horus 3/2023
Schwerpunkt: "Kontakt und Beziehungen"

Titelbild horus;

Titelbild horus 3/2023: Fotocollage. Linkes Bild: Werner Wörder, 1. Vorsitzender des DVBS, moderiert die Mitgliederversammlung am 20. Mai 2023, vor ihm steht ein Mikrofon. Foto: DVBS. Rechts oben: Michael Herbst, Leiter der politischen Arbeit der cbm, und Afliana Lisnahan, Misaun Lepra Timor-Leste (Osttimor), nach einer Diskussion im Rahmen einer Nebenveranstaltung der Conference of the States Parties (COSP) in New York, Juni 2023. Foto: privat. Rechts unten: Shabnam Hemmatian spricht lächelnd in ihr iPhone. Foto: privat


Inhalt

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Vorangestellt

Liebe Leserinnen und Leser, liebe DVBS-Mitglieder,

Einsamkeit - was für ein Wort! Für viele Menschen eher angstbesetzt. Einsamkeit oder Mangel an Kontakten, um die es unter anderem in dieser Ausgabe geht, kann viele Facetten haben. Den meisten von uns wird der Begriff nicht gefallen. Er klingt wie gequält grüblerisch durchwachte Nächte, nach Verzweiflung oder nach Trauer, wie es im Beitrag "Gefangen im Zimmer" bewegend deutlich wird.

Und doch lässt sich auch eine Lanze für die Einsamkeit brechen. Vielleicht macht sie es möglich, in unruhigen Zeiten ruhig über das nachzudenken, was wirklich wichtig ist, abseits von geschäftigem Stress, der ständig unsere Aufmerksamkeit fordert, um nichts und niemanden zu verpassen.

Und dennoch: Meist ist die Einsamkeit keine bewusste Kontaktverweigerung, sondern ein Zustand, den wir mit Trauer bis Verbitterung konstatieren und der uns bedrückt.

Wie kommt man aus so einem Teufelskreis heraus, oder - weniger pathetisch formuliert - wie schaffen wir befriedigende Kontaktaufnahmen und wie gelingt es, gute Kontakte festzuhalten und nicht durch das Sieb der Zeit fallen zu lassen? Das ist für uns Menschen mit einer Seheinschränkung besonders wichtig, wie der Beitrag von Plarre belegt; denn - ob es uns gefällt oder nicht - wir sind mehr als die "Durchschnittsbevölkerung" darauf angewiesen, mit anderen zu interagieren, sie für uns zu gewinnen, sei es für eine einmalige Hilfeleistung, sei es längerfristig. Natürlich gelingt das je nach Kontext und eigener Lebenssituation unterschiedlich gut, wie viele Beiträge in unserem Schwerpunkt deutlich zeigen. Und nicht jeder oder jede ist ein geborenes Kontaktaufnahmegenie. Doch auch wenn man nicht ganz "aus seiner Haut" kann, lassen sich einige Dinge lernen, die Kontakte erleichtern. Doch dazu gehört Mut und Ausdauer und das, was Menschen, die die Punktschrift beherrschen, eigentlich haben sollten, nämlich Fingerspitzengefühl, wobei das natürlich auch für unsere anderen Leserinnen und Leser gilt. Diese Eigenschaften lassen sich in gewissem Umfang erlernen, und hier kann auch die Selbsthilfe etwas Wichtiges beitragen, eine nicht zu unterschätzende Qualität.

Gute Kontakte wünscht Ihnen und Euch nicht nur bei der Lektüre dieses Heftes

Ihr und Euer

Uwe Boysen

Bild: Uwe Boysen trägt einen roten Pullover und eine dunkle Brille, sein Haar ist weiß. Das Sonnenlicht wirft gerade Flächen von Licht und Schatten an die Wand, auf Uwe Boysen fällt Licht. Er lächelt. Foto: DVBS

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Aus der Redaktion

Selbsterfahrung

Ganz schön mutig fand die Redaktion diesmal die sehr persönlichen Berichte im Schwerpunkt, die davon erzählen, wie herausfordernd es manchmal sein kann, Kontakt zu einzelnen oder Gruppen aufzunehmen. Ich und die Anderen - dazwischen liegt eine Grenze. Sie wahrzunehmen ist ebenso wichtig wie das Erkennen der unterschiedlichen Regeln zur Überwindung dieser Grenze. Das Schreiben darüber macht die Grenze schon etwas durchlässiger: Der Autor bzw. die Autorin stellt sich dem Lesepublikum, den Anderen. Wir könnten diese Zeitschrift ohne diesen Mut, der auch bei anderen Themen vonnöten ist, nicht herausgeben. Deshalb ein herzliches Dankeschön an alle, die ihre eigenen Grenzen - und die der anderen - mit ihrem Schreiben oder in Interviews ausloten und Zeit und Ideen dem horus pro bono widmen.

Kongresszeit

Wer das Programm des Kongresses für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik 2023 gelesen hat - er fand im Zeitraum vom 31. Juli bis 4. August 2023 statt -, dem wird schnell klar, wie viel Energie und Organisationstalent hinter einer wissenschaftlichen Tagung stehen kann. Damit diese Energie nachhaltig wirkt und anregt, wird horus 4/2023 das Thema der Veranstaltung "Leben. Bildung. Partizipation: individuell - spezifisch - flexibel" aufnehmen. Wir freuen uns auf Berichte, Vorträge und Impulse, die Sie als Leserin und Leser im Nachhinein teilhaben lassen am vielfältigen Miteinander der Tagung. Selbst wenn Sie nicht "vom Fach" sind: Die Themen Bildung und Partizipation gehen uns alle ein Leben lang an, vielleicht ohne zu merken, was wir gerade Neues gelernt haben, weil sich schon wieder ein Prozess, ein Verfahren weiterentwickelt hat, und unser Können mit ihm. Vielleicht aber auch wird deutlich, wie wichtig Netzwerke und Kooperationen sind, um Schritt zu halten, und wie willkommen sich jeder und jede fühlen kann, sobald gemeinsame Interessen klar sind. Lassen Sie sich überraschen!

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Schwerpunkt: "Kontakt und Beziehungen"

"Die Augen bleiben draußen" - Vom Kontakte knüpfen und Beziehungen pflegen

Von Michael Plarre

"Wenn Blicke töten könnten ...", so beginnt ein im Sprachgebrauch gern genutzter Satz, wonach ein Mensch offensichtlich einen mörderischen Gesichtsausdruck auf einen oder mehrere andere Leute richten kann. Wenn also Blicke wirklich töten könnten, wären blinde Menschen wohl sehr sicher, denn wir würden den "tödlichen" Blick nicht empfangen und nicht entsprechend interpretieren, da uns dazu die Antenne fehlt. Der tötende Blick würde sinnlos an uns abprallen. Augen empfangen nicht nur optische Eindrücke, sie senden auch etwas aus, wodurch sie sich von den anderen Sinnesorganen erheblich unterscheiden.

Als ich während der Lektüre des letzten "horus" auf das jetzige Schwerpunktthema "Kontakte und Beziehungen" gestoßen wurde, fiel mir direkt die einleitende Frage auf: Beziehung herstellen ohne Blickkontakt, können wir das überhaupt? Diese Frage wirkt provokativ, weshalb ich diesen Artikel schreibe. Ja, wir können, weil wir müssen, denn Blickkontakte sind für mich und viele von uns nicht möglich. Für mich, dessen Augen nichts sehen und auch nur bedingt so tun können, als würden sie jemanden oder irgendetwas anschauen, und für die vielen blinden Menschen, die gar keine Augen mehr haben, sondern Prothesen oder nicht einmal solche, bleibt keine Wahl: Beziehungen knüpfen ohne Blickkontakt, das muss möglich sein.

Ich selbst bin geburtsblind, weshalb es mir bestenfalls möglich ist, meine "Blickrichtung" nach der Stimme meines Gesprächspartners auszurichten; zur Kontaktaufnahme taugen die Augen nicht, da sie selbst nicht aktiv mit anderen Augen interagieren können. Aber wie entstehen dann Beziehungen? Nach meiner Erfahrung zumeist doch mittels Sprache.

Wenn ich mich an den Übergang erinnere, als die Schulzeit in einem doch meist "geschützten Raum" vorüberging und ich über die Brücke in das "normale Leben" gehen musste, fühlte ich mich häufig überfordert als Einzelschwimmer im großen Becken der sehenden Menschen. Deshalb empfand ich es immer als vorteilhaft, wenn wenigstens noch ein anderer "blinder Kollege" dabei war. Aktiv Kontakt aufzunehmen war nicht leicht, gezielt mit ausgewählten Personen, wie es die sehenden Menschen aufgrund ihrer optischen Eindrücke und den damit verbundenen Erwartungen tun oder nicht tun, ist mir nicht möglich. "Guck mal da, die Blonde am Tisch dahinten", "Schau mal, der riesige Typ mit den großen braunen Augen", "Oh guck mal, der Dicke, der kriegt bestimmt keine ab", "Die Kleine da drüben, was isst die denn da?", "Der junge Mann dort in der Ecke, ist der wohl Japaner oder doch Koreaner?". All diese Beispiele sind reine Fiktionen und funktionieren real bei vollblinden Menschen gar nicht; deshalb spielen derlei Merkmale für eine Kontaktaufnahme auch keine Rolle. Ich bevorzuge keine blonden, schwarzen oder braunen; keine dünnen oder dicken; keine weißen oder irgendwie andersfarbigen Menschen, genauso wenig wie ich sie ausschließe.

Oft hoffe ich darauf, innerhalb großer anonymer Gruppen angesprochen zu werden; dass ich öfter selbst die Initiative ergreifen muss, das habe ich im Laufe meines Ausbildungs- und Berufslebens gelernt. "Hallo, Entschuldigung, bin ich hier richtig im Seminarraum 107?", "Ist hier noch ein Platz frei?" - solche oder ähnliche Fragen irgendjemandem zu stellen, den ich nicht kenne, fiel mir wirklich schwer. Hatten wir in Schulzeiten überschaubare Lerngruppengrößen, so war ich plötzlich in der Uni zwischen ca. 80 bis 90 sehenden Menschen, die sämtlich noch nie mit der Thematik Blindheit zu tun hatten. Und das bringt mich zum nächsten Punkt:

Warum ist so oft die Behinderung Thema bei einer Kontaktaufnahme? Da bin nicht ich, der aufgrund meiner Augen- oder Haarfarbe, mehr oder weniger schicken Kleidung oder meiner Mimik angesprochen wird, nein, da bin ich der Blinde, und dem muss man ja vielleicht helfen. Dabei werde ich nicht selten gefragt, seit wann ich denn blind wäre und ob ich nicht doch wenigstens noch ein kleines bisschen sehen könnte, und manchmal auch - Kinder tun das in ihrer Hoffnung ausdrückenden Naivität - "Wann wirst du denn wieder gesund?" Natürlich gebe ich Antworten auf vernünftige Fragen, die ich von vielleicht ja wirklich wissbegierigen Personen gestellt bekomme. Dennoch verspüre ich innerlich auch immer wieder eine Abneigung, schon wieder über meine Blindheit sprechen zu sollen; ja es stimmt, ich bin blind, aber ich bin auch noch mehr!

Entweder besteht tatsächlich ein Interesse an meiner Person, die diese Behinderung hat, woraus dann auch eine nachhaltige Beziehung erwachsen kann - in einigen Fällen habe ich das so erlebt, dass mich sehende Menschen intensiver kennengelernt haben bzw. ich sie - oder der Kontakt bleibt temporär und man geht auseinander, vergisst sich wieder, wenn der Anlass zur Kontaktaufnahme vorüber ist.

In großen Gruppen

Wie wirke ich innerhalb großer Gruppen? Diese Frage stelle ich mir schon lange und finde häufig die eine Antwort: Ich weiß es nicht. Tatsache ist, dass ich in größeren Gruppen immer unter Anspannung stehe und Hemmungen habe, mich zu Wort zu melden, auch wenn ich den Wunsch habe, jetzt, genau jetzt in eine Diskussion einsteigen zu müssen, aber ich traue mich nicht; bis ich Luft geholt und meinen Wunsch, etwas beizutragen, geäußert habe, ist der Moment verflogen. Damit entziehe ich mich einer Wirkungsweise, es sei denn, meine Passivität wird als wirkungslos wahrgenommen. Doch natürlich hatte ich mich auch gelegentlich meinen Ängsten zu stellen: Fachreferat während des Studiums, Erläuterung meiner beruflichen Tätigkeiten, Mitwirken an öffentlichen Veranstaltungen; und dabei weiß ich nicht, wie intensiv der Kontakt zwischen mir und meiner Zuhörerschaft ist. Sehen die mich an oder gucken sie weg, hören die mir überhaupt zu? Gucke ich richtig zu ihnen? Bin ich interessant oder wenigstens das, was ich zu sagen habe? Nicht selten korrespondiert ja die Wahrnehmung eines Vortragenden mit dem Interesse am Inhalt seines Vortrages. Ein psychologisches Phänomen, wonach die Bewertung des Sprechers großen Einfluss hat auf die Glaubwürdigkeit des von ihm Gesagten. Wenn ich also eher uninteressant wirke, ist der Kontakt weniger intensiv und man misst meinen Worten weniger Bedeutung bei, als wenn ich äußerlich interessant wirke. Aber woher weiß ich, wie ich ankomme? Natürlich wende ich meinem Publikum das Gesicht zu, das ist das Mindeste; mich können aber keine optischen Rückmeldungen aus dem Plenum erreichen und ich kann nur theoretisch hinschauen. Die kurze Beziehung muss von meiner Seite her mit der Stimme aufgebaut und über möglichst sinnvollen Inhalt so lange erhalten werden, bis mein Redebeitrag vorbei ist.

