 38 Abs. 1 S. 1, 101, 103, 104 des Grundgesetzes niedergelegten subjektiven Rechte.
  3. Es ist darzulegen, worin im Einzelnen die Grundrechtsverletzung erblickt wird. Hierzu sind auch die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Gerichtsentscheidungen, Bescheide usw. in Ausfertigung, beglaubigter Abschrift oder Fotokopie vorzulegen. Zumindest muss ihr Inhalt aus der Beschwerdeschrift ersichtlich sein.

Für die Erhebung der Verfassungsbeschwerde besteht kein Vertretungszwang. Wenn sich der Beschwerdeführer vertreten lassen will, kann dies grundsätzlich nur durch einen bei einem deutschen Gericht zugelassenen Rechtsanwalt oder durch einen Lehrer des Rechts an einer deutschen Hochschule geschehen (§ 22 Abs. 1 S. 1 BVerfGG). Eine andere Person lässt das Bundesverfassungsgericht als Beistand nur dann zu, wenn es dies ausnahmsweise für sachdienlich hält (§ 22 Abs.1 S. 4 BVerfGG). In der mündlichen Verhandlung ist die Vertretung nach § 22 Abs. 1 BVerfG vorgeschrieben. Die Vollmacht ist schriftlich zu erteilen und muss sich ausdrücklich auf das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht beziehen (§ 22 Abs. 2 BVerfGG).

Auch wenn die Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt sind, kann die Begründetheit erst geprüft werden, wenn die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen worden ist. Die Verfassungsbeschwerde bedarf nämlich nach § 93a Abs. 1 BVerfGG der Annahme zur Entscheidung. Sie ist gem. § 93a Abs. 2 BVerfGG zur Entscheidung anzunehmen,

  1. soweit ihr grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt oder
  2. wenn es zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist. Dies kann auch der Fall sein, wenn dem Beschwerdeführer durch die Versagung der Entscheidung zur Sache ein besonders schwerer Nachteil entsteht.

Die verfassungsrechtliche Bedeutung wird regelmäßig verneint, wenn die von der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits geklärt sind. Hingegen kann die Annahme der Verfassungsbeschwerde beispielsweise angezeigt sein, wenn einer grundrechtswidrigen allgemeinen Praxis von Behörden und Gerichten entgegengewirkt werden soll oder wenn ein Verfassungsverstoß für den Beschwerdeführer besonders schwerwiegend ist.

Die Ablehnung der Annahme der Verfassungsbeschwerde kann durch einstimmigen Beschluss der aus drei Richtern bestehenden Kammer erfolgen. Andernfalls entscheidet der Senat. Der Beschluss bedarf keiner Begründung und ist nicht anfechtbar (§ 93d Abs. 1 BVerfGG).

Begründet ist die Verfassungsbeschwerde, wenn eines der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Grundrechte verletzt ist. Grundsätzlich werden sämtliche und nicht nur die vom Beschwerdeführer genannten Grundrechte überprüft, die wegen der Rechtsverletzung in Betracht kommen.

Verfassungsbeschwerden gegen gerichtliche Entscheidungen führen nicht zur Überprüfung im vollen Umfang, sondern nur zur Nachprüfung auf verfassungsrechtliche Verstöße. Dass die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung eines Gesetzes oder seine Anwendung auf den einzelnen Fall möglicherweise Fehler enthalten, bedeutet für sich allein nicht schon eine Grundrechtsverletzung; denn es handelt sich bei der Verfassungsbeschwerde nicht um ein Revisionsverfahren.

Wenn das Bundesverfassungsgericht feststellt, dass der angegriffene Hoheitsakt Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte verletzt, kann es die Verfassungswidrigkeit eines Aktes der öffentlichen Gewalt feststellen, ein Gesetz für nichtig erklären oder eine verfassungswidrige Gerichtsentscheidung aufheben und die Sache an ein zuständiges Gericht zurückverweisen (§ 95 BVerfGG).

Das Bundesverfassungsgericht entscheidet auf Grund mündlicher Verhandlung durch Urteil, ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss (§ 25 Abs. 2 BVerfGG).

Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ist kostenfrei (§ 34 Abs. 1 BVerfGG). Missbräuchliche Anrufungen des Gerichtes können jedoch mit einer Missbrauchsgebühr bis zu 2.600,00 Euro geahndet werden (§ 34 Abs. 2 BVerfGG).

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5. Kosten der Rechtsberatung und Rechtsverfolgung, Prozesskostenhilfe

Rechtsuchende, die selbst nicht über die erforderlichen Mittel verfügen, brauchen auf fachlichen Beistand bei der Verfolgung ihrer Rechte nicht zu verzichten. Die Kosten für eine Beratung und Vertretung durch Rechtsanwälte werden außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens nach dem Beratungshilfegesetz (BerHG) und im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens im Wege der Prozesskostenhilfe von der Staatskasse übernommen. Es handelt sich um eine spezielle Sozialleistung. Die Leistungen sind vom Einkommen und Vermögen abhängig.

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5.1 Hilfe für Rechtsberatung und Vertretung außerhalb eines Gerichtsverfahrens

Das Beratungshilfegesetz (BerHG) vom 18.06.1980 eröffnet Bürgern mit geringem Einkommen und Vermögen die Möglichkeit der Beratung und - soweit erforderlich - auch Vertretung außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens durch einen Anwalt (§ 2 Abs. 1 BerHG). Der Anspruch besteht nach § 2 Abs. 2 BerHG zu folgenden Rechtsgebieten: Zivilrecht (z.B. Miet-, Scheidungs-, Unterhaltsangelegenheiten), Verwaltungsrecht, Arbeitsrecht (z.B. Kündigungsschutz) und Sozialrecht (z. B. Fragen der Erwerbsminderung im Rentenrecht, Hilfsmittelausstattung als Leistung der gesetzlichen Krankenkassen, Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft nach dem SGB IX, Blindengeld und Blindenhilfe) und Verfassungsrecht. In Angelegenheiten des Straf- und Ordnungswidrigkeitsrechts besteht der Anspruch nur auf Beratung (§ 2. Abs. 2 S. 2 BerHG).

Der Unterschied zwischen Beratung und Vertretung liegt darin, dass bei einer Vertretung auch ein Auftreten des Rechtsanwalts nach außen erfolgt, sei es durch einen Brief oder ein Telefonat bzw. die Einlegung eines Widerspruches gegen einen Bescheid. Bei der Beratung geht es allein um Informationserteilung und Ratschläge des Anwalts gegenüber dem Mandanten.

Der Anspruch auf Beratungshilfe setzt nach § 1 BerHG voraus, dass der Rechtsuchende die erforderlichen Mittel nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht aufbringen kann, keine anderen Möglichkeiten für eine Hilfe zur Verfügung stehen, deren Inanspruchnahme dem Rechtsuchenden zuzumuten und die Wahrnehmung der Rechte nicht mutwillig ist.

Ein geringes Einkommen liegt dann vor, wenn dem Ratsuchenden im Falle eines Gerichtsverfahrens Prozesskostenhilfe nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung ohne eigenen Beitrag zu den Kosten zu gewähren wäre (§ 1 Abs. 2 BerHG). Die Voraussetzungen sind in aller Regel erfüllt, wenn Anspruch auf Sozialhilfe (Hilfe zum Lebensunterhalt nach §§ 27 ff. oder Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach den §§ 41 ff. SGB XII), Arbeitslosengeld II nach §§ 19 ff SGB II oder auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz besteht. In diesen Fällen genügt zum Nachweis eines geringen Einkommens der entsprechende Bescheid.

Die Beratungshilfe wird auf Antrag gewährt. Über den Antrag auf Beratungshilfe entscheidet das Amtsgericht, in dessen Bezirk der Rechtsuchende seinen allgemeinen Gerichtsstand hat (§ 4 Abs. 1 BerHG). Der Antrag kann mündlich oder schriftlich gestellt werden. Der Sachverhalt, für den Beratungshilfe beantragt wird, ist anzugeben und durch die Vorlage von Unterlagen, aus welchen er sich ergibt, nachzuweisen. Solche Unterlagen sind z. B. ein entsprechender Schriftwechsel. Die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Rechtsuchenden müssen glaubhaft gemacht werden. Zum Nachweis sind z. B. Belege über laufendes Einkommen (Lohnabrechnungen, Renten- oder sonstige Bescheide), Zahlungsbelege/Kontoauszüge zu laufenden Ausgaben (Miete, Nebenkosten, Strom, Versicherungen etc.) und Unterlagen, aus denen sich der Wert vorhandener Vermögenswerte ergibt (Sparbuch, Lebensversicherung etc.), vorzulegen.

Für das Verfahren, in welchem über den Antrag entschieden wird, gelten die Vorschriften des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit sinngemäß, soweit im Beratungshilfegesetz nichts anderes bestimmt ist (§ 5 BerHG).

Der Rechtspfleger kann dem Anliegen ggf. mit einer sofortigen Auskunft entsprechen. Er kann auch auf andere Hilfemöglichkeiten hinweisen oder dadurch helfen, dass er einen in der Rechtsangelegenheit erforderlichen Antrag oder eine Erklärung aufnimmt (§ 3 Abs. 2 BerHG). Wenn eine Hilfe in dieser Weise durch das Amtsgericht nicht erfolgt, weil sie nicht möglich, sinnvoll und zumutbar ist, stellt der Rechtspfleger nach Prüfung der für die Beratungshilfe erforderlichen Voraussetzungen unter genauer Bezeichnung der Angelegenheit einen Berechtigungsschein für Beratungshilfe durch einen Rechtsanwalt, welchen der Antragsteller frei wählen kann, aus (§ 6 Abs. 1 BerHG).

Die Verweigerung der Ausstellung des Berechtigungsscheines mit Hinweis auf die Beratung durch die Leistungsträger in sozialrechtlichen Angelegenheiten (§§ 14 und 15 SGB I), wie dies durchaus geschieht, muss nicht hingenommen werden; denn die Leistungsträger sind häufig die Kontrahenten in einer Rechtsangelegenheit. Gegen den Beschluss, durch den der Antrag auf Beratungshilfe zurückgewiesen wird, ist allerdings nur die Erinnerung statthaft (§ 6 Abs. 2 BerHG).

Man kann aber auch (statt zuerst zum Amtsgericht zu gehen) sich direkt an einen Anwalt um Beratungshilfe nach dem Beratungshilfegesetz wenden. Dem Anwalt muss man durch Vorlage entsprechender Unterlagen seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse glaubhaft machen (§ 7 BerHG).

Der Anwalt muss die Beratung im Rahmen der Beratungshilfe grundsätzlich übernehmen. Er hat gegenüber dem Ratsuchenden Anspruch auf eine Gebühr von 10,00 Euro (Nummer 2500 des Vergütungsverzeichnisses (Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes), die er in Härtefällen aber erlassen kann. Der Anwalt erhält für die Beratungshilfe aus der Staatskasse darüber hinaus einen bestimmten Gebührensatz (§ 44 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz - RVG), und zwar für die Beratung in Höhe von 30,00 Euro (Nr. 2501 Gebührenverzeichnis) und für die Vertretung von 70,00 Euro (Nr. 2503 der Gebührenordnung) jeweils zzgl. Auslagenpauschale und Mehrwertsteuer. Berät und vertritt der Anwalt in derselben Sache, ist die Beratungsgebühr voll auf die Vertretungsgebühr anzurechnen. Wenn der Gegner der Rechtsangelegenheit verpflichtet ist, dem Rechtsuchenden die Kosten der Wahrnehmung seiner Rechte zu ersetzen, hat er die gesetzliche Vergütung für die Tätigkeit des Rechtsanwalts zu zahlen. Der Anspruch geht auf den Rechtsanwalt über. Der Übergang kann nicht zum Nachteil des Rechtsuchenden geltend gemacht werden (§ 9 BerHG).

Für die Länder Berlin, Bremen und Hamburg gelten für die Beratungshilfe Besonderheiten:

In den Ländern Bremen und Hamburg tritt nach § 12 Abs. 1 BerHG die eingeführte öffentliche Rechtsberatung an die Stelle der Beratungshilfe nach diesem Gesetz, wenn und soweit das Landesrecht nichts anderes bestimmt. In diesen Ländern bestehen öffentliche Beratungsstellen.

Im Land Berlin hat der Rechtsuchende die Wahl zwischen der Inanspruchnahme der dort eingeführten öffentlichen Rechtsberatung in den öffentlichen Beratungsstellen und anwaltlicher Beratungshilfe nach dem BerHG, wenn und soweit das Landesrecht nichts anderes bestimmt (§ 12 Abs. 2 BerHG).

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5.2 Prozesskosten

Im Folgenden werden im Wesentlichen die Prozesskosten im Verfahren vor den Sozialgerichten behandelt. Die Vorschriften der §§ 183 bis 197a SGG regeln die Erhebung von Prozesskosten. Prozesskosten sind die Gerichtskosten und die außergerichtlichen Kosten der Beteiligten. Die Kosten des Verwaltungs- und Widerspruchsverfahrens werden von den Vorschriften nicht erfasst, sondern fallen unter die Bestimmungen des SGB X (§ 63 SGB X).

Für das Sozialgerichtsverfahren gelten zwei unterschiedliche Kostensysteme, nämlich das Kostensystem, welches Anwendung findet, wenn am Verfahren eine nach § 183 S. 1 SGG privilegierte Person als Kläger oder Beklagter beteiligt ist (vgl. 5.2.1 Privilegierte Kostenregelung) und das Kostensystem, welches zur Anwendung kommt, wenn keiner der am Verfahren beteiligten Kläger oder Beklagten zum privilegierten Personenkreis gehört (vgl. 5.2.2 Nichtprivilegierte Kostenregelung).

Hinzuweisen ist noch darauf, dass eine blinde oder sehbehinderte Person gemäß § 191a GVG verlangen kann, dass ihr die für sie bestimmten gerichtlichen Dokumente auch in einer für sie wahrnehmbaren Form zugänglich gemacht werden, soweit dies zur Wahrnehmung ihrer Rechte im Verfahren erforderlich ist. Hierfür werden Auslagen nicht erhoben. Die Einzelheiten sind in der auf Grund von § 191a Abs. 2 GVG erlassenen Verordnung zur barrierefreien Zugänglichmachung von Dokumenten für blinde und sehbehinderte Personen im gerichtlichen Verfahren (Zugänglichmachungsverordnung - ZMV-) geregelt.

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5.2.1 Privilegierte Kostenregelung

Für die privilegierte Kostenregelung gilt folgendes: In § 183 SGG wird zwischen privilegierten und nichtprivilegierten Beteiligten unterschieden. Zu den privilegierten Personen gehören im Wesentlichen Versicherte, Leistungsempfänger, Behinderte und deren Rechtsnachfolger. Falls ein Kläger oder Beklagter zu den in § 183 SGG genannten Personen gehört, findet das Kostensystem der §§ 183 bis 197 Anwendung, wobei die §§ 183 bis 192 SGG das Kostenverhältnis zwischen den Beteiligten und dem Staat (Gerichtskasse) und die §§ 193 bis 197 SGG das Kostenverhältnis zwischen den Beteiligten regeln.

Das Kostensystem der §§ 183 bis 197 SGG ist von dem Grundsatz der Gerichtskostenfreiheit für einen privilegierten Personenkreis, der Erhebung einer Pauschgebühr (§§ 184 ff. SGG) für die Kläger oder Beklagten, welche nicht privilegiert sind, der Übernahme von Beteiligtenkosten auf die Staatskasse (§ 191 SGG), der Erhebung von Verschuldenskosten (§ 192 SGG), der Kostenverteilung zwischen den Beteiligten nach Billigkeit (§ 193 SGG) und der Vergütung der Rechtsanwälte durch Betragsrahmengebühren (§ 3 Abs. 1 S. 1 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz - RVG) geprägt.

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5.2.1.1 Umfang der Gebührenfreiheit

Aus § 183 S. 1 SGG ergibt sich, dass Rechtsstreitigkeiten über Sozialleistungen für Versicherte, für Leistungsempfänger, behinderte Menschen oder deren Sonderrechtsnachfolger nach § 56 SGB I gerichtskostenfrei sind, soweit sie als Kläger oder Beklagte beteiligt sind.

Unter Kosten i.S. von § 183 SGG sind Gerichtskosten - Gebühren und Auslagen des Gerichts - zu verstehen.

Ausnahmen von der Kostenfreiheit sind in § 183 S. 4 abschließend geregelt. Folgende Kosten können einem privilegierten Beteiligten auferlegt werden:

Kosten für Abschriften (§ 93 S. 3, § 120 Abs. 2 S. 1 SGG), Kosten für die Anhörung eines bestimmten Arztes (§ 109 SGG) und Verschuldenskosten (§ 192 SGG).