Ein ganz anderes Beispiel von Kontaktaufnahme ist ein Stadionbesuch ohne sehende Begleitung. Ich habe das dreimal zusammen mit einem Freund, einmal auch ganz für mich allein gemacht. Hier ist die Gruppe, zu der ich zwangsläufig irgendwann gehöre, noch viel größer, aber ich brauche auch nicht die Beziehung zur kompletten Gruppe, sondern lediglich zu einigen wenigen Personen, die ebenfalls dazugehören. Beim Weg zum Stadion und dessen Einrichtungen wie Wurststand, Bierausschank, WCs, Eingang zum Block B entstehen sehr freundliche Kontakte, bei denen man sich über Fußball und die heute mal wieder schwierige Anreise mit den "Öffis" unterhält, keinesfalls aber über meine Blindheit. So komme ich fast genauso schnell zu meiner Stadionbratwurst, zu meinem Altbier und auch zu meinem Platz auf der Tribüne. Hier entstehen zweifellos keine nachhaltigen Beziehungen, aber sie entstehen und sind für den Augenblick hilfreich und nicht selten sogar schön. Einen Meinungsaustausch mit Fans erreiche ich hingegen nicht, wenn ich mit einem sehenden Begleiter ein Fußballspiel besuche, der dann mal eben 'ne Wurst holt oder sich in die Getränkeschlange einreiht, während ich am Rande warte.

Auf "Ohrhöhe"

Zufallskontakte im Bus, in der Bahn, beim Einkaufen sind meist auch nicht nachhaltig, aber ebenso wichtig, um einen Platz oder die richtige Ware zu finden. Das alles geht über Verbalisierung, meine Augen spielen dabei keine Rolle.

Mit den Ohren agieren, das geht, wenn auch nur einseitig. Zwei Menschen, die Blickkontakt miteinander aufnehmen, können sich gegenseitiges Interesse signalisieren, das Gehör empfängt Eindrücke, sendet aber nicht zurück. Anstatt eines optischen Eindrucks, der nicht selten zu Stigmatisierungen führt, vermittelt mein Hörsinn mir, ob mir eine Stimme gefällt, nicht gefällt oder egal ist; feinere Abstufungen können während einer Intensivierung des Kontakts entstehen. So habe ich tatsächlich auf dem Markt die Obst- und Gemüseverkäuferin meines Vertrauens kennengelernt, weil sie mit einer mich ansprechenden Stimme ihren Spargel und ihre süßen Beeren ausgesungen hat. Und da wir gerade bei den Ohren sind - es gibt zahlreiche Chatforen, auch mit Kontaktbörsen, bei denen man sich nicht sieht, wo man sich auf "Ohrenhöhe" begegnen kann. Auch hier heraus entstehen Beziehungen, wenn verschiedene Personen anhand des Sprechens merken, dass sie sich sympathisch sind, dass sie auf einer Wellenlänge schwimmen.

Blindheit als Makel?

Wenn ein Kontakt zwischen zwei blinden Menschen entsteht, ist das "sich sehen wollen" eher im übertragenen, nicht im wörtlichen Sinn zu verstehen; "man sieht sich", sagen auch blinde Menschen, wenn sie sich verabreden. Für Späterblindete Personen ist die Alltagssprache hingegen oft belastend, da reicht manchmal schon ein "Auf Wiedersehen", um Irritationen auszulösen; "Wir sehen uns doch gar nicht, wir hören uns nur", bekomme ich eventuell zur Antwort. Ist einer der Kontaktpartner sehend, kann es sein, dass er von der Blindheit des Anderen gar nichts weiß, da sehen können oder nicht in einem auditiven Chatroom keine Rolle spielt. Was dann leider auch passiert: Eine blinde Frau sucht eine Beziehung, gibt eine telefonische Anzeige auf, lernt jemanden kennen, man spricht einige Male miteinander und empfindet Sympathie, bis es Zeit ist, sich mal persönlich zu treffen. Doch kaum wird der sehende Mann auf die Blindheit der doch zuvor so sympathisch klingenden Frau aufmerksam, haut er ab. Ein anderer Fall, als ein Mann auf die Zeitungsannonce einer blinden Frau reagiert, sie anruft und sich vergewissert: "Und du bist blond?" "Nein", sagt die Frau, "nicht blond, ich bin blind." - "Was? Blind? Nee dann ...", und er legt auf.

Solche Beispiele mögen zeigen, dass Blindheit als ein großer Makel angesehen wird, weshalb viele Betroffene bemüht sind, ihre Blindheit zu verstecken, solange es geht. Aber im Leben geht das nicht lange, wenn der blinde Mensch seine Selbstständigkeit aufrechterhalten oder wieder zurückgewinnen will, denn dann muss er offensiv er selbst sein und klar zu seiner Behinderung stehen.

Assistive Hilfstechnologien bringen uns in die Lage, unseren Alltag weitgehend zu meistern und auch im Beruf unsere Aufgaben zu erfüllen. Mithilfe von Screenreadern mailen und chatten wir und bleiben akustisch oder schriftlich in Verbindung, wobei die Behinderung irrelevant ist. Als ich vor fast 20 Jahren erstmals Beziehungen zu taubblinden Menschen herstellte, um sie im Umgang mit Screenreader und Braillezeile zu unterrichten, habe ich begriffen, dass man nicht nur ohne Blickkontakt, sondern sogar ohne akustische Verbalisierung miteinander interagieren kann. Von einer Teilnehmerin an einem Computerseminar im Jahr 2005 bekomme ich bis in die Gegenwart mindestens eine virtuelle Grußkarte in Form einer Mail und antworte ihr natürlich. Noch nie hat sie mich gesehen und gehört, noch nie habe ich sie gesehen, aber beim schriftlichen Austausch spielt das alles keine Rolle.

Den Augenblick nutzen, Kontakt knüpfen

Kontaktaufnahme zu Gleichgesinnten fällt häufig leichter als in einer schwierigen Situation, wenn man gerade um Hilfe bitten muss. Das obige Beispiel im Stadion weist bereits darauf hin. Aber besonders auch Menschen, die in Begleitung eines Hundes unterwegs sind, schließen schnell Kontakte, schon allein, weil der Hund interessant ist und wenigstens angeschaut, noch besser gestreichelt werden muss. Hunde sind also ein guter Grund, erst recht dann, wenn beide sich Begegnenden mit Hund unterwegs sind; und wenn man hier häufiger spazieren geht, dann sieht man sich eben wieder, und aus dem Kontakt kann eine sich vertiefende Beziehung werden.

Kontakte ohne direkten Blick, das geht schon. Manchmal mag es schwerfallen, in einer anonymen Menge um Hilfe zu bitten, manchmal braucht es Überwindung, eine Person anzusprechen, die man nicht richtig ansehen kann, manchmal werden leider solche Versuche auch ignoriert; das Gegenüber tut so, als hätte es nichts gehört. Aber das Wort "manchmal" sagt es schon, oft geht es auch anders und ein Kontakt kommt zu Stande. Ob dieser sich dann zu einer Beziehung weiterentwickeln kann, darauf haben beide Seiten ihren Einfluss. Und man kann immer wieder telefonieren und chatten, sich themenspezifisch austauschen oder sich einfach vergnügt unterhalten. Alles das sollte jedem so oft wie möglich passieren, denn eine soziale Isolation, keine Freunde, keine Partner, wie intensiv auch immer, zu haben, führt zu Einsamkeit, eventuell wachsender Antriebslosigkeit und birgt die Gefahr einer Depression. Nicht jeder wird abgeholt, weil nicht jeder dort steht; doch jeder blinde Mensch sollte seine Mittel, seine Fähigkeiten einsetzen, um den Augenblick nicht zu verpassen, um blicklos Kontakte zu schließen.

Zum Autor

Der Diplom-Pädagoge Michael Plarre, geboren 1964 in Bochum, ist als Reha-Ausbilder in den Bereichen "Vorbereitende Maßnahmen", Punktschrift, PC- und Hilfsmittelschulung spezialisiert. Er legte 1985 sein Abitur an der blista ab und studierte in Marburg. Seit 21 Jahren lebt er mit seiner Frau in Bonn.

Bild: Michael Plarre lächelt. Er hat dunkelblondes Haar, blaue Augen und trägt auf der Studiofotografie ein Hemd in dunklem Karomuster.

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Die Einsamkeitsfalle oder: Ist das alles nur in meinem Kopf?

Von Isabella Brawata

Ich fühle mich eigentlich im Großen und Ganzen nicht einsam, aber mir ist aufgefallen, dass ich kaum Hobbys habe und nur wenige sehende Bekannte. Ich habe mich gefragt, woran das liegt.

Ansprechhemmung

Sehende Menschen schauen sich erstmal um, bevor sie jemanden ansprechen. Sieht sie oder er nett aus? Wünscht sie oder er eine Kontaktaufnahme? Wenn blinde oder sehbehinderte Menschen jemanden ansprechen möchten, können sie sich kein Bild vom Gegenüber machen. Sie müssen einfach loslegen und warten, was passiert. Ich möchte nicht stören, möchte niemanden ansprechen, die oder der gar kein Gespräch wünscht. Bislang empfand ich meine Denkweise als normal. Doch kürzlich nahm ich an einem Seminar der DVBS-Fachgruppe "Soziale Berufe und Psychologie" teil. Da erfuhr ich, sowohl vom Seminarleiter als auch von anderen Teilnehmenden, dass sie Gespräche mit Fremden als sehr bereichernd erleben, dass sie es als gar nicht aufdringlich empfinden, Andere in ein Gespräch zu verwickeln, sondern als etwas völlig Selbstverständliches, und sie merken anhand der Reaktion der angesprochenen Person (antwortet sie einsilbig oder geht sie auf das Gespräch ein?), ob sie an einem Austausch interessiert ist oder nicht. Auf diese Weise sind sogar neue Freundschaften entstanden. Ich muss meine Einstellung also vielleicht überdenken.

Eisschmelzen

In einer größeren runde von sehenden Menschen herrscht zunächst große Unsicherheit, wenn eine blinde Person dazukommt. Die Leute wissen oft nicht, wie man ohne Augenkontakt ein Gespräch beginnt, worüber man mit blinden Menschen sprechen kann usw. Es gibt blinde Personen - und natürlich auch Sehende -, denen es spielendleicht fällt, das Eis zum Schmelzen zu bringen, die durch ihre Offenheit, Herzlichkeit, ihren Witz und Charme, fesselnde Geschichten u. ä. alle Leute für sich einnehmen können. Ich bin Menschen gegenüber, die ich nicht gut kenne, eher schüchtern und zurückhaltend. Ich brauche ein Weilchen, bevor ich Zutrauen fasse und mich öffne. Deshalb habe ich Mühe damit, das Eis zu schmelzen. Es strengt mich an.

Der "Ich-bin-viel-zu-langsam"-Gedanke

Ich hab' mal mit dem Gedanken gespielt, an der Volkshochschule einen Indisch-Kochkurs zu besuchen, ihn aber schnell wieder verworfen. Ich hatte die Befürchtung, dass sich alle, außer mir, schnell in der Küche zurechtfinden, sich Fleisch, Gewürze, Obst und Gemüse schnappen und mit der Arbeit beginnen würden, während ich noch darüber nachdenke, wo denn nochmal die Schneidebrettchen liegen. Bis ich überhaupt angefangen hätte, wären alle schon längst fertig. Also habe ich keinen Indisch-Kochkurs an der Volkshochschule begonnen.

"Ich kann das! Ich kann das wirklich! So glaubt mir doch!"

Ich wandere gern und habe überlegt, einem Wanderverein beizutreten. Aber dann stellte ich mir vor, wie den Leuten die Gesichtszüge entgleisen würden, wenn ich auftauchen würde. Wie sie sich fragen würden: "Wie soll das denn mit ihr gehen?" "Die wird bestimmt über alle Wurzeln und in alle Erdlöcher stolpern und gaaanz langsam gehen!" "Was machen wir, wenn sie einen Abhang herunterfällt?" Ich müsste allen zeigen, dass ich ganz gut allein oder am Arm laufen kann, und wehe, ich komme doch mal ins Stolpern .... Ich würde mich unwillkommen und beobachtet fühlen. Ich hätte die Befürchtung, hinzufallen oder ins Straucheln zu geraten, weil dies Wasser auf die Mühlen derjenigen wäre, die der festen Meinung sind, dass blinde Menschen sich nicht gut in Feld und Wald fortbewegen können. Deshalb bin ich bislang noch keinem Wanderverein beigetreten.