Leistungsempfänger sind Empfänger von sonstigen Sozialleistungen in Form einmaliger oder wiederkehrender Sach-, Dienst- und Geldleistungen. Der Begriff „Sozialleistungen" ist in §§ 11 ff. SGB I definiert. Darunter fällt insbesondere der Bezug von Leistungen der Sozialhilfe (§ 28 SGB I), Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (§ 19a SGB I), Leistungen des sozialen Entschädigungsrechts (§ 24 SGB I) sowie von Kindergeld, Erziehungsgeld und Elterngeld (§ 25 SGB I).

Die Gebührenpflicht der übrigen als Kläger oder Beklagter an dem Verfahren Beteiligten, die von dem Kostenprivileg des § 183 nicht erfasst werden, ist in §§ 184 bis 190 geregelt. Mindestens ein Kläger oder Beklagter des Verfahrens muss nach § 183 SGG privilegiert sein, damit die §§ 184 ff. SGG zur Anwendung kommen. Nach § 184 Abs. 1 SGG haben Kläger oder Beklagte, die nicht zu den in § 183 genannten Personen gehören und sofern sie nicht von der Gebührenzahlung gem. § 2 GKV oder einer anderen gesetzlichen Regelung von der Gebührenzahlung freigestellt sind, für jede Streitsache eine Gebühr zu entrichten. Die Gebühr beträgt gem. § 184 Abs. 2 SGG für das Verfahren vor den Sozialgerichten 150,00 Euro, vor den Landessozialgerichten 225,00 Euro und vor dem Bundessozialgericht 300,00 Euro. Wenn an einer Streitsache mehrere nach § 184 Abs. 1 SGG Gebührenpflichtige beteiligt sind, haben sie die Gebühr zu gleichen Teilen zu entrichten (§ 187 SGG). Die Gebühr ist von der Höhe des Streitwertes und vom Erfolg der Klage unabhängig.

Wird z.B. die Klage eines Behinderten auf Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach § 43 SGB VI abgewiesen, muss der obsiegende Rentenversicherungsträger im Verfahren der ersten Instanz trotzdem eine Gebühr von 150,00 Euro entrichten. Zurück zum Inhaltsverzeichnis

5.2.1.2 Übernahme außergerichtlicher Kosten durch die Staatskasse

Die Übernahme von außergerichtlichen Kosten eines Beteiligten durch die Staatskasse ist in § 191 SGG geregelt. Ein Beteiligter trägt grundsätzlich seine außergerichtlichen Kosten selbst, falls sie nicht seinem Prozessgegner durch eine gerichtliche Entscheidung nach § 193 SGG auferlegt werden. § 191 SGG ordnet als Ausnahmevorschrift an, dass der Staat die außergerichtlichen Kosten eines Beteiligten erstattet. Wenn das persönliche Erscheinen eines Beteiligten angeordnet worden ist, werden ihm auf Antrag gem. § 191 SGG bare Auslagen und Zeitverlust wie einem Zeugen vergütet. Sie können vergütet werden, wenn er ohne Anordnung erscheint und das Gericht das Erscheinen für geboten hält. Das Erscheinen eines Beteiligten auf Einladung zur Untersuchung durch einen Sachverständigen, der vom Gericht beauftragt worden ist, erfüllt gleichfalls den Vergütungstatbestand des § 191 SGG (Haufe Onlinekommentar Rz. 5 zu § 191 SGG). Die Vorschriften des Justizvergütungs- und -Entschädigungsgesetzes (JVEG) über die Entschädigung von Zeugen sind für die Kostenerstattung hinsichtlich des Verfahrens und des Umfangs der Erstattung entsprechend anwendbar. Erstattungsfähig sind Fahrtkosten (§ 5 JVEG), Aufwandsentschädigung nach § 6 JVEG, Ersatz für sonstige Aufwendungen nach § 7 JVEG, z.B. Aufwendungen für eine notwendige Begleitperson, Entschädigung für Zeitversäumnis nach § 20 JEVG, Entschädigung für Nachteile bei der Haushaltsführung nach § 21 JEVG und Entschädigung für Verdienstausfall nach § 22 JEVG.

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5.2.1.3 Auferlegung der Kosten bei Prozessverzögerung oder missbräuchlicher Rechtsverfolgung

§ 192 SGG bringt eine Ausnahme zur Gerichtskostenfreiheit. § 192 betrifft das Verhältnis zwischen dem Staat und den Beteiligten sowie das Verhältnis zwischen den Beteiligten. Die Vorschrift stellt eine Sonderregelung zu § 193, insbesondere zu § 193 Abs. 4 SGG, dar. Durch die Möglichkeit der Verhängung von Verschuldenskosten soll ein Beteiligter von einer missbräuchlichen kostenfreien Inanspruchnahme der Sozialgerichtsbarkeit abgeschreckt und ggf. entstandene Kosten auf einen Beteiligten abgewälzt werden. Bei den Verschuldenskosten handelt es sich nicht um eine Prozessstrafe, sondern um einen Schadensersatzanspruch für die durch einen Beteiligten verursachten Aufwendungen des Gerichts und der übrigen Beteiligten (Haufe Onlinekommentar Rz. 1 zu § 192 SGG).

Das Gericht kann einem Beteiligten ganz oder teilweise die durch eine Verzögerung oder den Missbrauch verursachten Kosten auferlegen (§ 192 Abs. 1 SGG). Kostenschuldner kann ein Beteiligter des Verfahrens, also Kläger, Beklagter oder Beigeladener (§ 69 SGG) sein. Das Handeln seines gesetzlichen Vertreters (§ 72 SGG) oder Bevollmächtigten (§ 73 SGG) muss sich ein Beteiligter zurechnen lassen (§ 192 Abs. 1 S. 2 SGG).

Zwei Tatbestände sind in § 192 Abs. 1 zu unterscheiden, nämlich der der Prozessverzögerung (Abs. 1 S. 1 Nr. 1) und der des Missbrauchs (Abs. 1 S. 1 Nr. 2).

§ 192 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 regelt die Verzögerungsgebühr. Danach können einem Beteiligten Kosten auferlegt werden, wenn durch sein schuldhaftes Verhalten oder das seines Vertreters ohne Mitverschulden des Gerichts eine mündliche Verhandlung vertagt oder ein neuer Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt worden ist. Der Begriff der Vertagung setzt voraus, dass eine mündliche Verhandlung durchgeführt worden ist und das Verfahren nicht zum Abschluss gebracht werden konnte. Als Verhalten kommt in Betracht:

  • das Nichterscheinen zum Termin, insbesondere bei Anordnung des persönlichen Erscheinens,
  • die Stellung eines offensichtlich unbegründeten Ablehnungsantrages (LSG NRW, Beschluss v. 5.1.2005, L 4 B 10/04 U; OLG Düsseldorf, Beschluss v. 27.6.1984, 18 U 203/83, MDR 1984 S. 857),
  • ein verspäteter Vertagungsantrag,
  • die ungenügende Beantwortung einer Anfrage des Gerichts,
  • ein Verstoß gegen die Wahrheitspflicht,
  • die verspätete Bestellung eines Bevollmächtigten,
  • das verspätete Einreichen von Unterlagen (LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss v. 25.2.2005, L 2 RJ 120/02),
  • ein verspäteter Beweisantrag,
  • die Nichterfüllung von Auflagen

(Haufe Onlinekommentar Rz. 5 zu § 192 SGG).

Das Verhalten des Beteiligten oder seines Vertreters muss schuldhaft sein. Dafür genügt die Außerachtlassung der im Prozess gebotenen Sorgfalt bzw. die Verletzung der im Prozess notwendigen Sorgfalt. Ein Verhalten, das einem Beteiligten freisteht, reicht nicht aus. Zwischen dem schuldhaften Verhalten des Beteiligten und der Vertagung bzw. Neuanberaumung des Termins muss ein Kausalzusammenhang bestehen (Haufe Onlinekommentar Rz. 6 zu § 192 SGG).