Anderen lästig sein

Ein Whiskey-Händler bietet neben vielen köstlichen Whiskeys auch manchmal für seine Kund*innen Reisen zu den Destillerien nach Irland oder Schottland an. Ich habe ganz kurz darüber nachgedacht, an einer solchen Reise teilzunehmen. Aber dann machte ich mir Sorgen, dass mich die anderen Reisegäste oder der Reiseleiter die ganze Zeit führen müssten, dass ich sie darum bitten müsste, falls wir häufig die Unterkunft wechseln würden, mich von und zu meinem Zimmer oder zum Speisesaal zu begleiten und mich am Buffet zu unterstützen. Das wäre für die anderen Teilnehmenden der Reise eine ganz schöne Belastung und für mich keine Entspannung. Also buchte ich die Reise nicht.

Der "Ich kann nichts beitragen"-Gedanke

Ich habe die Leute beneidet, die sich nach der Flut im Ahrtal einfach so auf den Weg gemacht haben, um den Menschen in Not zu helfen. Ich finde auch die Arbeit der Seenotrettung großartig, die geflüchteten Personen das Leben rettet. Dann werde ich traurig, weil ich auch gerne mit anpacken würde, es aber nicht kann. Aber es geht auch eine Nummer kleiner. Ich bin Mitglied im Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland. Ich würde mich sehr gern dort engagieren, aber dann denke ich: Ich kann keine Vögel beobachten, keine Fledermaushäuschen aufhängen, keine Führungen für Kinder durch die Natur anbieten. Also bin ich seit Jahrzehnten passives Mitglied.

Barrieren im Kopf abbauen

Manche von Ihnen und Euch, liebe Leserinnen und Leser, wird meine Einstellung sicher in den Wahnsinn treiben. Wie kann man nur so negativ, passiv und pessimistisch sein? Aber genau das sind einige der Fallen, in die Menschen tappen, die sich nicht trauen, ihre Hobbys zu verwirklichen oder neue Beziehungen zu knüpfen. Ich werde von Gedanken geleitet, die destruktiv sind, die ich mir erstmal bewusst machen musste und gegen die ich - und das ist der schwerste Teil - andenken muss. Hinzu kommen noch andere Faktoren, die zwar nichts mit der Blindheit zu tun haben, die aber trotzdem wirksam sind. Ich bin von Natur aus eher inaktiv, neige dazu, mich zurückzuziehen und mit den Ohren oder den Händen zu lesen, Podcasts zu genießen. Daher bin ich Freundinnen und Freunden und dem Verein dankbar, die mich aus meinem Nichts-tun herausholen.

Nicht nur ich, meine gesamte Familie ist nicht so gesellig. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie mein Vater, als ich noch klein war, mich bei meinen Freundinnen abgeliefert hatte. Die Eltern der Freundinnen hätten gerne einen Kaffee mit ihm getrunken und sich mit ihm unterhalten, aber mein Vater ist immer ganz schnell "geflüchtet", weil er nicht stören wollte.

Um also ein geselliges und abwechslungsreiches Leben zu führen, müssen nicht nur die anderen, sondern muss auch man selbst die Barrieren im Kopf abbauen und, wie das immer so ist, manche haben überhaupt keine Mühe damit, andere müssen hart dafür an sich selbst arbeiten.

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Studien zum Schwerpunktthema

Von Dr. Imke Troltenier

Kontakte und Beziehungen von Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung bzw. die Wahrnehmung von Defiziten bei der sozialen Einbindung wurden in den letzten Jahren auch zu Themen von wissenschaftlichen Studien und Erhebungen. Mit zwei ausgewählten Hinweisen möchten wir Interessierten gern Quellen für weitere Recherchen anbieten.

"Bisher ist wenig darüber bekannt, ob und in welchem Maße sich Einsamkeit auf das Leben von Menschen mit Sehbehinderung auswirkt", stellten die norwegischen Autor*innen Audun Brunes, Marianne B. Hansen und Trond Heir in ihrer Querschnittsstudie "Einsamkeit bei Erwachsenen mit Sehbehinderung: Prävalenz, assoziierte Faktoren und Zusammenhang mit der Lebenszufriedenheit" aus dem Jahr 2019 fest. Sie untersuchten die Häufigkeit des Vorkommens von Einsamkeit anhand von Interviews und Testverfahren. Das Forschungsteam kam zu dem Ergebnis, dass in Norwegen "fast jeder zweite Erwachsene mit Sehbehinderung von mittelschwerer oder schwerer Einsamkeit betroffen ist ..." und dass Menschen mit Blindheit oder Sehbehinderung Einsamkeit in allen Altersgruppen stärker betrifft als die Allgemeinbevölkerung. Arbeitslosigkeit, Mobbing- und Gewalterfahrungen sowie eine geringere Lebenszufriedenheit waren laut der Studie u.a. mit diesen Werten assoziiert.

Abschließend wird auf Studien aus den Niederlanden, Island und Finnland verwiesen, die ähnlich hohe Einsamkeitsraten bei Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung ermittelt haben. Gleichwohl scheint es auch anders möglich, deutlich niedriger lägen diese in den USA und in Kanada.

▶ Einsamkeit bei Erwachsenen mit Sehbehinderung: Prävalenz, assoziierte Faktoren und Zusammenhang mit der Lebenszufriedenheit. Kompass Ophthalmol (2019) 5 (3): 110-117. https://doi.org/10.1159/000502498

Die Teilhabebefragung im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales wurde im März 2022 publiziert. Sie gibt Auskunft über die Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in zentralen Lebensbereichen. Im empirischen Vergleich zu Menschen ohne Beeinträchtigung geht es dabei um Besonderheiten und spezifische Probleme. Die Teilhabebefragung unterscheidet nach Personen, die in Privathaushalten bzw. in Wohneinrichtungen und Alten- und Pflegeeinrichtungen leben.

In Kapitel 6 wird unter dem Titel "Selbstbestimmung und soziale Einbindung" u.a. dargestellt, welche Ergebnisse für das Gefühl der gesellschaftlichen Zugehörigkeit ermittelt wurden. Differenziert nach der Art der stärksten Beeinträchtigung zeigt sich, bei welchen Menschen das Gefühl gesellschaftlicher Zugehörigkeit bzw. Ausgeschlossenheit stärker ausgeprägt ist. Demnach sagen 69 Prozent der Personen mit der stärksten Beeinträchtigung im Bereich des Sehens "Ich fühle mich (eher) dazugehörig". Etwas weniger dazugehörig fühlen sich 67 Prozent der Personen mit der stärksten Beeinträchtigung im Bereich des Hörens, während sich Personen mit der stärksten Beeinträchtigung durch psychische oder seelische Probleme mit nur mehr 32 Prozent am stärksten ausgeschlossen fühlen (Befragte hier jeweils aus Privathaushalten).

Für die Befragung in Einrichtungen (Alten- und Pflegeheime, Stationäres Wohnen, Betreutes Wohnen) wurde ein anderer Weg gewählt, die subjektiv wahrgenommene gesellschaftliche Position wurde anschaulich ermittelt. Man zeigte den Befragten das Bild eines Fischschwarms, in dem drei Fische farbig hervorgehoben waren. Die Frage lautete: "Der 'gelbe' Fisch schwimmt mittendrin und gehört dazu. Der 'rote' Fisch gehört zum Schwarm, aber er schwimmt ganz am Rand. Der 'blaue' Fisch schwimmt außerhalb des Schwarms und ist von den anderen ausgeschlossen. Stellen Sie sich vor, Sie wären einer dieser Fische. Welcher dieser Fische sind Sie, wenn Sie an Ihr Leben mit anderen Menschen denken?" "Mittendrin" sah sich insgesamt nur etwas mehr als die Hälfte der Befragten (54 Prozent).

▶ Forschungsbericht 598, Abschlussbericht Repräsentativbefragung zur Teilhabe von Menschen mit Behinderung. infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft GmbH. Bonn, 2022. bundesregierung.de/breg-de/suche/abschlussbericht-repraesentativbefragung-zur-teilhabe-von-menschen-mit-behinderungen-2053322

Bild: Fühlen sich Menschen mit Behinderung gesellschaftlich ausgeschlossen? Interessante Antworten gibt es im "Abschlussbericht Repräsentativbefragung zur Teilhabe von Menschen mit Behinderung". Titelbild des Forschungsberichts.

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Gefangen im Zimmer: Wie Multimorbidität einsam machen kann

Von Isabella Brawata

Ich unterrichte eine 44-jährige Klientin in Brailleschrift. Sie ist schwer krank. Zusätzlich zur Blindheit lebt die Klientin mit schwerem Rheuma, das dazu führt, dass sie häufig starke Schmerzen hat, auf den Rollstuhl angewiesen ist und ihre Hände kaum nutzen kann, und mit Schizophrenie, die ihre Konzentration erheblich beeinträchtigt und in ihr Angst und Trauer auslöst, weil die Stimmen in ihrem Kopf sie beschimpfen oder ihr Dinge erzählen, die sie zutiefst erschüttern.

Die Klientin lebt in einer Einrichtung. Trotz der vielen Einschränkungen ist sie kontaktfreudig, höflich und freundlich. Sie ist in der Einrichtung, in der sie lebt, nicht glücklich, weil sie unter der Einsamkeit und Langeweile leidet. Das Zimmer ist winzig. Daher kann die Klientin im Zimmer nicht allein umherfahren. Der Rollstuhl ist zu groß und zu schwer. Da im Zimmer so wenig Platz ist, stapeln sich ihre Besitztümer in einem Durcheinander, das es ihr unmöglich macht, etwas eigenständig zu finden. Auch kann die Klientin sich oftmals das Gewünschte nicht selbst nehmen, weil sie vieles von ihrem Rollstuhl aus nicht erreichen kann. Wenn sie also einen Kaffee oder Tee trinken möchte, Lust auf ein Stück Schokolade hat oder im Raum einen Duft versprühen möchte - Düfte sind nämlich ihre Leidenschaft - , muss sie um Hilfe bitten. Auch bei allen alltäglichen Verrichtungen wie waschen, anziehen, auf die Toilette gehen ... ist die Klientin auf Unterstützung angewiesen. Das Fenster auf den Balkon lässt sich nicht öffnen, nur kippen, weil alles so zugestellt ist. Dabei ist der Klientin frische Luft sehr wichtig. Am allermeisten leidet sie jedoch daran, dass sie ihr Zimmer nicht allein verlassen kann. Sie ist trotz Rollstuhl vollkommen immobil. Sie kann nicht in den Gemeinschaftsraum, nicht in den Garten, sitzt nur da, auf einer Stelle, und wartet, dass irgendetwas passiert. Aber es passiert sehr wenig.

Als ich den Brailleschriftunterricht aus organisatorischen Gründen auf einen anderen Tag verschieben musste, erfuhr ich, dass die Klientin keine weiteren Termine in der Woche hat. Die Punktschriftschulung ist eigentlich eine Beschäftigungstherapie, denn die Klientin kann die Punkte nicht mehr fühlen, daher stecke ich ihr Wörter und Sätze. Manchmal steckt sie auch selbst etwas und ich überlege mir Wortspiele, um sie geistig zu fördern. Die Klientin weiß, dass die Punktschriftschulung ihr nicht viel bringt, aber sie freut sich trotzdem, wenn ich und meine Arbeitsassistentin kommen. Sie behandelt uns wie ihre Gäste und ist dankbar, dass sie sich mit uns unterhalten kann und von mir Aufgaben bekommt, die sie lösen kann. Denn die übrige Zeit sitzt sie, wie sie selbst berichtet, nur da, von morgens bis abends, die Hände im Schoß, ihren Schmerzen und den verstörenden Stimmen ausgeliefert. Aus Verzweiflung ruft sie ständig nach den Pfleger*innen und Krankenschwestern. Die sind natürlich genervt und sicherlich auch frustriert, denn sie haben keine Zeit, sich mit meiner Klientin zu beschäftigen.

Während die Klientin zu mir und meiner Arbeitsplatzassistenz stets freundlich ist, ist das Verhältnis zwischen ihr und dem Pflegepersonal manchmal recht angespannt. Einmal wollte sie nicht aus dem Bett, als wir kamen, und beschimpfte die Pflegerin, dass sie gemein sei. Die Pflegerin wiederum drohte ihr, dass sie eine Woche keinen Kaffee bekommen würde, wenn sie sich weiter wehren würde, aus dem Bett gehoben zu werden. Ich konnte beide verstehen. Die Klientin wollte sich ihre Autonomie bewahren, die Krankenschwester hatte die Order, sie aus dem Bett zu heben, und keine Zeit, mit ihr zu diskutieren, da sie bestimmt noch viele Aufgaben zu erledigen hatte. Ich habe es häufig erlebt, dass es der Klientin vor dem Unterricht mental oder physisch schlecht ging und dass sie am Ende der Stunde wesentlich besser gelaunt war. Sie weiß selbst, dass ihr Gesellschaft guttut, und wünscht sich sehnlichst eine Alltagsassistenz, die sie regelmäßig besucht und mit ihr etwas unternimmt, mit ihr adaptierte Gesellschaftsspiele spielt, sie spazieren fährt, mit ihr kocht, in ein Café oder in die Kirche geht, denn die Klientin ist sehr gläubig. Aber eine solche Assistenz bekommt sie nicht, obwohl eine Alltagsbegleitung ihre Lebensqualität erheblich verbessern würde. Die Klientin möchte ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft sein, eine Lebensaufgabe haben, arbeiten. Ich weiß nicht, ob sie mit Unterstützung Psychologie studieren oder sich in der Telefonseelsorge engagieren könnte. Das ist ihr Traum. Aber die Klientin wäre schon zufrieden, in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen einer Arbeit nachgehen zu können. Welche Tätigkeit ihr trotz des Rheumas in den Händen möglich wäre, weiß ich nicht, aber eine kirchliche Tagesförderstätte, in der sie sich mit anderen Menschen über religiöse Themen austauschen könnte und in der man ihr vielfältige Beschäftigungsmöglichkeiten anbieten könnte, wäre ideal. Ein rollstuhlgerechtes Zimmer, in dem sie sich frei bewegen und alle Gegenstände eigenständig erreichen könnte, würde ihre Situation auch schon deutlich verbessern. Und ein leichterer und wendigerer Rollstuhl, kein starres Sitzmöbel, sondern ein fahrbarer Untersatz, vielleicht ein Elektrorollstuhl, mit dem sie fahren könnte, wohin sie möchte, würde ihre Mobilität erhöhen. Allerdings habe ich gehört, dass blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen aus Sicherheitsgründen keine Elektrorollstühle fahren dürfen, und da ich selbst noch nie in einem Elektrorollstuhl gesessen und ein solches Gefährt nicht gelenkt habe, kann ich nicht beurteilen, ob es überhaupt möglich ist, trotz Blindheit mit einem Elektrorollstuhl unterwegs zu sein.