Die Missbrauchsgebühr ist in § 192 Abs. 1 S. 2 SGG geregelt. Unter einem Missbrauch des Verfahrens ist der objektive Missbrauch zu verstehen. Ein Verschulden des Beteiligten ist nicht erforderlich. Es genügt, dass die Erhebung oder Fortführung der Klage von jedem Einsichtigen als völlig aussichtslos angesehen werden müsste. Dabei ist auf die (objektivierte) Einsichtsfähigkeit eines vernünftigen Verfahrensbeteiligten abzustellen (Haufe Onlinekommentar Rz. 8 zu § 192 SGG - LSG Sachsen, Urteil v. 31.3.2005). Der Beteiligte muss in ungewöhnlich hohem Maß uneinsichtig sein (LSG Rheinland-Pfalz, Urteil v. 6.7.2006, L 5 KR 51/06). Allein eine ungünstige Beweissituation wird einen Missbrauch nicht begründen können. Vielmehr muss ein gewisses Ausmaß an Aussichtslosigkeit bestehen (Bay LSG, Beschluss v. 20.12.2006, L 8 AL 130/05 U. L 2 U 124/04). Der Beteiligte muss auf die Möglichkeit der Kostenauferlegung bei Fortführung des Rechtsstreits hingewiesen worden sein. Neben dem Hinweis, dass eine Kostenauferlegung nach § 192 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 möglich ist, müssen dem Beteiligten oder seinem Vertreter die Missbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung und die Umstände, welche die Missbräuchlichkeit seines Verhaltens begründen, dargelegt werden (Haufe Onlinekommentar Rz. 10 zu § 192 SGG).

Einem Beteiligten können durch sein Verhalten entstandene Kosten des Staates und der übrigen Beteiligten auferlegt werden. Kosten des Gerichts nach § 192 können sein:

  • die Auslagenvergütung der Beteiligten nach § 191 SGG,
  • die Entschädigung für Zeugen und Sachverständige nach dem JVEG,
  • die Kosten für eine Beweisaufnahme,
  • die Kosten der ehrenamtlichen Richter,
  • die Kosten für Vorbereitung, Erlass, Absetzung und Zustellung des Urteils,
  • die allgemeinen Gerichtshaltungskosten

(Haufe Onlinekommentar Rz. 12 zu § 192 SGG).

Kosten der Beteiligten können sein:

  • die Auslagen für die Wahrnehmung eines Termins,
  • die Kosten für einen Prozessbevollmächtigten,
  • zu entrichtende Pauschgebühren, wenn die Einlegung des Rechtsbehelfs missbräuchlich gewesen ist oder sich die Pauschgebühr ohne das Verhalten des Beteiligten ermäßigt hätte

(Haufe Onlinekommentar Rz. 13 zu § 192 SGG).

Als Mindesthöhe des verursachten Kostenbetrages ist nach § 192 Abs. 1 S. 3 SGG der Betrag der Pauschgebühr nach § 184 Abs. 2 SGG für die jeweilige Instanz anzusetzen. Die Auferlegung höherer Kosten steht im Ermessen des Gerichts (Haufe Onlinekommentar Rz. 14 zu § 192 SGG).

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5.2.1.4 Kostenerstattung unter den Beteiligten

In den §§ 193 bis 195 SGG wird die Kostenverteilung unter den Beteiligten geregelt, d.h. inwieweit ein Beteiligter verpflichtet ist, die eigenen Prozesskosten endgültig zu tragen und die dem Gegner entstandenen Kosten zu erstatten und wie dieser prozessuale Kostenerstattungsanspruch geltend zu machen ist.

Die Konkretisierung des einem Beteiligten zustehenden prozessualen Anspruchs auf Erstattung seiner Prozesskosten (Kostenerstattungsanspruch) erfolgt in zwei aufeinander aufbauenden Entscheidungen. In der ersten Stufe wird in einer Kostenentscheidung (auch als Kostengrundentscheidung bezeichnet) entschieden, ob und ggf. in welchem Umfang der Beteiligte die Erstattung seiner Kosten verlangen kann. Auf Grundlage der Kostenentscheidung wird in der zweiten Stufe in einer weiteren Entscheidung der Kostenerstattungsanspruch beziffert (Kostenfestsetzungsverfahren).

Die Vorschrift des § 193 betrifft grundsätzlich nur das Verhältnis der Beteiligten bezüglich der außergerichtlichen Kosten untereinander. Die Kostenentscheidung nach dem SGG ist im Gegensatz zu anderen Verfahrensordnungen nicht vom Grundsatz bestimmt, dass der unterliegende Beteiligte oder der Beteiligte, der einen Rechtsbehelf zurücknimmt, die Verfahrenskosten der anderen Beteiligten trägt; die Entscheidung über die Kostenverteilung steht im sachgemäßen Ermessen des Gerichts. Im Verfahren nach § 193 SGG wird nur geprüft, ob ein Beteiligter in einem Verfahren nach § 183 SGG (Verfahren, an welchem Privilegierte als Kläger oder Beklagte beteiligt sind) Kosten dem Grunde nach zu tragen hat. Die Prüfung, ob Kosten eines Beteiligten erstattungsfähig, notwendig und in der Höhe berechtigt sind, ist Gegenstand des Kostenfestsetzungsverfahrens, das in § 197 SGG geregelt ist.

Das Gericht ist nach § 193 Abs. 1 S. 1 SGG verpflichtet, in jedem Urteil und in jeder einem Urteil gleichstehenden Entscheidung von Amts wegen eine Kostengrundentscheidung zu treffen (Haufe Onlinekommentar Rz. 4 zu § 193 SGG). Unter einem Urteil i.S. des § 193 Abs. 1 S. 1 ist jedes Endurteil, welches das Verfahren in einer Instanz beendet, zu verstehen. Einem Endurteil stehen ein Gerichtsbescheid (§ 105 SGG), Beschlüsse nach § 153 Abs. 4 SGG (Zurückweisung der Berufung durch Beschluss), § 158 SGG (Verwerfung der Berufung als unzulässig), § 169 SGG (Verwerfung der Revision als unzulässig), § 145 Abs. 4 SGG (Beschluss über die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung im Urteil des Sozialgerichts) und § 160a Abs. 4 SGG (Beschluss über die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts), sowie Entscheidungen in selbständigen Antragsverfahren nach § 86b, SGG (vorläufiger Rechtsschutz) § 178a, SGG (Nichtanhörungsrüge), § 199 Abs. 2 und Abs. 3 SGG (einstweilige Anordnung im Vollstreckungsverfahren) und § 201 SGG (Beschluss über Zwangsgeld im Vollstreckungsverfahren) gleich.

Nach § 193 Abs. 1 S. 3 SGG entscheidet das Gericht über die Kostentragung auf Antrag durch Beschluss, wenn das Verfahren anders als durch Urteil oder eine einem Urteil gleichstehende Entscheidung beendet wird. Beispiele sind Rücknahme eines Rechtsbehelfs, Anerkenntnis, Abschluss eines Vergleichs oder die übereinstimmende Erledigungserklärung. Für den Antrag auf Kostenentscheidung besteht keine Frist. Eine Kostenentscheidung durch das Gericht ist in diesen Fällen nicht erforderlich, wenn der Beklagte die Kostenerstattung dem Grunde nach anerkannt und der Kläger dieses Anerkenntnis angenommen hat oder ein Beteiligter sich in einem gerichtlichen Vergleich verpflichtet hat, die außergerichtlichen Kosten eines Beteiligten ganz oder teilweise zu tragen (Haufe Onlinekommentar Rz. 6 zu § 193 SGG). Der Beschluss über die Kostenentscheidung ist unanfechtbar (§§ 172 Abs. 3 Nr. 3 und 177 SGG).

Die Kostenaufteilung nach § 193 Abs. 1 SGG erfolgt nach billigem Ermessen des Gerichts. Bei der Ausübung des sachgemäßen Ermessens sind alle Umstände des Einzelfalls sowie Billigkeitsgesichtspunkte zu berücksichtigen. Maßgebend ist in erster Linie der Verfahrensausgang. In der Regel ist es billig, dass derjenige die Kosten trägt, der unterliegt. Bei teilweiser Erfolglosigkeit kann die Quotelung der Kosten angemessen sein. Das Maß des Obsiegens ist daran zu messen, was ein Beteiligter im Verfahren begehrt hat und inwieweit seinem Begehren stattgegeben

wurde (Haufe Onlinekommentar Rz. 11 zu § 193 SGG). Die Umstände des Einzelfalls können es jedoch auch rechtfertigen, dass eine andere Kostenverteilung vorgenommen, ja die Kosten der unterlegenen Partei der obsiegenden Partei auferlegt werden. Zahlreiche Beispiele aus der Rechtsprechung sind bei Haufe Onlinekommentar Rz. 12 und 13 zu § 193 SGG aufgeführt.