Ich habe mich an die gesetzliche Betreuung der Klientin gewandt und ihr die traurige Situation der Klientin und ihren Wunsch nach Assistenz, nach Gesellschaft und Beschäftigung geschildert. Die Betreuerin kennt die deprimierende Situation, aber es geht nicht so einfach, diese zu verändern.

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Erkundungen im Beziehungskosmos zwischen blind, sehbehindert und sehend

Von Matthias Klaus

Beziehungen zwischen blinden und sehenden Menschen sind nicht immer so ganz einfach. Es gibt Missverständnisse, falsche Erwartungen, Machtgefälle, Abhängigkeiten und viel Unausgesprochenes. Manchmal ist es allerdings auch nur großartig, Menschen finden sich und passen einfach gut zusammen.

Erfahrungen mit Beziehungen und Kontakt werden regelmäßig in den entsprechenden Gruppen auf Social Media diskutiert. Grund genug für uns, dort mal nachzufragen, wie es denn so ist mit Freundschaften, Kontakt und Beziehungen, wenn der Sehsinn fehlt oder eingeschränkt ist.

Hier drei Statements, eingesammelt in verschiedenen Facebook-Gruppen zu Blindheit und Sehbehinderung.

Daniel Dudek schreibt:

Ich bin 33, geburtsblind und wohne in Osnabrück.

In meiner Kindheit und Jugend war ich sehr viel in Internaten, hatte demzufolge mehr Kontakt zu blinden und sehbehinderten Menschen. Dies war auch nicht schlimm, da die meisten mich verstanden haben, wenn ich zum Beispiel Probleme in Bezug auf meine Blindheit hatte.

Leider verlaufen bei mir viele Freundschaften im Sande, was ich sehr schade finde. Aber ich habe auch einen besten Freund, dieser ist auch blind und wir kennen uns schon seit der Schulzeit.

Ich habe auch versucht, in einem Jugendchor Kontakt zu Sehenden aufzubauen, aber dies hat leider nicht so gut geklappt. Als ich dann vor fünf Jahren umgezogen bin, habe ich dann mal mein Glück bei Ebay Kleinanzeigen versucht. Dort ist nur eine richtige Freundschaft entstanden, die anderen waren alle sehr oberflächlich, oder hatten sich nach dem ersten Treffen erledigt. Eine Person meinte sogar mal zu mir, dass sie sich keine Freundschaft mit mir vorstellen könne, da sie ja immer auf mich aufpassen müsse. Fand ich schon ziemlich komisch, diese Aussage.

Mein Fazit: Ich finde, Freundschaften zu blinden oder sehbehinderten Menschen sind schon viel wert, da man eine "Sprache" spricht. Nichtsdestotrotz möchte ich aber auch weiterhin versuchen, Freundschaften zu sehenden Menschen aufzubauen, da ich ein sehr kontaktfreudiger Mensch bin.

Andrea Eberl hat nicht nur gute Erfahrungen gemacht:

Ich bin von Geburt an blind. Ich habe mir als Kind oder Jugendliche nie darüber Gedanken gemacht, dass meine Blindheit für mich ein Hindernis in Beziehungen darstellen könnte.

Mit 23 Jahren wurde ich allerdings eines Besseren belehrt. Ich hatte mich in einen jungen Mann verknallt, und es schien mir, dass auch er sich in mich verknallt hatte. Es machte mich aber stutzig, dass er mich immer nur dann besuchte, wenn kein Fußballmatch im Fernsehen war, und dass er mich nie zu sich nachhause einlud. Eines Tages trafen wir uns in einer Kneipe, und ich konfrontierte ihn mit meinen Gedanken dazu. Es stellte sich heraus, dass er sich für meine Blindheit schämte und sich nicht getraut hatte, seinen Eltern und Freunden zu erzählen, dass er eine blinde Freundin hat. Er nahm mich dann mit nachhause, und wir hatten deshalb einen Streit, worauf er die Tür abschloss, sodass ich ihm nicht mehr entfliehen konnte. Ich brüllte ihn an, er solle mir sofort ein Taxi rufen. Er tat es. Als ich ins Taxi einstieg, wollte er mitfahren, obwohl klar war, dass ich das nicht wollte. Dann klingelte er mich nächtelang immer wieder aus dem Bett, bis ich ihn ein einziges Mal rein ließ. Als er neben mir auf der Bank in meinem Wohnzimmer saß, blieb mir nichts anderes übrig als ihn zu demütigen, um ein für alle Mal meine Ruhe zu haben. Dieser Mann konnte mit der Niederlage nicht umgehen, die er selbst verursacht hatte.

Daniela Wallace hat lange gesucht, dann kam die Rettung aus dem Weltall.

Ich bin in der ehemaligen DDR aufgewachsen. Von der Vorschule an war ich im Internat untergebracht, nur einen Tag in der Woche zuhause bei den Eltern. Wenn ich dann draußen zum Spielen war, waren die Kinder sehr brutal zu mir, da sie sofort spitzbekommen haben, dass ich schlecht sehen kann. Sie verarschten mich nach Strich und Faden. Der Regelfall war, dass ich dann heulend wieder zu meinen Eltern gegangen bin. In meinem letzten Grundschuljahr zogen meine Eltern nach Weimar, um dort wegen einem Ausreiseantrag näher an der Behörde zu sein. Ich war also "Stadtkind", bin jeden Tag nach Hause gefahren. Hier war es mitunter noch heftiger, dass ich täglich Probleme mit brutalen Kindern hatte. Es war in diesem Sinne keine schöne Kindheit. Mein Kontakt beschränkte sich auf andere schlecht sehende Mitmenschen, Freundschaften gab es zwar, da man aber an verschiedenen Orten wohnte, konnten diese nicht wirklich gut gepflegt werden.

1989 bin ich kurz vor der Grenzöffnung mit meinen Eltern in den Westen gezogen. Ich war dann ein halbes Jahr auf einer normalen Grundschule, was für mich der blanke Horror war. Ständiges Mobbing, Schikanen am laufenden Band, auch mit direkten Nachbarn im Mehrfamilienhaus, in dem wir lebten. Es war nicht schön und ging so weit, dass mich die Nachbarskinder regelmäßig verängstigten, belagerten, belästigten. Opfer! Es ging dann bis zur Klage, dass sie sich mir nicht mehr nähern durften. Zum 2. Halbjahr der vierten Klasse wechselte ich dann auf die Sehbehindertenschule in Köln, die ich bis zur 10. Klasse besuchte. Kontakt mit "normalen" Menschen hatte ich so gut wie keinen, da auch der Konflikt mit den Nachbarskindern alles im Ort sehr schwierig machte. Viele Freundschaften konnten auch hier nicht entstehen, da wir alle mit Taxiunternehmen zur Schule gebracht wurden. Ich hatte zwar Freundinnen, aber eher selten besuchte man sich gegenseitig.

Nach der Hauptschule begann ich dann ein Förderjahr und eine dreijährige Ausbildung zur Bürokraft im BBW Soest. Auch hier wieder war ich nur am Wochenende bei meinen Eltern und hatte nur Kontakt mit Menschen, die sehbehindert oder blind waren. Zwar gab es durch das Internat und später die Hausgemeinschaften auch mehr Kontakt zu "normalen" Menschen, aber nur sporadisch. Auch hier wurde ich oft hintergangen, belogen, getäuscht, und man machte sich über mich lustig. Opfer. Weiterhin. Als ich die Ausbildung abgeschlossen hatte, war ich ein gutes Jahr arbeitslos. Ich verfiel in eine Chatsucht und Internetsucht und verlor mich in Rollenspielen. Dort konnte ich sein, wer ich wollte, Menschen akzeptierten mich so wie ich war.

2001 nahm ich dann ein Bewerbungsgespräch wahr, was eigentlich unweigerlich zur Absage hätte führen müssen. Doch da ich ehrlich war, weil ich mich nicht darauf vorbereitet habe und dies eingestand, gab man mir die Stelle. Seitdem arbeite ich beim Finanzamt, und inzwischen habe ich sogar die Hausmeisterwohnung. Ich fühle mich unter den Kollegen wohl und werde akzeptiert.

Der "Kosmos" der normalen Welt wurde mir jedoch eigentlich auf eine andere Weise eröffnet.

Frisch im Westen, 1989, verliebte ich mich unsterblich in Pille McCoy vom Raumschiff Enterprise. Ich verschlang jede Episode und wurde ein Fan der Serie Star Trek. Da ich aber noch nie viel davon gesehen hatte, war ich der Idee aufgesessen, dass ich den ersten Fanclub der Welt eröffnen wollte. Doch da war so viel mehr! Plötzlich, ich weiß nicht wie, entdeckte ich, dass es in Köln ein Trek Dinner gab. Und da brachten mich meine Eltern dann auch hin. Das erste Mal in meinem Leben wurde ich freundlich begrüßt, in den Arm genommen, ernst genommen, offen und ehrlich behandelt. Ohne Hintergedanken, ohne Ärger, ohne irgendeinen negativen Beigeschmack. Und ich fühlte mich so wohl.

Natürlich haben Trekkies, also Star Trek Fans, einen besonderen Bezug zu Menschen mit Beeinträchtigungen, da Geordi LaForge, der Chefingenieur der USS Enterprise D, ein blinder schwarzer Mann ist. Von daher war es für keinen ein Problem, dass ich schlecht sehen konnte.

Seit dem Besuch des Trek Dinner habe ich auch andere Kontakte mit Fans. Ich gehöre einem Fanclub an, dem Khemorex Klinzhai, treffe regelmäßig Freunde und wir haben schöne Erlebnisse. Gut, auch hier sind wir teilweise weit auseinander, aber wir sehen uns auch online und haben Spaß. Ich habe seitdem viele Conventions besucht, und meine Sehbehinderung ist kein Problem.

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Neuer Kontakt - neue Freunde

Von Wilhelm Gerike

Blicken wir zurück in die Adventszeit 2020: Keine Weihnachtsfeiern, kein Weihnachtsmarkt, und wie wir Weihnachten verbringen würden, wussten wir auch nicht. Eine liebe Freundin lud uns zu einer WhatsApp-Gruppe ein, die den hübschen Namen Weihnachtspost trägt. Gegründet wurde sie vor Jahren von einem aus der Türkei stammenden Mann, der sich für das deutsche Weihnachtsfest interessierte. Als wir dazukamen, war die Gruppe schon heiß gelaufen: Es gab Rezepte, Bastelanleitungen und vor allem Musik, und zwar selbst gemachte. Ich fand in dieser Gruppe Mitschülerinnen und Mitschüler aus meiner Zeit in Hannover wieder, aber vor allem hoch interessante neue Leute.

Die Sängerin

Ich habe ja selbst viel Spaß am Musizieren und insbesondere am Singen. Wenn jemand selbst Musik produziert und eigene Alben in der Weihnachtszeit verschenkt, ist sofort mein Interesse geweckt: "Würdest Du mir deine Alben zugänglich machen?", fragte ich vorsichtig in einer privaten Nachricht an. "Ja klar, schick mir Deine E-Mail-Adresse", kam die Antwort zurück. Und so begann zwischen uns ein wunderbarer Austausch. Wir hatten uns viel zu erzählen, hatten wir doch an unseren Blindenschulen ähnliches erlebt. Im Mai 2022 haben wir uns dann endlich getroffen. Meine Frau und die Sängerin kannten sich schon, ihren Ehemann lernten wir jetzt kennen. Wir merkten sofort, dass wir uns gut verstehen, und haben einen wundervollen Nachmittag gemeinsam verbracht. Wir schicken uns immer noch regelmäßig Nachrichten, in denen es nicht nur um Schweden geht, ein Land, das wir alle sehr mögen.