Bei anderweitiger Erledigung des Verfahrens i.S. von § 193 Abs. 1 S. 3 SGG ist die Kostenentscheidung nach billigem Ermessen zu treffen. Das Gericht kann einem Beteiligten die Kosten eines anderen Beteiligten ganz oder teilweise (Angabe von Bruchteilen) auferlegen oder feststellen, dass eine Erstattung nicht stattfindet bzw. ein Beteiligter von der Kostenerstattung ganz oder teilweise ausgenommen ist. Es kann den Betrag, der zu erstatten ist, in der Entscheidung schon beziffern. Bei der Entscheidung sind die mutmaßlichen Erfolgsaussichten des Klagebegehrens sowie die Gründe für die Klageerhebung und der Erledigung zu prüfen (Haufe Onlinekommentar Rz. 14 zu § 193 SGG).

Bei einer zulässigen Untätigkeitsklage nach § 88 SGG hat der Beklagte in der Regel dem Kläger die Kosten zu erstatten, wenn der Kläger mit der Entscheidung über seinen Antrag oder Widerspruch nach den ihm bekannten Umständen vor der Klageerhebung rechnen durfte. Dies gilt nach dem Veranlassungsgrundsatz nicht, wenn ein zureichender Grund i.S. von § 88 SGG für die Untätigkeit des Beklagten vorgelegen hat und der Kläger den zureichenden Grund gekannt hat oder kennen musste. Dies ist der Fall, wenn der Beklagte den Grund dem Kläger mitgeteilt hat oder der Kläger nach allgemeiner Lebenserfahrung oder angesichts besonderer, ihm bekannter Umstände mit dem Vorliegen eines zureichenden Grundes i.S. von § 88 SGG rechnen musste (Haufe Onlinekommentar Rz. 16 zu § 193 SGG).

Welche Kosten erstattungsfähig sind, ist in § 193 Abs. 2 bis 4 SGG geregelt.

Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten (§ 193 Abs. 2 SGG). Erstattungsfähig sind die außergerichtlichen Kosten eines Beteiligten, der zu den nach § 183 SGG privilegierten Personen gehört. Die Aufwendungen von Gebührenpflichtigen i.S. von § 184 SGG (nicht privilegierte Beteiligte) sind von der Erstattung ausgeschlossen (§ 193 Abs. 4 SGG). Der Ausschluss bezieht sich nicht nur auf die Gebühren, sondern auf alle ihnen entstehenden Kosten, z.B. auch von Anwaltsgebühren (Haufe Onlinekommentar Rz. 20 zu § 193 SGG).

Zu den erstattungsfähigen Kosten zählen die Kosten eines Vorverfahrens, welchem sich ein Gerichtsverfahren angeschlossen hat. Erstattungsfähige Kosten des Vorverfahrens sind die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwaltes oder eines sonstigen Bevollmächtigten i.S.d. § 63 Abs. 2 SGB X, die auf gesetzlicher Grundlage beruhen wie auch die Kosten für die Tätigkeit eines Bevollmächtigten i.S.d. § 63 Abs. 1 SGB X z.B. eines Verbandsvertreters. Aufwendungen eines Beteiligten im Verwaltungsverfahren, einschließlich der Kosten eines Rechtsanwalts, sind dagegen nicht erstattungsfähig (Haufe Onlinekommentar Rz. 19 zu § 193 SGG).

Die außergerichtlichen Kosten eines Beteiligten müssen tatsächlich entstanden und zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder -verteidigung notwendig gewesen sein. Darunter fallen alle Aufwendungen, die ein verständiger Beteiligter im Hinblick auf die Bedeutung und die rechtliche oder sachliche Schwierigkeit der Sache vernünftigerweise für erforderlich halten durfte. Jeder Verfahrensbeteiligte ist gehalten, die Kosten nach Möglichkeit niedrig zu halten (Kostenminderungspflicht). Welche Kosten nach den Umständen des Einzelfalls erforderlich waren, ist im Kostenfestsetzungsverfahren nach § 197 zu entscheiden. Die außergerichtlichen Kosten umfassen die Kosten der Beteiligten (Beteiligtenkosten) und die Kosten einer zulässigen Vertretung. Beteiligtenkosten sind Aufwendungen, die einem Beteiligten in eigener Person entstanden sind. Unter die persönlichen Aufwendungen eines Beteiligten fallen u.a. die Reisekosten, Verdienstausfall, Aufwendungen für Porto und sonstige Vorbereitungskosten (Haufe Onlinekommentar Rz. 24 zu § 193 SGG). Als Reisekosten kommen die Kosten zu Verhandlungsterminen und Beweisaufnahmeterminen in Frage, auch wenn das persönliche Erscheinen nicht angeordnet ist. Ferner kommen die Kosten für mindestens ein Informationsgespräch bei einem auswärtigen Prozessbevollmächtigten in Frage (Haufe Onlinekommentar Rz. 25 zu § 193 SGG). Der Verdienstausfall und die Zeitversäumnis, die einem Beteiligten durch eine erstattungsfähige Reise entstehen, sind nach den Vorgaben des JVEG zu erstatten. Erstattungsfähig sind Auslagen für Porto, Telegrammgebühren, Kosten der Beweissicherung (§ 76), Kosten für notwendige Ablichtungen und die notwendigen Dolmetscherkosten für die Übersetzung von Urkunden. Vorbereitungskosten sind erstattungsfähig, wenn sie sich konkret auf den Prozess beziehen und mit ihnen Tatsachen ermittelt oder Urkunden beschafft werden, die zur Führung des Rechtsstreits sachdienlich sind. Darunter fallen u.a. Kosten für die Beschaffung von Urkunden, ärztlichen Attesten oder Beschäftigungsnachweisen. Die Kosten für ein vor dem Prozess eingeholtes Privatgutachten zu Sachfragen sind ausnahmsweise erstattungsfähig, wenn das Privatgutachten zur Führung des Prozesses notwendig oder zumindest förderlich gewesen ist. Das Sachgutachten muss einem Beteiligten die ansonsten nicht mögliche Abgabe einer sachkundigen Stellungnahme ermöglichen (Haufe Onlinekommentar Rz. 28 zu § 193 SGG). Zu weiteren Einzelheiten vgl. Haufe Onlinekommentar Rz. 24 bis 30 zu § 193 SGG.

Die gesetzlichen Gebühren und notwendigen Auslagen eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands sind nach § 193 Abs. 3 SGG stets erstattungsfähig. Es kommt nicht auf die Gebührenvereinbarung an. Gebühren, die den gesetzlichen Rahmen übersteigen, sind nicht erstattungsfähig.

Die Vergütung für die Tätigkeiten eines Rechtsanwalts in sozialrechtlichen Angelegenheiten richtet sich nach den Vorschriften des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes (RVG). Das RVG sieht für die gerichtliche und außergerichtliche Tätigkeit eines Rechtsanwalts einheitliche Gebührentypen und Gebührentatbestände vor, unabhängig davon, vor welcher Gerichtsbarkeit der Rechtsanwalt auftritt. Hinsichtlich der Gebührenhöhe enthält das RVG für die Tätigkeit eines Rechtsanwalts in sozialrechtlichen Angelegenheiten Sondervorschriften. Das RVG differenziert bei der Ermittlung der Gebührenhöhe zwischen Verfahren i.S. von § 183 SGG (Verfahren mit privilegierten Personen als Kläger oder Beklagte) und nach § 197a SGG (Verfahren ohne privilegierte Personen als Kläger oder Beklagte).

Nach § 3 Abs. 1 S. 1 RVG entstehen in Verfahren vor den Sozialgerichten, in denen das GKG nicht anzuwenden ist, also in Verfahren i.S. von § 183 SGG, Betragsrahmengebühren. Bei den Betragsrahmengebühren handelt es sich um Gebühren, die nach ihrem Mindest- und Höchstbetrag begrenzt sind. In Verfahren nach § 197a SGG fallen Wertgebühren (§ 3 Abs. 1 S. 2, § 2 RVG) an, deren Höhe sich nach dem Gegenstandswert richtet.

Die Unterscheidung zwischen Betragsrahmengebühren und Wertgebühren gilt nach § 3 Abs. 2 RVG entsprechend für eine Tätigkeit außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens, z.B. für das Widerspruchsverfahren. In Angelegenheiten, in denen für das gerichtliche Verfahren Betragsrahmengebühren vorgesehen sind, fallen im außergerichtlichen Verfahren ebenfalls Betragsrahmengebühren an.

Die Höhe der Betragsrahmengebühren, wie der Wertgebühren, bestimmt sich nach dem Vergütungsverzeichnis (VV RVG, Anlage 1 zum RVG).