Die Sportlerin

In der DDR war sie im erweiterten Jugendkader im Schwimmen für die Paralympics. Die Weihnachtspost-Gruppe ermutigte sie, wieder ihre Gitarre in die Hand zu nehmen. Reisen ist auch eine ihrer Leidenschaften. Ihre Reiseberichte sind unglaublich spannend und detailreich. Sie liebt die Musik des leider viel zu früh verstorbenen Liedermachers Gerhard Gundermann. Dessen Musik kennen wir von den Liedertagen, die wir regelmäßig besuchen. Irgendwann hat sie uns überrascht, indem sie uns eine CD eines Musikers schickte, den sie schon lange kennt und schätzt. Wir haben uns spontan im Herbst 2021 miteinander verabredet und mit ihr ein wunderschönes Wochenende in der Nähe von Leipzig verbracht. Eine gemeinsame Freundin, die wir von unseren Chris de Burgh-Konzerten her kennen, konnte spontan zum Nachmittagskaffee am Sonnabend kommen, was uns alle sehr gefreut hat.

Fazit

Wir mussten in der Pandemie-Zeit auf vieles verzichten. Doch diese WhatsApp-Gruppe war für uns jedenfalls ein Gewinn. Vielleicht gibt es ja beim Braille-Festival in Stuttgart Gelegenheit, noch weitere Mitglieder aus WhatsApp-Gruppen zu treffen. Vielleicht wird es der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, wie oben aufgezeigt.

Zum Autor

Wilhelm Gerike ist verheiratet und lebt in Marburg. Er arbeitet seit November 1989 in der Geschäftsstelle des DVBS, wo er für die Erstberatung bei sämtlichen Fragen um die Themen Blindheit, Sehbehinderung und Technik zuständig ist. In seiner Freizeit singt er leidenschaftlich gern.

Bild: Wilhelm Gerike hat kurz geschnittenes dunkles Haar, das an den Schläfen meliert ist, braune Augen und einen Oberlippenbart. Er lächelt. Foto: DVBS

Bild: Wilhelm Gerike hält sein iPhone vor das Ohr, um Nachrichten einer WhatsApp-Gruppe zu hören. Nur sein Ohr, die seitliche Schläfe und ein Teil des Nackenbereichs sind rechts neben dem Nachrichten-Bildschirm des iPhones zu sehen. Foto: DVBS

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Unterschiedliche Wahrnehmungen immer wieder neu denken - Das Miteinanderleben in Partnerschaften zwischen blinden und sehenden Menschen

Von Andrea Katemann

Vor einigen Jahren habe ich mit Melanie, die eigentlich anders heißt, einmal über ihre Beziehung zu ihrem sehenden Mann gesprochen. Damals sagte sie mir u. a., dass es Momente gebe, in denen ihr Mann über blinde Personen sagen würde, dass er die "Welt blinder Menschen" niemals komplett verstehen werde. Dabei, so dachte ich mir damals, kennt er viele Personen, die blind oder sehbehindert sind, und lebt schon einige Zeit mit Melanie zusammen. Wie kann es da sein, dass sie mir solche Aussagen von ihm berichtet?

In der "Welt" blinder und sehbehinderter Menschen existiert die Meinung, dass sich in Partnerschaften mit sehenden Personen die Selbstständigkeit blinder oder hochgradig sehbehinderter Partner*innen nicht aufrechterhalten lässt. So gab es während meiner Schulzeit die Geschichte eines blinden Mannes, der vor seiner Heirat einer sehenden Partnerin der "König unter den Blinden" gewesen sei, viele Dinge, wie das Einnehmen seiner Mahlzeiten, den Gang zum Friseur, seinen Einkauf und sonstige praktische Dinge, alleine gemacht habe. Durch die sehende Partnerin, so erzählte man sich weiter, habe er seine Selbstständigkeit verloren.

Manche blinden Menschen haben mir berichtet, dass entweder sie selbst oder aber ihre Familie gewollt habe, dass sie eine Partnerschaft mit einer sehenden Person eingehen, einerseits nach dem Motto: "Dann bist du versorgt, und dir kann nichts passieren", andererseits empfinden sich manche blinden und sehbehinderten Personen erst dann in der "Welt der Sehenden angekommen", wenn sie eine Partnerschaft mit einer nicht behinderten Person eingehen, sozusagen als Statussymbol.

Wie lernt eine blinde Person einen sehenden Partner oder eine Partnerin kennen, wo doch durch die Blindheit oder durch die Sehbehinderung viele Möglichkeiten der Kontaktaufnahme zu Menschen entfallen? Wie sind also, so frage ich Melanie, sie und ihr Partner überhaupt zusammengekommen? Melanie erläutert, dass sie ihren Mann schon eine ganze Weile gekannt habe, bis sich die beiden irgendwie sympathisch gefunden hätten. Beide hätten diese Sympathie gespürt, und man sei sich langsam nähergekommen, ohne Blickkontakt und ohne Flirt oder sonstige Signale, die optisch auf das Anbahnen einer Beziehung hindeuten. Einige Zeit später beschlossen beide, gemeinsam in einem Haus zusammen leben zu wollen. Ich will wissen, ob Melanie einen blinden oder sehenden Partner gewollt habe, oder ob solche Dinge bei der "Wahl" ihres Partners keine Rolle gespielt haben. Letztlich, so berichtet sie, sei es ihr egal. Sie habe nach Sympathie entschieden. Sie habe vor ihrer jetzigen Ehe drei sehbehinderte Partner gehabt. Mit einem sehenden Partner habe man allerdings einen gewissen "Luxus", denn es habe durchaus Vorteile, dass er ein Auto fahren könne, mal "eben schnell" die Post durchsehen könne, den Ölfleck auf dem Polohemd schnell entdecke, der vom Backen darauf gekommen sei, usw. Das Leben sei ein anderes, nicht schlechter und nicht besser, wenn man einen sehenden Partner habe. Mit einem blinden oder sehbehinderten Partner würde sie andere Urlaubsreisen machen, sie hätten gemeinsam weniger Freiheiten bei der Auswahl der Hotels, und vermutlich würde sie auch in einem Haus leben, das mit dem Bus besser angebunden sei.

Ich versuche mir die Perspektive des sehenden Partners vorzustellen. Empfindet er das, was Melanie als "Freiheit" beschreibt, nicht als recht anstrengend? Schließlich muss er ihr im Hotel beim Frühstück helfen, ihr die Umgebung erklären, damit sie beispielsweise den Weg in das gemeinsame Zimmer oder zur Rezeption findet. Zum Teil, so antwortet Melanie auf meine Nachfrage, sei es für beide Seiten anstrengend. Man stehe an einem Buffet, sie wolle konkret wissen, was es dort gebe, ob das Müsli beispielsweise Früchte habe, woraufhin er dann anmerke, dass er erst mal seine Brille zücken und nachsehen müsse. Daher hätten sie gelernt, dass es für sie beide recht angenehm sei, entweder Campingurlaub zu machen oder in eine Ferienwohnung zu gehen. Dann müsse er zwar einmal mit ihr - und evtl. auch noch in einer fremden Sprache - in einem Supermarkt einkaufen, doch könne sie sich in der Wohnung recht schnell orientieren, und dann funktioniere alles gut. Sie hätten es sich allerdings angewöhnt, etwa einmal im Jahr voneinander getrennte Urlaube zu planen, damit man allen Bedürfnissen gerecht werden könne.

Natürlich hat sich für beide ein gemeinsamer Alltag entwickelt. Wie in beinahe jeder Beziehung gibt es praktische Zuständigkeiten: Der Partner mäht beispielsweise den Rasen und wechselt die Reifen beim Auto, Melanie fühlt sich eher für den Haushalt zuständig. Schon ist man wieder bei der Frage der unterschiedlichen Bedürfnisse angelangt. Dabei ist klar, dass es in jeder Partnerschaft unterschiedliche Lebensvorstellungen, Wahrnehmungen und Bedürfnisse gibt, die miteinander in Einklang gebracht werden müssen. Doch anhand eines ganz praktischen Beispiels erzählt mir Melanie, dass schon beim Kochen die unterschiedlichen Wahrnehmungen von blinden und sehenden Menschen eine Rolle spielen. Sie lege sich ein Brett und ein Messer und Dinge, die ihr sonst bei der Zubereitung von Speisen wichtig seien, immer an eine bestimmte Stelle in der Küche. Manchmal komme dann ihr Mann herein, merke, dass sie momentan weder ein Brett noch ein Messer benötige, und beginne, beides wegzuräumen. Sie merke dieses nicht, suche danach und komme dann darauf, dass beides inzwischen in der Spülmaschine sei. Dabei meine ihr Partner es gar nicht böse. Er denke, dass beides doch nur so "herum liege", und nehme es weg. Schließlich könne es sie doch stören, wenn es herumliege. Die Wortwechsel, die dann entstünden, seien nicht immer nur freundlich, und es komme in solchen und ähnlichen Situationen durchaus zu Konflikten. Sie könne es nicht leiden, wenn sie etwas nicht finde. Könne sie selbst sehen, könne sie eben schneller eingreifen und sagen, dass alles dort liegen bleiben müsse, wo sie es hingelegt habe, da es noch gebraucht werde.

Durch die unterschiedlichen Sinneswahrnehmungen hätten sich bei beiden unterschiedliche Vorstellungen darüber entwickelt, wie man an bestimmte Dinge herangehen müsse. Bei ihr sei eben der Geruchs-, der Tast- und der Gehörsinn anders geschult, ihr Mann habe beispielsweise aus ihrer Sicht keinen besonders guten Geruchssinn. Wie kommt man, so frage ich Melanie, im Alltag mit der soeben geschilderten Situation zurecht, ohne ständig miteinander in handfeste Streitigkeiten zu geraten? Bestimmte Dinge, so erklärt mir Melanie, müsse man eben immer wieder miteinander klären und sich gemeinsam die unterschiedlichen Wahrnehmungen in einer Situation bewusst machen und konstruktive Lösungen finden. Insgesamt, so sagt Melanie weiter, seien blinde Menschen, auf der abstrakten Ebene gesprochen, in der Umsetzung mancher Dinge langsamer als sehende. Sie könne eben eine Sache nicht "mit einem Blick erfassen", sondern müsse eine Situation mit den Händen und mit anderen Sinneskanälen in kleineren Schritten begreifen. Ihr Mann erfasse Situationen über das Sehen sehr schnell und reagiere sofort. Sie allerdings nehme Dinge durch ihr Gehör manchmal eher wahr als er. Beispielsweise sei neulich der Nachbar aus dem Urlaub gekommen, was sie ihrem Mann mitgeteilt habe, woraufhin er verwundert geäußert habe: "Was hörst du denn schon wieder?", davon habe er nichts mitbekommen.

Ist es Melanie ein Bedürfnis, überlege ich, manche Dinge, die für ihren Partner schwierig oder gar nicht nachvollziehbar sind, mit blinden oder sehbehinderten Personen auszutauschen, auch um sich selbst einordnen zu können? Ja, erläutert mir Melanie, dieses sei durchaus der Fall. Natürlich wolle sie sich selbst und ihre jeweiligen Wahrnehmungen einordnen können.

Nun habe ich vieles über unterschiedliche Perspektiven, über den Alltag und über Konflikte, die es gibt, die sich aber konstruktiv miteinander lösen lassen, erfahren. Zuletzt möchte ich noch etwas über das Thema Selbstständigkeit wissen. Hat sich, so frage ich Melanie, dein Verständnis des Begriffes Selbstständigkeit geändert, seit dem Zusammenleben mit einem sehenden Partner? Die Antwort ist aus meiner Sicht erstaunlich klar: Nicht durch ihren sehenden Partner habe sich für sie ihr Verhalten in Bezug auf ihre Selbstständigkeit verändert, sondern durch die Jahre der Corona-Pandemie. Dadurch, dass die Kontakte stark eingeschränkt gewesen seien, sei sie ständig zu Hause gewesen, kaum mit dem Bus gefahren, und verreist seien sie auch weniger. Gerade sei sie dabei, ihre gewohnte Selbstständigkeit wieder zu finden. Langsam fahre sie wieder mehr mit dem Bus, gehe in Restaurants und in Konzerte und unternehme andere Dinge. Ich bedanke mich bei Melanie für die interessanten Einblicke, die sie mir in ihren Alltag gegeben hat, der sich von meinem tatsächlich unterscheidet.

Als alleinlebende Frau muss ich mich mit Konflikten, egal in welcher partnerschaftlichen Konstellation, nicht beschäftigen. Aber die Ausführungen zu dem "Luxus", den man in der beschriebenen Beziehungssituation haben kann, stelle ich mir durchaus angenehm vor. Wünschen sich nicht manche blinde Personen, so frage ich mich, zunächst vor allem wegen dieser "Erleichterungen" engen Kontakt zu sehenden Menschen, und scheitert er dann nicht oftmals aufgrund der Überforderung beider Seiten? Doch scheint es eine Möglichkeit zu sein, miteinander umzugehen, wenn Konflikte ausgetragen, Bedürfnisse angesprochen werden, und man immer wieder neu nach Wegen sucht, dass alle Beteiligten ein Stück ihrer "Welt" in einen gemeinsamen Alltag einbringen können. Ob, wann und inwieweit man einen solchen Weg gehen kann, muss, so denke ich, man immer wieder neu für sich klären.

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Die zehn Gebote auf UN-Konferenzen

Von Michael Herbst

Wer einmal auf dem ehemaligen Schlachthofgelände am East River war, auf dem sich heute das Hauptquartier der Vereinten Nationen befindet, der kann sich der Magie kaum entziehen. Menschen aus bis zu 194 Staaten. Der Staatschef, mit dem man im vom Liftboy gesteuerten Aufzug fährt. Der Kollege aus einem fernen Land, der einem in der Lobby über den Weg läuft. Die zufälligen Bekanntschaften im Vienna Cafe. All das in einer Stadt, von der es heißt, nur 40 % derer, die hier leben, seien tatsächlich New Yorker. Internationaler geht es nicht.

1. Prall gefüllt sei Dein Terminkalender.

Diesmal hat es mich sehr kurzfristig erwischt. Zwei Partnerorganisationen baten um einen Vertreter meines Arbeitgebers auf ihren Side Events. Akkreditierung, Flugbuchung, Hotel und Einreiseformalitäten klappten so eben noch, unser Ältester wollte mich gerne begleiten, und also nehme ich dann doch an der 16. Vertragsstaatenkonferenz (COSP) zur UN-Behindertenrechtskonvention teil. Alleine würde selbst ich das blind nicht tun. Viel zu unübersichtlich sind Stadt und Gebäude.

Viel Zeit zum Vorbereiten habe ich nicht. Zwischen Urlaub und Abflug liegt ein Sonntag, den ich damit zubringe, das Programm zu sichten, mich mit immerhin einem Kollegen zu verabreden und mir aus den über 90 der besagten Side Events diejenigen herauszusuchen, die ich besuchen möchte oder bei denen ich eine aktive Rolle spielen soll. Sogar eine Einladung zu einem Abendempfang trudelt noch ein. Heraus kommt ein diesmal recht entspannter Zeitplan, der Raum für die ein oder andere Stunde am Computer und auch für privates Sightseeing lässt. Übrigens, glaube niemand, die Delegierten der Staaten säßen stur auf der Konferenz. Auch sie entschwinden immer wieder zu anderweitigen Verabredungen, und bisweilen sitzt nur ein Delegierter noch dort, der das Stimmrecht ausübt.

2. Bequem sei Dein Schuhwerk.

Vom Hotel geht es zur U-Bahn, von der U-Bahn zumindest am ersten Tag zum Abholen der Akkreditierung, von dort aus via Sicherheitskontrolle und vorbei an den 194 Fahnen und dem ein oder anderen Kunstwerk ins Gebäude. Je nach Terminplan verlässt man selbiges immer wieder; zum Hochleistungs-E-Mailing im Café um die Ecke, für Treffen zum Mittagessen, zum Bestaunen von Sehenswürdigkeiten. Und abends geht es wieder ins Hotel. Taxifahren ist wegen der dauernden Staus meist sinnlos. Das Geld ist besser in gute Schuhe investiert. Man läuft und läuft und läuft...

3. Dein Pass und Deine Akkreditierung seien stets griffbereit.

Schon vor der Sicherheitskontrolle wird man aufgefordert, seine Dokumente vorzuweisen. Das wiederholt sich beim Betreten von Sitzungen der Staatenvertreter und an manchen Ausgängen. Die UN sind sehr vorsichtig geworden in den letzten Jahren. Je nach Status bekommt man mehrere Pässe, die den Zugang zu unterschiedlichen Sitzungen ermöglichen. Die Wachleute sind freundlich, aber unerbittlich. Wer nicht den richtigen Pass vorweisen kann, kommt nicht vorbei.

4. Groß seien Deine Worte und derer nicht zu viele.

Die COSP ist eine eher kleine Konferenz. 124 Staaten sind diesmal vertreten, 900 Personen angemeldet, und erstmals darf ich im Saal der UN-Generalversammlung auf Beobachterplätzen unten statt auf dem Balkon sitzen.

Ich höre dem UN-Generalsekretär zu und einigen weiteren Offiziellen. Dann haben die Interessensgruppen und die Zivilgesellschaft Gelegenheit zu Statements. Sie müssen vorher beim Konferenzsekretariat angefragt und genehmigt werden. Man darf über alles reden, aber nicht über drei Minuten. Das Mikrofon wird schlicht abgedreht. All das wirkt wie ein Wettbewerb der griffigsten Formulierungen.

5. Dein Pokerface sei ein lächelndes.

Die ersten Beiträge der Staatenvertreter bekomme ich schon nicht mehr mit. Zeit für den ersten Side Event im 1. Untergeschoss des Gebäudes, wo weiland die Konvention ausgehandelt wurde. "Schön Dich zu sehen", schallt es mir entgegen. Luc heißt er und kommt aus Togo. Ja, natürlich erinnere ich mich. Aber woher...? Ach ja, er saß neben mir bei einem Treffen vor vier Jahren in einem Tagungszentrum auf der anderen Seite der 1st Avenue. Erinnerungsfoto. Bis zum nächsten Mal...

6. Dein Antlitz sei Dir stets bewusst.

Ich habe bei diesem Side Event die Rolle des Diskussionsleiters. Doch zunächst gibt es Eröffnungsstatements. Für die Nichtsehenden beschreibt sich der erste Redner kurz selbst. Nette "Teilhabegeste". Aber welche Farbe hat eigentlich meine Krawatte? Bis ich an der Reihe bin, habe ich es herausgefunden. Beschreiben mag mein Sohn mich aber nicht. Vielleicht besser so.

7. Wasser fülle Deinen Rucksack.

Es ist warm im Juni in New York. Inzwischen bekommt man Wasserflaschen wieder durch die Sicherheitskontrolle. Im Gebäude kann man sie an Wasserspendern auffüllen. Die entdecken wir aber erst am letzten Tag. Die Preise in den drei Cafés haben in den letzten Jahren wahrnehmbar angezogen und ähneln denen im UN-Fanshop. So etwas gibt es tatsächlich. Darauf, bei einem Termin in irgendeinem New Yorker Büro etwas zu trinken angeboten zu bekommen, sollte man sich besser nicht verlassen.

8. Dein Arbeitstag klinge bei einem Empfang aus.

Hier gibt es etwas zu trinken. Und zu essen. In diesem Fall sogar schon vor den Reden. Schwierig ist nur das Handhaben von Getränk, Buffetteller und Blindenstock, derweil man gepflegte Konversation macht und endlich den Regierungsvertreter kennenlernt, den man in Berlin offenbar nicht treffen konnte. Doch die Spesenersparnis ist aller Mühen wert. Und manchmal sind auch ganz spannende Reden zu hören.

9. Formvollendet sei dein Begrüßungsritual.

Getränk und Teller muss ich schnell loswerden, als unsere New Yorker Repräsentantin bei den Vereinten Nationen auf mich zukommt. Vertrautere Personen werden auf diesem Terrain mit beinahe überschwänglichen Freudenworten und einer Umarmung begrüßt. Erst haucht man einen Kuss auf die linke Wange des/der jeweils anderen, dann auf die rechte. Ich gestehe, dabei habe ich mich anfänglich etwas unrund bewegt. Aber ein gewisser Übungseffekt ist inzwischen eingetreten.

10. Hab Dein Gastgeschenk stets bei Dir.

Bei einem weiteren Side Event bin ich Diskussionsteilnehmer. Die Veranstaltung läuft gut, und ich lande einige gelungene Redebeiträge, obwohl ich mich mit der Thematik eher nebenbei beschäftige. Das spricht für ein gutes Briefing von den Experten daheim.

Nach der Veranstaltung kommt eine Diskussionsteilnehmerin auf mich zu und überreicht mir einen hübsch verzierten Schal, um mir die Ehre zu erweisen, wie sie sagt. Ich bin gerührt, weiß nicht, was ich sagen soll, und nehme sie spontan in den Arm, ohne mir Gedanken darüber zu machen, ob das in ihrer süd-ostasiatischen Heimat üblich ist. Es scheint nicht falsch zu sein.

Und wo ist mein Geschenk? Wo ist die süße, goldene "Inklusionsschnecke", die uns der Künstler Ottmar Hörl kreiert hat? Im Koffer im Hotel. Wird nachgeschickt.

Zum Autor

Michael Herbst, Jg. 1966, war von 2001 bis 2014 für den DVBS tätig und wechselte dann als Leiter der politischen Arbeit zur Christoffel Blindenmission (CBM) nach Bensheim. Er ist durch Retinitis Pigmentosa (RP) erblindet, verheiratet und hat drei erwachsene Kinder.

Foto: Michael Herbst mit Langstock vor dem UN-Gebäude in New York, die Juni-Sonne brennt. Er hat weißes Haar, trägt eine schwarz getönte Sonnenbrille sowie zum dunkelblauen Anzug mit Krawatte schwarze Schuhe. Foto: privat

Foto: Luc aus Togo schüttelt Michael Herbst in einem Besprechungsraum die Hand. Beide Männer tragen einen dunklen Anzug und Krawatte, die Krawatte von Luc ist rosa. Luc steht mit Hilfe von Krücken, er ist deutlich kleiner als Michael Herbst. In der Ecke im Hintergrund befindet sich ein Bildschirm mit stark vergrößerter Schrift in Gelb auf schwarzem Grund, so dass das Datum 13. Juni 2023 erkennbar ist. Foto: privat

Foto: Nach einem Side Event: Michael Herbst (li) lacht, er hat sein Jackett abgelegt und trägt den gewebten Schal, den ihm Nona aus Osttimor (re) überreicht hat. Sie trägt ein weißes Poloshirt mit der Aufschrift "Misaun Lepra Timor-Leste", hat kinnlanges schwarzes Haar und eine Brille. Foto: privat

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Beruf, Bildung und Wissenschaft

Perspektiven der digitalen Arbeitswelt

Von Christian Axnick

Die agnes@work-Fachtagung am 25. April 2023 in Berlin diskutierte Chancen und Probleme der Berufstätigkeit von Menschen mit Behinderung in der modernen, sich verändernden Arbeitswelt. Die Schwerpunkte lassen sich in den drei Schlagworten benennen: Digitalisierung, neue Arbeitsformen, Weiterbildung.

Hintergrund und Ziel der Tagung

Die Grundlagen für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Arbeitsleben sind in § 164 SGB IX formuliert: "Die Arbeitgeber stellen durch geeignete Maßnahmen sicher, dass in ihren Betrieben und Dienststellen wenigstens die vorgeschriebene Zahl schwerbehinderter Menschen eine möglichst dauerhafte behinderungsgerechte Beschäftigung finden kann."

Aber was sind die geeigneten Maßnahmen? Die Selbsthilfe macht immer wieder die Erfahrung: Obwohl der gesetzliche Rahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben viele Möglichkeiten eröffnet, funktioniert die Umsetzung nicht. So ist der Weg zu Unterstützungsleistungen oft sehr bürokratisch; gesetzliche Vorgaben zur Barrierefreiheit werden vielfach nicht eingehalten.

Aber die Selbsthilfe erhebt hier nicht nur Forderungen, sie bietet Expertise und Hilfestellung. So hat das DVBS-Projekt agnes@work ein Vorgehensmodell für umfassende Unterstützung von sehbeeinträchtigten Beschäftigten am Arbeitsplatz entwickelt und erprobt. Dabei wird nicht ein einzelner Unterstützungsbedarf isoliert betrachtet - etwa die Erfordernisse an digitaler Barrierefreiheit oder die Hilfsmittelnutzung -, sondern die Gesamtsituation an einem konkreten Arbeitsplatz. Das betrifft technische Anpassungen ebenso wie Fragen der Arbeitsorganisation, die Teamstrukturen, Fragen der Weiterbildung, die Bedarfe des Betroffenen und die Anforderungen des Betriebs.

Nachhaltig wirksam werden können die Ergebnisse solcher Projekte aber nur, wenn der politische Wille gegeben ist, die Inklusion im Arbeitsleben voranzubringen. Die Fachtagung sollte daher auch die Politik ansprechen und einbinden - wir hatten Kerstin Griese, Staatssekretärin beim Bundesminister für Arbeit und Soziales, und Jürgen Dusel, den Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, eingeladen.

Statements aus der Politik

Kerstin Griese ging in ihrem Grußwort ausführlich auf den aktuell vorliegenden Gesetzentwurf der Regierungskoalition zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts ein. Ziel sei es, durch zielgenauere Unterstützung mehr schwerbehinderten Menschen den Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt zu öffnen. Kernstück sei die Einführung einer vierten Staffel der Ausgleichsabgabe, mit der auf die 45.000 Unternehmen in der Bundesrepublik eingewirkt werden soll, die bisher keinen einzigen schwerbehinderten Menschen beschäftigen.

Jürgen Dusel ging auf einige Kritikpunkte an dem Entwurf ein: Zwar könne aus der Einführung einer vierten Staffel der Ausgleichsabgabe eine Motivation entstehen, schwerbehinderte Menschen einzustellen. Es sei aber ein falsches Signal, den Tatbestand der Ordnungswidrigkeit, aufgrund dessen Bußgelder bei schuldhafter Nichterfüllung der Beschäftigungspflicht verhängt werden können, zu streichen. Besser sei es, mit der Durchführung der Bußgeldverfahren nicht wie bisher die Bundesagentur für Arbeit (BA), sondern den Zoll zu betrauen.