Die Rahmengebühren liegen z.B. für den ersten Rechtszug vor dem SG als Verfahrensgebühr zwischen 40,00 und 460,00 Euro (nach Nr. 3102 des Vergütungsverzeichnisses in Anl. 1 des RVG) sowie zusätzlich als Termingebühr zwischen 20,00 und 380,00 Euro (nach Nr. 3106 des Vergütungsverzeichnisses). Im jeweiligen Einzelfall beziffert der vertretende Rechtsanwalt die angemessene Gebühr nach § 14 RVG unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit seiner Tätigkeit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse seines Auftraggebers. Wenn das Verfahren keine besonderen Schwierigkeiten aufweist, wird in der Regel eine Mittelgebühr der gesetzlichen Rahmengebühren berechnet.

Damit beläuft sich die allgemeine Vergütung des Rechtsanwalts im Verfahren vor den Sozialgerichten als Verfahrensgebühr auf 250,00 Euro und als Termingebühr auf 200,00 Euro.

Die allgemeinen Geschäftskosten eines Rechtsanwalts sind durch die Gebühren abgegolten, soweit die Vergütungsvorschriften keine gesonderten Auslagentatbestände enthalten. Die notwendigen Auslagen nach Nr. 7000 ff. VV RVG sind erstattungsfähig.

Die Kosten eines Verbandsvertreters (§ 73 Abs. 2 S. 2 Nr. 5-9 SGG) unterfallen nicht der Vorschrift des § 193 Abs. 3. Erstattungsfähig sind nach § 193 Abs. 2 bare Auslagen eines Verbandsvertreters, die der Beteiligte dem Verband nach der Satzung zu ersetzen hat. Eine Pauschalierung der Auslagen durch die Satzung wird als zulässig angesehen. Mitgliedsbeiträge oder Aufwendungen, die der Verein zu tragen hat, sind nicht zu erstatten. Sonderbeiträge (Gebühren), die nach der Satzung von Verbandsmitgliedern für die Vertretung vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit oder im Vorverfahren an den Verband zu zahlen sind, stellen erstattungsfähige Aufwendungen dar. Der Anspruch eines Verbandsmitglieds auf Rechtsdienstleistungen und die damit zusammenhängende Kostenerhebung muss in einer satzungsrechtlichen Regelung wurzeln, ein Geschäftsbesorgungsvertrag reicht nicht aus (Haufe Onlinekommentar Rz. 38 zu § 193 SGG - BSG Urteil v. 29.3.2007, B 9a SB 3/05 R, SGb 2007 S. 542). Verbandsvertreter sind im Rahmen der Blindenselbsthilfevereine nach § 73 Abs. 2 Nr. 8 vertretungsbefugt.

Wenn der Rechtsstreit durch einen gerichtlichen Vergleich gem. § 101 Abs. 1 SGG erledigt wird und die Beteiligten keine Bestimmung über die Kosten getroffen haben, trägt jeder Beteiligte seine Kosten selbst (§ 195 SGG). Diese Folge tritt auch ein, wenn die Kostenregelung vergessen oder irrtümlich nicht getroffen worden ist. Eine im Vergleich getroffene Kostenvereinbarung ist Grundlage für die Kostenfestsetzung gem. § 397 SGG. Umstritten ist, ob die Beteiligten die Geltung des § 195 ausschließen können. Nach h.M. ist es zulässig, dass die Beteiligten einen Vergleich über die Hauptsache schließen, die Kosten aus der vergleichsweisen Regelung ausnehmen und wegen der Kosten eine Entscheidung durch das Gericht nach § 193 SGG beantragen (Haufe Onlinekommentar Rz. 4 zu § 195 SGG). Auf einen außergerichtlichen Vergleich ist § 195 SGG nicht analog anwendbar. Über die Kosten hat in diesem Fall das Gericht auf Antrag nach § 193 SGG und bei Klagerücknahme nach § 102 S. 3 nach sachgemäßem Ermessen zu entscheiden. Eine zwischen den Beteiligten im außergerichtlichen Vergleich getroffene Kostenregelung ist zu berücksichtigen (Haufe Onlinekommentar Rz. 6 zu § 195 SGG).

Das auf der Kostenentscheidung beruhende Kostenfestsetzungsverfahren ist in § 197 SGG geregelt. Durch die Kostengrundentscheidung nach §§ 192, 193, 195 oder 197a SGG wird die rechtliche Verpflichtung eines Verfahrensbeteiligten zur Tragung von Beteiligtenkosten festgelegt. Nach § 197 Abs. 1 SGG setzt der Urkundsbeamte des Gerichts des ersten Rechtszugs auf Antrag der Beteiligten oder ihrer Bevollmächtigten den Betrag der zu erstattenden Kosten fest, ganz gleich, in welcher Instanz die Kostengrundentscheidung getroffen worden ist. § 104 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 der Zivilprozessordnung findet entsprechende Anwendung. D.h. der Antragsteller muss die entstandenen Aufwendungen und die Kostenansätze glaubhaft machen. Der Antrag ist schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten zu stellen. Er ist fristungebunden. Eine Verwirkung ist möglich.

Im Verhältnis zwischen einem Rechtsanwalt und seinem Mandanten werden die Gebühren nach § 11 Abs. 1 und 3 RVG auf Antrag des Rechtsanwalts oder des Auftraggebers vom Urkundsbeamten der Geschäftsstelle festgesetzt. Die Vorschrift des § 197 SGG über das Kostenfestsetzungsverfahren und über die Erinnerung im Kostenfestsetzungsverfahren gilt nach § 11 Abs. 2 und 3 S. 2 RVG entsprechend. Die Höhe einer Betragsrahmengebühr kann durch das Festsetzungsverfahren nach § 11 RVG festgesetzt werden, wenn nur die Mindestgebühren geltend gemacht werden oder der Auftraggeber der Höhe der Gebühren ausdrücklich zustimmt.

Welche Kosten erstattungsfähig sind, richtet sich nach § 193 Abs. 2 bis 4 SGG. Dazu siehe oben.

Die Entscheidung durch den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle ergeht durch Beschluss. Der Kostenfestsetzungsbeschluss ist ein Vollstreckungstitel (§ 199 Abs. 1 Nr. 4 SGG).

Gegen die Entscheidung des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle kann gem. § 197 Abs. 2 SGG innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe das Gericht im Wege der Erinnerung angerufen werden. Die Erinnerung kann von jedem Antragsberechtigten, welcher durch den Beschluss beschwert ist, eingelegt werden. Der Urkundsbeamte kann der Erinnerung abhelfen. Geschieht das nicht, entscheidet das Gericht.

Das Gericht überprüft die Festsetzung in vollem Umfang. Eine Verböserung hinsichtlich der im Tenor ausgeworfenen Gesamtsumme ist nicht zulässig. Einzelposten können als Berechnungselemente abgeändert werden. Zuständig ist der Spruchkörper, dem der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle angehört. Das Gericht entscheidet durch Beschluss endgültig (§ 178 SGG). Gegen die Entscheidung ist die Beschwerde nicht zulässig (§ 178 SGG).

In der Verwaltungsgerichtsordnung gibt es keine den §§ 183 bis 197 SGG entsprechenden Bestimmungen über die Privilegierung bestimmter Personen als Kläger oder Beklagter und über eine entsprechende Kostenregelung für das Verfahren, an welchem diese beteiligt sind. Soweit nach Landesblindengeldgesetzen für Rechtsstreitigkeiten die Verwaltungsgerichte zuständig sind, sind für die Kostenentscheidung die §§ 154 bis 166 VwGO maßgebend.

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5.2.2 Nichtprivilegierte Kostenregelung

Rechtsgrundlage ist § 197a SGG. Nach dem Willen des Gesetzgebers soll der Grundsatz der Gerichtskostenfreiheit nicht in Verfahren gelten, an denen Personen beteiligt sind, die eines besonderen sozialen Schutzes in Form eines kostenfreien Rechtsschutzes nicht bedürfen. Der Gesetzgeber sieht insbesondere bei Streitigkeiten von Sozialleistungsträgern untereinander, Streitigkeiten zwischen Sozialleistungsträgern und Arbeitgeber sowie in Vertragsarztverfahren eine Gebührenprivilegierung als nicht sachgerecht an (BT-Drs. 14/5943 S. 29).Für die nichtprivilegierte Kostenregelung gilt deshalb nach § 197a SGG, dass auf Verfahren, an denen keine der in § 183 genannten Personen als Kläger oder Beklagter beteiligt sind, im Verhältnis zwischen den Beteiligten und dem Staat das Gerichtskostengesetz (GKG) Anwendung findet, also streitwertbezogene Gebühren und Auslagen erhoben werden. Die Verteilung der außergerichtlichen Kosten zwischen den Beteiligten richtet sich nach den Vorschriften der §§ 154 bis 162 VwGO, die von dem Prinzip geprägt sind, dass die unterliegende Partei die Kosten zu erstatten hat. Die Vergütung der Rechtsanwälte richtet sich nach Wertgebühren entsprechend dem Streitwert. Die §§ 184 bis 195 SGG gelten nicht für Kläger und Beklagte. Das Kostenfestsetzungsverfahren richtet sich nach § 197 SGG.