Vorträge, Diskussionen, Arbeitsgruppen

Auch Professor Jan Paul Heisig vom Wissenschaftszentrum Berlin warf in seinem einleitenden Vortrag zu Beschäftigungsperspektiven von Menschen mit Behinderungen die Frage auf, ob allein der Markt für Lösungen sorgen könne oder ob Regelungsbedarf bestehe. Er betonte die Notwendigkeit der Evaluation von Maßnahmen zur Förderung der Teilhabe. Hintergrund seiner Ausführungen waren die repräsentativen Ergebnisse der Erhebungen zur Lebens- und Beschäftigungssituation von Menschen mit Behinderungen (1). Sie zeigten zum einen, welche Chancen auf gesellschaftliche und berufliche Teilhabe für Menschen mit Behinderungen aufgrund veränderter Arbeitsweisen und der Digitalisierung bestehen, aber auch welche Nachteile gegenüber der Gruppe der Nichtbehinderten in Kauf genommen werden müssen, etwa bei der Beschäftigungssituation oder der Weiterbildungsbeteiligung. Darüber hinaus erlauben die Daten auch spezifische Einblicke bezogen auf die gesellschaftliche und berufliche Teilhabe nach Art der Behinderung, etwa im Hinblick auf den Personenkreis in Einrichtungen.

Der Widerspruch von Chancen und Problemen war ein durchgängiges Motiv der Tagung, das immer wieder in verschiedenen Zusammenhängen in den Themen der Arbeitsgruppen zu Barrierefreiheit, Neuen Arbeitsformen, Weiterbildung und Beschäftigungsperspektiven auftauchte.

Barrierefreiheit

Auf der einen Seite bietet die Digitalisierung gerade blinden und sehbehinderten Berufstätigen viele Möglichkeiten. Sinnvoll organisiert, kann sie dazu führen, dass fast alle Informationen in maschinenlesbarer Form vorliegen, wodurch sie mit geringem Aufwand barrierefrei aufbereitet werden können. Andererseits macht sie Hilfsmittelanpassungen in immer kürzeren Abständen erforderlich, und immer wieder schränkt mangelnde Barrierefreiheit die Eigenständigkeit von schwerbehinderten Beschäftigten ein. Aber auch dann, wenn Digitalisierung mit Barrierefreiheit einhergeht, schafft dies nicht zwangsläufig Autonomie, sondern erfordert auch Eigenverantwortung. Die eigene Hilfsmittelkompetenz muss entwickelt werden - das erfordert auch die Möglichkeit, sich adäquat fort- und weiterzubilden.

Die Herstellung von Barrierefreiheit verursacht Kosten; umso mehr, je später in der Entwicklung einer Software, einer Webseite oder eines Dokuments damit begonnen wird. Wie viel Barrierefreiheit kosten darf, ist dabei oft eine unternehmenspolitische Entscheidung. Teils wird ohne Rücksicht auf Barrierefreiheit immer die billigste Lösung eingekauft, teils wird nachgebessert, egal, was es kostet. Wichtig ist, nicht zu perfektionistisch an die Sache heranzugehen. Eine gute und offene Fehlerkultur führt weiter.

Digitalisierung kann den Assistenzbedarf reduzieren, macht Arbeitsassistenz aber nicht automatisch überflüssig. Durch barrierebehaftete Arbeitsmittel kann der Assistenzbedarf in einigen Fällen sogar steigen. Wenn Assistenz nicht geregelt ist, geht sie oft in die Verantwortlichkeit hilfsbereiter Kolleg*innen über. Die Tatsache, dass diese sich in der Pflicht sehen, technische Barrierefreiheitsmängel durch ihren persönlichen Einsatz auszugleichen, kann zu sozialen Spannungen führen. Darum müssen solche Konfliktsituationen offen angesprochen werden. Formell oder informell organisierte Assistenz darf für Vorgesetzte kein Argument sein, sich nicht um die Beseitigung technischer Barrieren zu kümmern.

Neue Arbeitsformen

Es ist keine neue Erfahrung, dass die technische Entwicklung die Arbeitsformen bestimmt und die Arbeitsschutzanforderungen im Nachgang durchgesetzt werden müssen. In den von der Digitalisierung geprägten neuen Arbeitsformen können Agilität und Flexibilisierung einerseits den Zugang zu Arbeit erleichtern und zu größerer Eigenständigkeit führen, andererseits vergrößert sich der Druck und es entsteht die Angst, von relevanter Arbeit ausgeschlossen zu werden, wenn man sich nicht permanent neue Arbeitstechniken aneignet und Hochleistung liefert.

Darüber hinaus wird von den Beschäftigten oft verlangt, in gleichem Maße in "alten" und "neuen" Strukturen arbeiten zu können, da keine Firma völlig agil arbeitet - es gibt immer wieder auch Tätigkeiten, die linear ablaufen und nicht dynamisch angelegt werden können.

Wie also können Chancen genutzt, Risiken und negative Folgen vermieden werden? Die Umgestaltung darf sich nicht an technisch-digitaler Logik orientieren. Sie muss unter Einbeziehung der Beschäftigten erfolgen; dabei müssen Mensch, Technik und Arbeitsorganisation im Zusammenhang betrachtet werden. Gerade für die Belange schwerbehinderter Menschen sind in den Betrieben Multiplikatoren nötig, und es müssen auch überbetriebliche Unterstützungsstrukturen aufgebaut werden. Es wurde auch auf die Notwendigkeit ordnungspolitischer Maßnahmen hingewiesen.

Weiterbildung und berufliche Entwicklung

Lebenslanges Lernen kann zur beruflichen wie persönlichen Entwicklung beitragen - andererseits bauen ständige Qualifizierungsanforderungen Druck auf, und wiederum wird die Teilhabe von sehbeeinträchtigten Berufstätigen an Weiterbildungen durch vielfältige Barrieren erschwert. Dieses Thema muss in die Betriebe getragen werden, entsprechende Schulungen für Betriebs- und Personalräte sind nötig. Prüfstellen müssen für den Umgang mit behinderten Menschen qualifiziert werden - es geht um Sensibilisierung, nicht nur um Nachteilsausgleiche.

Wichtig ist die Möglichkeit, an allgemeinen, nicht behindertenspezifischen Weiterbildungen teilzunehmen - auch, um Kontakte zu knüpfen und Netzwerke aufzubauen.

Die Weiterbildung von Lehrenden im Hinblick auf eine inklusive Didaktik und Methodik ist ein unbedingtes Muss. Sie sollte gleichrangig neben der fachlichen Weiterbildung des Lehr- und Ausbildungspersonals stehen.

Wenn nachträglich versucht wird, vorhandene Angebote inklusiv umzugestalten, steigt der Organisationsaufwand. Deshalb sollte Inklusion von Anfang an mitbedacht werden.

Lebenslanges Lernen ist eine Möglichkeit für den Umgang mit Krisen, wie zum Beispiel der Erfahrung einer Beeinträchtigung. Neben dem rehabilitativen und beruflichen Lernen werden häufig allgemeine Weiterbildungsinteressen wenig beachtet, obwohl sie für die Selbstbestimmung essenzieller Bestandteil sind.

Neue Chancen für Beschäftigung

Eröffnet der absehbare Fachkräftebedarf auch schwerbehinderten Menschen Beschäftigungsperspektiven? Hierzu gab es unterschiedliche Ansichten: Für die einen zeigt die aktuelle Situation der schwerbehinderten Menschen auf dem Arbeitsmarkt, dass sie nicht oder nur wenig vom aktuell hohen Fachkräftebedarf profitieren. Andere sehen in der Digitalisierung und der Entwicklung mobiler und Online-gestützter Arbeit neue Chancen - vor allem, wenn eine hohe fachliche Kompetenz gegeben ist. Dennoch wird es auch unter "guten" Bedingungen besonderer Anstrengungen bedürfen, damit mehr Menschen mit Behinderungen dauerhaft in sinnstiftender Arbeit Beschäftigung finden. Dazu wurden u.a. folgende Erfordernisse herausgestellt:

  • Entwicklung einer inklusiven Beschäftigungs- und Weiterbildungskultur in den Unternehmen durch Good Practice, Beratung, Weiterbildung und finanzielle Anreize
  • Inklusives Coaching von Unternehmen und ihren Teams
  • Barrierefreie Gestaltung des Arbeitsplatzes und -umfelds
  • Abbau bürokratischer Hemmnisse und Zeitverzögerung bei den Nachteilsausgleichen
  • Vernetzung der lokalen und regionalen Unterstützungsakteure, um die Leistungserbringung für die schwerbehinderten Beschäftigten und die Unternehmen zu optimieren.

Ausblick

Die Diskussionen der Tagung haben den umfassenden Ansatz von agnes@work bestätigt: Im Zentrum der Auseinandersetzung um berufliche Teilhabe müssen die Menschen stehen, nicht technische Aspekte - Barrierefreiheit ist eine notwendige, keinesfalls eine hinreichende Bedingung für berufliche Inklusion. Wichtig ist, die soziale Dimension der Barrierefreiheit zu berücksichtigen. Sie ist immer Teil eines komplexen Geflechts - am Arbeitsplatz oder in Bildungsveranstaltungen - und erschöpft sich nicht im Abarbeiten technischer Kriterien.

Alle Beteiligten brauchen Unterstützung durch Aufklärung und Beratung; es braucht Multiplikatoren in den Betrieben ebenso wie überbetriebliche Unterstützungsstrukturen. Dazu gehören allerdings auch Durchsetzungsmechanismen für die bestehenden gesetzlichen Vorgaben.

Es bleibt eine Frage, die uns noch länger beschäftigen wird: Wie überwinden wir den Widerspruch zwischen dem großen Engagement, das immer wieder einzelne Unternehmen oder Bildungsanbieter hinsichtlich der Inklusion zeigen, und dem gleichzeitigen strukturellen Stillstand bei der beruflichen Teilhabe schwerbehinderter Menschen?

Die Beiträge und Präsentationen der Tagung finden Sie auf der Projekt-Webseite (www.agnes-at-work.de) unter Aktuelles - Fachtagung 2023. 

Anmerkung

(1) Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.): Abschlussbericht Repräsentativbefragung zur Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Bonn: März 2022. Internet: https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/Forschungsberichte/fb-598-abschlussbericht-repraesentativumfrage-teilhabe.pdf? [Letzter Zugriff: 16.6.2023] zurück zum Text

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Agiles Arbeiten - "Schlüsselkompetenzen sind von überragender Bedeutung"

Otfrid Altfeld ist Leiter des Zentrums für berufliche Bildung und Ressortleiter focus arbeit - Zentrum für Ausbildung, Umschulung und Arbeitsmarktintegration - der Deutschen Blindenstudienanstalt (blista) in Marburg. agnes@work sprach mit ihm über das Thema agile Arbeit und ihre Auswirkungen auf Beschäftigte mit Seheinschränkung.

Herr Altfeld, der Begriff "agile Arbeit" findet immer größere Verbreitung. Was versteht man darunter?

Unter agiler Arbeit versteht man die Realisierung von Zielen mit nicht von vornherein vorgegebenen Realisierungspfaden. Wechselnde Anforderungen der Kund*innen oder anderer Interessengruppen werden in den laufenden Zielerreichungsprozess eingebaut. Entscheidungen im operativen Prozess werden nicht mehr nur top-down - also von oben nach unten -, sondern auf der operativen Ebene, beispielsweise im Team, getroffen, um die Reaktionsfähigkeit und Flexibilität zu verbessern und den "Flaschenhals" Leitung zu entschärfen. Leitungsfunktionen werden weniger hierarchisch als unterstützend definiert. Leitende wechseln die Rollen von der anweisenden und kontrollierenden Person zur ermöglichenden Person, die die Produktivität des Teams unterstützt.

Was wird damit bezweckt?

Eine bessere Kundenorientierung, bessere Qualität der Produkte, eine höhere Flexibilität der Prozesse sowie Motivation, Identifikation und damit Produktivität der Mitarbeitenden.

Wie sehen die Folgen aus?

Es gibt weniger Routine, weniger vorstrukturierte Abläufe. Arbeit ist weniger ablauf- als zielorientiert ausgerichtet, das Arbeitsergebnis dominiert die Definition der Arbeit zunehmend im Vergleich zur Arbeitszeit.

Welche Risiken bestehen dabei?

Arbeitnehmer*innen werden zunehmend zu "Solution-Workers", die ein Ziel selbst- und teamverantwortlich verfolgen. Arbeit wird mehr ergebnisorientiert als zeitorientiert wahrgenommen. Das kann den Erfolgsdruck erhöhen.

Agiles Arbeiten setzt stark auf visuelle Darstellungen und Werkzeuge, die meist nicht barrierefrei nutzbar sind. Wie können Beschäftigte mit Seheinschränkung dennoch mithalten?

Visualisierung ist kein Privileg agiler Arbeitsweisen und kommt bereits seit längerer Zeit im klassischen, nicht-agilen Projektmanagement und in der Prozessorganisation in Unternehmen vor. Das Thema ist also nicht neu.