Da die unter § 197a SGG fallenden Streitigkeiten für den Adressatenkreis dieser Schriftenreihe keine große Rolle spielen, wird darauf nicht weiter eingegangen.

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5.3 Prozesskostenhilfe

Prozesskostenhilfe (PKH) zur Wahrnehmung seiner Rechte im gerichtlichen Verfahren erhält auf Antrag, wer auf Grund seiner persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufzubringen vermag.

PKH wird gem. § 119 ZPO für jeden Rechtszug gesondert bewilligt. Sie kann auch für Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gewährt werden.

Die PKH ist hinsichtlich ihrer Voraussetzungen und ihres Umfangs grundsätzlich in den §§ 114 bis 127 ZPO geregelt. Die speziellen Verfahrensgesetze verweisen jeweils auf diese Bestimmungen und regeln selbst nur die für sie geltenden Besonderheiten (vgl. z. B. § 166 VwGO für die Verwaltungsgerichtsbarkeit und § 73a des Sozialgerichtsgesetzes).

Bei Rechtsstreitigkeiten, die im Zusammenhang mit der Blindheit oder Sehbehinderung stehen, handelt es sich häufig um solche vor den Sozialgerichten. Deshalb wird hier vor allem auf die PKH im Verfahren vor den Sozialgerichten eingegangen. Da das sozialgerichtliche Verfahren abgesehen von den in § 197a SGG genannten Fällen gerichtskostenfrei ist, geht es im Regelfall nur um die Kosten eines Anwalts. Ein Antrag auf Gewährung von PKH ist daher in diesen Verfahren als Beiordnungsantrag zu verstehen (Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, Rn. 1 zu § 73a). Prozesskostenhilfe kann für jeden Beteiligten gewährt werden, auch für einen nach § 75 SGG Beigeladenen. Keine PKH wird nach § 73a Abs. 2 SGG gewährt, wenn ein Beteiligter durch einen Bevollmächtigten i.S. des § 73 Abs. 6 Satz 3 SGG vertreten ist. Nach der Rechtsprechung des BSG ist Prozesskostenhilfe bereits dann nicht zu bewilligen, wenn ein Beteiligter Mitglied eines Verbandes ist und wegen seines Anspruchs auf kostenlosen Rechtsschutz nicht bedürftig ist (BSG, Beschl. v. 12.8.1996, 9 RV 24/94, = SozR 3-1500 § 73a Nr. 4).

Erforderlich für die Gewährung von PKH ist ein entsprechender Antrag. Der Antrag auf Bewilligung der Prozesskostenhilfe ist bei dem für das Verfahren, für welches PKH begehrt wird, zuständigen Gericht zu stellen; er kann vor der Geschäftsstelle zu Protokoll erklärt werden (§ 117 Abs. 1 ZPO). Dem Antrag sind eine Erklärung der Partei über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse (Familienverhältnisse, Beruf, Vermögen, Einkommen und Lasten) sowie entsprechende Belege beizufügen (§ 117 Abs. 2 ZPO). Die Erklärung muss sich auf den Zeitpunkt der Antragstellung beziehen. Für die Erklärung müssen die bei den Gerichten erhältlichen Vordrucke verwendet werden (§ 117 Abs. 4 ZPO). Das Verfahren über die Genehmigung der PKH ist in § 118 ZPO geregelt.

Voraussetzung für die PKH ist die Bedürftigkeit. Sie liegt vor, wenn ein Beteiligter nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten für die Prozessführung nicht oder nur in Raten aufbringen kann (§ 114 ZPO).

Die PKH ist vom Einkommen und Vermögen abhängig (§ 115 ZPO). Das einzusetzende Vermögen richtet sich nach § 90 des SGB XII (§ 115 Abs. 2 ZPO). Die PKH darf deshalb nicht vom Einsatz des Schonvermögens nach § 90 Abs. 2 SGB XII abhängig gemacht werden. Vgl. dazu die Ausführungen in Heft 06 unter Nrn. 5.2.5.3.2 ff. zur Berücksichtigung des Vermögens bei der Blindenhilfe gemachten Ausführungen sowie Beschluss des Landessozialgerichts Thüringen vom 30.09.2008 AZ.: L 8 SO 801/08 ER. Dieser Beschluss bezieht sich zur Nichtberücksichtigung angesparten Blindengeldes als Vermögen bei der Prozesskostenhilfe auf BSG, Urteil vom 11. Dezember 2007 - B 8/9b SO 20/06 R.

Bei der Ermittlung des Einkommens werden alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert berücksichtigt (§ 115 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Einbezogen werden auch das Kindergeld, Wohngeld, Ausbildungsförderung und Rente nach dem BVG, nicht aber die Sozialhilfe. Zur Berücksichtigung des Blindengeldes vgl. unten.

Vom Einkommen sind nach § 115 Abs. 1 S. 3 ZPO abzusetzen:

  1. a) die in § 82 Abs. 2 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch bezeichneten Beträge (das sind auf das Einkommen entrichtete Steuern, Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung einschließlich der Beiträge zur Arbeitsförderung, Beiträge zu öffentlichen oder privaten Versicherungen oder ähnlichen Einrichtungen, soweit diese Beiträge gesetzlich vorgeschrieben oder nach Grund und Höhe angemessen sind, sowie geförderte Altersvorsorgebeiträge nach § 82 des Einkommensteuergesetzes, soweit sie den Mindesteigenbeitrag nach § 86 des Einkommensteuergesetzes nicht überschreiten, die mit der Erzielung des Einkommens verbundenen notwendigen Ausgaben und das Arbeitsförderungsgeld und Erhöhungsbeträge des Arbeitsentgelts im Sinne von § 43 Satz 4 des SGB IX);
  2. b) bei Parteien, die ein Einkommen aus Erwerbstätigkeit erzielen, ein Betrag in Höhe von 50 vom Hundert des höchsten durch Rechtsverordnung nach § 28 2 Satz 1 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch festgesetzten Regelsatzes für den Haushaltsvorstand;
  3. a) für die Partei und ihren Ehegatten oder ihren Lebenspartner jeweils ein Betrag in Höhe des um 10 vom Hundert erhöhten höchsten durch Rechtsverordnung nach § 28 Abs. 2 Satz 1 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch festgesetzten Regelsatzes für den Haushaltsvorstand;
  4. b) bei weiteren Unterhaltsleistungen auf Grund gesetzlicher Unterhaltspflicht für jede unterhaltsberechtigte Person 70 vom Hundert des unter Buchstabe a) genannten Betrages;
  5. die Kosten der Unterkunft und Heizung, soweit sie nicht in einem auffälligen Missverhältnis zu den Lebensverhältnissen der Partei stehen;
  6. weitere Beträge, soweit dies mit Rücksicht auf besondere Belastungen angemessen ist; § 1610a des Bürgerlichen Gesetzbuchs gilt entsprechend. Für das Blindengeld bedeutet das, dass vermutet wird, dass es für blindheitsbedingte Aufwendungen benötigt wird und deshalb nicht als Einkommen zu berücksichtigen ist. Vgl. dazu auch Heft 6 Nr. 6.4 und Beschluss des Thüringer Oberlandesgerichts Senat für Familiensachen vom 19.01.1999 AZ.: WF 108/98 = FamRZ 1999, S. 1673-1674.

Wenn die erforderlichen Mittel für die Prozessführung nicht zur Verfügung stehen, werden die Gerichtskosten und die für die anwaltschaftliche Vertretung entstehenden Kosten entweder ganz erlassen oder es wird Ratenzahlung eingeräumt. D. h. im Falle der erfolgten Bewilligung von Prozesskostenhilfe werden die Gerichtskosten sowie die Gebühren des eigenen Rechtsanwaltes durch die Staatskasse getragen. Bei sehr geringem Einkommen wird PKH als Zuschuss gewährt. Ansonsten muss die Prozesskostenhilfe in maximal vier Jahre lang zu zahlenden Raten zurückgezahlt werden. Ob eine Ratenzahlung in Betracht kommt, hängt vom Einkommen und der Zahl der unterhaltsberechtigten Personen ab (§ 115 ZPO). Die Höhe der Raten hängt von der Höhe des einzusetzenden Einkommens ab. Die Beträge sind einer Tabelle in § 115 Abs. 2 ZPO zu entnehmen. Unabhängig davon, über wie viele Rechtszüge der Rechtsstreit geht, sind höchstens 48 Monatsraten aufzubringen.

Die Prozesskostenhilfe deckt nur die Gerichtskosten und die Gebühren des eigenen Anwalts der Partei ab. Unterliegt die Partei im Prozess, muss sie die gegnerischen Rechtsanwalts- und ggf. Gerichtskosten im gleichen Umfang erstatten wie dies auch bei nicht bedürftigen Parteien der Fall ist (§ 123 ZPO). Trotz Prozesskostenhilfe kann damit die Rechtsverfolgung hohe Kosten nach sich ziehen. Im Sozialgerichtsverfahren ist das Kostenrisiko insofern gering, als in den Streitigkeiten nach § 83 SGG keine Gerichtskosten anfallen und auch bei Unterliegen die Kosten der beklagten Behörde nicht zu erstatten sind.

Prozesskostenhilfe wird nur gewährt bei hinreichender Erfolgsaussicht (§ 114 ZPO). Dazu werden die Erfolgsaussichten des zu führenden Prozesses einer summarischen gerichtlichen Vorprüfung unterzogen. Eine hinreichende Erfolgsaussicht besteht dann, wenn die gute Möglichkeit des Obsiegens des Beteiligten besteht. Die Anforderungen an die Erfolgsaussicht dürfen allerdings nicht überspannt werden (vgl. BVerfG, SozR 4-1500 § 73a Nr. 1). Wenn noch ein Sachverständigengutachten von Amts wegen einzuholen ist oder eine andere Beweiserhebung für erforderlich gehalten wird, ist die Erfolgsaussicht in der Regel zu bejahen (Haufe Onlinekommentar Rz. 7 zu § 73a SGG).

Keine Prozesskostenhilfe trotz Erfolgsaussicht wird gewährt, wenn die Rechtsverfolgung mutwillig ist (§ 114 ZPO). Mutwillig ist eine Rechtsverfolgung dann, wenn ein verständiger Beteiligter, der für die Prozesskosten selbst aufzukommen hätte, seine Rechte nicht in der gleichen Weise geltend machen würde (BSG, SozR 3-1500 § 73a Nr. 6 m.w.N.). Das ist z.B. der Fall, wenn ein Beteiligter einen einfacheren Weg einschlagen könnte oder wenn es zweckmäßig wäre, die Entscheidung in einem Parallelverfahren abzuwarten (Haufe Onlinekommentar Rz. 8 zu § 73a SGG).

Ziel des Antrags auf Gewährung von Prozesskostenhilfe ist im sozialgerichtlichen Verfahren insbesondere die Beiordnung eines Rechtsanwalts. Ein Anspruch auf Beiordnung besteht gem. § 121 Abs. 3 ZPO, wenn die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich oder der Gegner anwaltlich vertreten ist. Erforderlich ist die Beiordnung, wenn die Sach- und Rechtslage schwierig oder schwer zu überschauen ist, was im Sozialrecht häufig der Fall sein wird. Zu berücksichtigen ist auch die Bedeutung des Rechtsstreits für den Beteiligten sowie seine schriftliche und mündliche Ausdrucksfähigkeit. Bei sozialgerichtlichen Streitigkeiten wird man i.d.R. die Erforderlichkeit einer Beiordnung bejahen können. Sie kann nicht im Hinblick auf den im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Amtsermittlungsgrundsatz verneint werden (vgl. Haufe Onlinekommentar Rz. 9 zu § 73a SGG und BVerfG, Breithaupt 2002, 486). Der Beteiligte kann grundsätzlich den Rechtsanwalt, welcher ihm beigeordnet wird, selbst auswählen, er kann aber auch das Gericht bitten, ihm einen Rechtsanwalt auszuwählen und beizuordnen (§ 121 Abs. 5 ZPO, §73a Abs. 1 Satz 2 SGG).

Die Bewilligung erfolgt ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss (§ 127 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Mit der Bewilligung der Prozesskostenhilfe setzt das Gericht zu zahlende Monatsraten und aus dem Vermögen zu zahlende Beträge fest (§ 120 Abs. 1 ZPO).

Die Bewilligung der PKH bewirkt, dass der beigeordnete Anwalt Ansprüche auf Vergütung gegen die Partei nicht geltend machen kann (§ 122 Abs. 1 ZPO). Diese Ansprüche gehen vielmehr auf die Staatskasse über. Der beigeordnete Rechtsanwalt hat gegen die Staatskasse einen Erstattungsanspruch (§§ 45 ff. RVG). Wenn der Prozessgegner in die Prozesskosten verurteilt worden ist, sind die für die Partei bestellten Rechtsanwälte berechtigt, ihre Gebühren und Auslagen von dem Gegner im eigenen Namen beizutreiben (§ 126 Abs. 1 ZPO).

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6. Informelle Rechtsbehelfe - Gegenvorstellung - Aufsichtsbeschwerde

Als informelle Rechtsbehelfe können die Gegenvorstellung und die Dienstaufsichtsbeschwerde bezeichnet werden.

Die Gegenvorstellung ist ein formloser Rechtsbehelf gegen ein Verhalten oder Unterlassen der Behörde oder eines Gerichts mit der Bitte um erneute Sachprüfung. Sie ist gesetzlich nicht geregelt. Sie wurde aus dem im Grundgesetz verankerten Petitionsrecht von der Rechtsprechung entwickelt und ist heute allgemein anerkannt.

Die Gegenvorstellung ist nicht an eine Form oder Frist gebunden. Auch eine Beschwer oder Rechtsverletzung ist nicht erforderlich. Als Begründung kann z.B. auch vorgetragen werden, dass eine andere Entscheidung zweckmäßiger wäre. Sie kann auch rechtskräftige Verwaltungsakte oder Urteile zum Gegenstand haben. Die Behörde beziehungsweise das Gericht muss die Eingabe beantworten. Ein Anspruch auf eine Sachentscheidung besteht jedoch nicht. Die Gegenvorstellung kommt praktisch nur dann in Frage, wenn kein förmlicher Rechtsbehelf wie Widerspruch, Klage, Berufung, Revision, Beschwerde oder auch die Nichtanhörungsrüge als außerordentlicher Rechtsbehelf nach § 178a (dazu vgl. 4.3.4.2) möglich ist.

Mit der Dienstaufsichtsbeschwerde wird das persönliche Verhalten eines Beamten bzw. Angestellten des öffentlichen Dienstes oder eines Richters gerügt. Sie ist an die Dienstaufsichtsbehörde bzw. den Dienstvorgesetzten zu richten. Der Beschwerdeführer hat einen Anspruch darauf, dass die Beschwerde behandelt wird, dass also z.B. der Vorgesetzte prüft, ob das Vorgehen bzw. Verhalten eines Beamten dienstrechtlich zu beanstanden ist oder nicht. Er hat auch Anspruch auf Erhalt einer Antwort, wie in der Sache entschieden ist und welche Maßnahmen auf die Beschwerde hin veranlasst worden sind, wobei eine nähere Begründung hingegen nicht verlangt werden kann. Die Dienstaufsichtsbeschwerde ist z.B. angebracht bei einer besonders umständlichen oder unzweckmäßigen Verfahrensweise, die mit keiner Rechtsverletzung einhergeht (Haufe Onlinekommentar Rz. 7 zu § 9 SGB X).

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7. Literaturhinweise

  • Dillmann, Franz: Allgemeines Sozialverwaltungsrecht und Grundzüge des sozialgerichtlichen Verfahrens, Stuttgart und München 2008.
  • Haufe Onlinekommentar zum SGG.
  • Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG.

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8. Impressum

Schriftenreihe: Rechtsberatung für blinde und sehbehinderte Menschen
Heft 10 "Rechtsschutz und Rechtsberatung"

Stand: Januar 2009

Von: Dr. Herbert Demmel und Karl Thomas Drerup
Herausgeber: Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V. und Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e. V.

Diese Schriftenreihe widmen wir dem Andenken an Dr. Dr. Rudolf Kraemer. Zu seiner Person vgl. Heft 01 Abschnitt 1.