Burn-Down-Charts und Kanban-Boards als berühmte Beispiele für agile Tools sind analoge oder digitale Werkzeuge, die bei der Arbeit unterstützen und die Zusammenarbeit organisieren. Leider sind sie nur selten barrierefrei entwickelt. Eine barrierefreie Umsetzung ist aber oft nicht problemlos möglich, weil sie nur selten als Stand-Alone-Software eingesetzt werden, sondern in agile Software oder komplexe Projektmanagement- oder Enterprise-Resource-Planning-Systeme (ERP) wie SAP eingebettet sind.

Wie kann eine Lösung aussehen?

Der Königsweg ist natürlich der Einsatz oder die Entwicklung barrierefreier Systeme, was nur selten rasch gelingen wird. Alternativ kann intensive Kommunikation mit den sehenden Kolleg*innen oder der Einsatz einer Arbeitsplatzassistenz Informationslücken überbrücken. Natürlich kann das zu informellen Abhängigkeiten führen, denen Sehende nicht oder in geringerem Maße ausgesetzt sind. Zugleich sind damit hohe Anforderungen an die von Blindheit oder Sehbehinderung betroffenen Mitarbeiter*innen hinsichtlich ihrer kommunikativen Kompetenzen oder Führungskompetenzen - etwa beim Einsatz einer Arbeitsplatzassistenz - gefragt.

Aber: Konsequentes Durchführen agiler Konzepte führt fast immer zu einem verbesserten Informationsaustausch, zum Beispiel in täglichen Scrum-Meetings. Nach unserer Erfahrung kann so ein erheblicher Teil der benötigten Informationen barrierefrei bereitgestellt werden.

Und zuletzt: Rückmeldungen unserer Partner haben uns ein wenig überrascht. Die Einbindung von Mitarbeiter*innen mit Seheinschränkung hat etwa dazu geführt, dass Team-Meetings neu konzipiert wurden und man zum Beispiel auf PowerPoint-Präsentationen verzichtet, was auch von sehenden Kolleginnen und Kollegen als Fortschritt wahrgenommen wurde. Die Schaffung inklusiver Arbeitsbedingungen hat hier tatsächlich für alle Beteiligten zu einer Verbesserung der Prozesse geführt.

Wie behandelt die blista das Thema agile Arbeit in ihrer Aus- und Weiterbildung?

Wir bilden nach den Konzepten von Scrum und eduScrum aus. Das sind agile Methoden für die Produktentwicklung und den Kompetenzerwerb. Damit fördern und fordern wir Selbstverantwortung, Bereitschaft zur Kommunikation und Transparenz sowie die Teamkompetenz. Gerade die Schlüsselkompetenzen sind in agilen Umgebungen von überragender Bedeutung und erhalten bei uns eine besondere Aufmerksamkeit. In unserer Übungsfirma com4well, die wir im Jahr 2021 als virtuelles Startup gemeinsam mit den Azubis in den Fachrichtungen E-Commerce und Büromanagement gegründet haben, werden die Kompetenzen dann auf die Probe gestellt.

Wie sieht das konkret aus?

Wir führen klassische betriebliche Prozesse durch, die nicht immer agil sein müssen. Dabei setzen wir visuelle Darstellungen taktil und auditiv um, um inklusive Settings von sehenden Ausbilder*innen und Azubis mit Sehbehinderung oder Blindheit zu schaffen. Wir haben gemeinsam mit Azubis der IT-Berufe ein barrierefreies Kanban-Board entwickelt, das leider noch zu selten operativ eingesetzt wird. Wir entwickeln aktuell einen Virtual-Reality-Raum, in dem visuelle Standards visuell, auditiv und taktil digital hergestellt und nutzbar gemacht werden. So wollen wir eine inklusive Umgebung für die Zusammenarbeit sehender und nicht oder eingeschränkt sehender Kolleg*innen erstellen.

(...)

Eignet sich denn jede Aufgabe für agile Prozesse?

Nein! Trotz des aktuellen Hypes um neue Arbeitsformen: Viele Aufgaben eignen sich nicht für agile Umsetzungsformen. Die meisten Unternehmen arbeiten also nicht ausschließlich agil. Das heißt, die Zusammenarbeit verläuft fast immer zweigleisig: Projekte - Software, Hardware, kaufmännische Entwicklungsprojekte etc. - werden agil durchgeführt. Daneben bleibt aber die klassische nicht-agile Arbeit für den Alltag mitbestimmend. Routine- oder immer wiederkehrende Aufgaben werden außerhalb der agilen Umgebung durchgeführt. Das führt dazu, dass sich die Beschäftigten in beiden Welten auskennen müssen und den Wechsel zwischen den Welten und den damit verbundenen Vorgehensweisen hinbekommen. Dazu gehört auch eine gute Ressourcenplanung, damit die Herausforderungen der einen Tätigkeit nicht negativ auf die andere Tätigkeit wirken. Es geht also um so etwas, das wir als Work-Work-Balance bezeichnen könnten. Außerdem werden die Mitarbeitenden damit konfrontiert, dass sie unterschiedliche Aufgaben mit unterschiedlichen Kolleginnen und Kollegen durchführen. Hier spielt die soziale und vor allem kommunikative Kompetenz eine große Rolle.

Bestehen weitere Herausforderungen?

Eine weitere Herausforderung ist das seit Beginn der Corona-Pandemie als neuer Trend auftauchende Desk-Sharing, das durch den stetigen Wechsel von Präsenz- und Fernarbeit geprägt ist und keine festen Arbeitsplätze mehr kennt. Für Mitarbeitende mit einem hohen Bedarf an Hilfsmitteln ist so etwas natürlich ein Problem. Darauf hat man bei unseren Partnern in der Form reagiert, dass ein bestimmter Anteil der zur Verfügung stehenden Arbeitsplätze mit der erforderlichen Ausstattung versehen und für die Kolleg*innen mit Blindheit oder Sehbehinderung reserviert bleibt.

Bei all dem kann man kritisieren, dass die Kolleginnen und Kollegen mit Sehbeeinträchtigung strukturell nicht so vollständig eingebunden sind wie die sehenden Kolleg*innen und deswegen in einer Sonderstellung verharren. Man kann aber auch positiv bewerten, dass die Organisationen bereit sind, Workarounds, also situativ Lösungen zu entwickeln oder zumindest zuzulassen, die eine produktive Mitarbeit ermöglichen - und das nach unserer Wahrnehmung ziemlich schnell, wertschätzend, kreativ und undogmatisch.

(...)

Wie unterstützt die blista Beschäftigte in agilen Arbeitsprozessen?

Die blista bietet über ihre Beratungs- und Schulungszentren in Marburg und Frankfurt Coachings für Fach- und Führungskräfte mit Blindheit oder Sehbehinderung an, in denen alle Problemstellungen, die mit der konkreten Arbeitssituation verbunden sind, bearbeitet werden können. Das geht von Software-Updates über die Arbeitsorganisation bis hin zur teambezogenen Kommunikation und Karriereplanung. Wir sehen agile Arbeitsprozesse hier als einen Teil der Herausforderung, die die Mitarbeit von Personen mit Sehbeeinträchtigung in Unternehmen mit sich bringt. Grundsätzlich stellen agile Prozesse keine vollkommen neuen Anforderungen an die Mitarbeitenden, sie verschieben aber die Schwerpunkte.

Wir beraten und coachen aber auch Arbeitgeber, Führungskräfte und Teams, um die Zusammenarbeit mit Personen mit Seheinschränkung zu unterstützen, Vorbehalte abzubauen, Chancen zu zeigen und damit die Produktivität divers aufgestellter Arbeitsgruppen zu stärken.

Welche agilen Werkzeuge empfehlen Sie? Welche sind ungeeignet?

Microsoft Teams ist natürlich kein klassisches agiles Werkzeug, repräsentiert aber die am weitesten verbreitete digitale Arbeitsumgebung, die häufig als Kollaborationsplattform in agilen Prozessen eingesetzt wird. Wir setzen es seit Beginn der Pandemie sehr erfolgreich in der Ausbildung und in anderen Angeboten von focus arbeit ein, auch wenn wir seit geraumer Zeit nur noch selten auf Online-Meetings angewiesen sind. MS Teams ist auch für Personen mit Blindheit gut zu bedienen und hat viele Funktionen, die für die Zusammenarbeit sinnvoll genutzt werden können. Hinsichtlich der immer größer werdenden Anzahl von Apps, die im MS Teams-Ökosystem entwickelt werden, fällt es aber schwer, einen Überblick darüber zu bekommen, ob sie barrierefrei sind. Und leider tut sich JAWS offenbar noch immer schwer mit dem in MS Teams integrierten SharePoint, so dass eine gemeinsame Bearbeitung von Office-Dateien für JAWS-Nutzer noch nicht möglich ist.

Gibt es weitere Werkzeuge?

Wir haben für unser agiles Vorgehensmodell Scrum verschiedene Programme und Web-Applikationen mit unterschiedlichem Erfolg getestet, sodass wir zunächst eine Eigenentwicklung vorangetrieben haben, die ein digitales Kanban-Board barrierefrei abbildet. Auf klassische Visualisierungen von Arbeitsfortschritten wie Burn-Down-Charts verzichten wir aktuell aber grundsätzlich.

In einem unserer Evaluierungsprojekte für kommerzielle agile Software schnitt Trello mit Abstand am besten ab, wenngleich hier noch nicht alle Probleme gelöst sind. Andere Tools wie Agilo und Yodiz scheiterten nicht zuletzt wegen der Überfrachtung der grafischen Benutzeroberfläche. Neben bestehenden Barrierefreiheitsproblemen waren sie auch in der Benutzerfreundlichkeit nicht empfehlenswert. Mit Jira haben wir noch keine eigenen Erfahrungen sammeln können, hören aber von Ehemaligen, dass sein Einsatz für Personen mit Sehbeeinträchtigung recht gut funktioniert.

Empfehlen Sie besondere Hilfsmittel bei agilen Prozessen?

Empfehlungen für agile Software für Mitarbeitende mit Seheinschränkung möchte ich hier nicht abgeben, dazu reicht meine Expertise nicht aus. Sehr hilfreich ist die Verwendung von Fibonacci-Zahlen für die Bewertung von Schwierigkeitsgraden der Aufgaben etwa in Scrum. Fibonacci-Zahlen sind jene Zahlenfolge, bei der jede Zahl die Summe der beiden ihr vorangehenden Zahlen darstellt. Das hilft für eine Ersteinschätzung ungemein und bietet eine gute Grundlage für eine Gewichtung der Aufgaben und damit für eine sinnvolle Strukturierung der Prozesse.

Außerdem ist eine barrierefreie, prägnante und verlässliche Dokumentation der Anforderungen und des Arbeitsfortschritts unerlässlich, um zentrale Informationen barrierefrei zur Verfügung zu stellen. Ich empfehle auch hier die Verwendung einer zentralen Applikation wie MS Teams, die Daten und Informationen standortunabhängig - also etwa auch im Homeoffice - zur Verfügung stellt. MS Teams und Trello arbeiten gut zusammen, so dass hier beide Systeme synergetisch genutzt werden können. Bei der Verwendung von cloud-gestützten Systemen wie MS Teams muss jedoch die Kompatibilität mit der Datenschutzgrundverordnung beachtet werden.

(...)

Wie kann ein Projekt wie agnes@work Betroffene und Arbeitgeber beim Thema agile Arbeit unterstützen?

Indem Sie versuchen, Bedenken vor Agilität zu zerstreuen. Agiles Arbeiten kann für die Mitarbeitenden nicht nur mehr Stress bedeuten, sondern vor allem auch mehr Erfüllung durch Verantwortung und mehr Motivation durch den Abschluss von Projekten.

Indem Sie agile Arbeitsweisen praxisbezogen vermitteln. Zielgruppen sollten hier nicht nur die Betroffenen selbst, sondern zugleich auch die Arbeitsplatzassistenzen sein. Hier geht es auch um die Zusammenarbeit im Tandem und um Führungskompetenzen.

Indem Sie Unterstützung bei der Entwicklung kommunikativer Fähigkeiten anbieten.

Indem Sie die Vernetzung der agil Arbeitenden unterstützen. Dazu braucht es kein neues Netzwerk-Tool, sondern es sollten bestehende Angebote wie XING oder LinkedIn genutzt werden, die eine sehr gute Anbindung an andere Netzwerke ermöglichen.

Und indem Sie auf die bestehenden Coaching-Angebote für Beschäftigte und Arbeitgeber hinweisen bzw. sie in Ihre Angebote integrieren.

Herr Altfeld, vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Savo Ivanic, Projekt agnes@work. Es wurde für horus 3/2023 gekürzt und aktualisiert. Die ursprüngliche Version finden Sie auf der Internetseite des Projekts unter https://www.agnes-at-work.de/wissen/hintergrund/interview-agile-arbeit/

Kontakt

agnes@work - Agiles Netzwerk für sehbeeinträchtigte Berufstätige
c/o DVBS e.V.
Frauenbergstraße 8
35039 Marburg
Telefon: 06421 94888-33
E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Internet: www.agnes-at-work.de

Bild: Otfrid Altfeld berichtet im Interview über die Vorteile und Risiken von agiler Arbeit. Er hat kurzes dunkles Haar, dunkle Augen und trägt eine Brille. Portraitfoto vor Feldlandschaft mit Weg. Foto: privat

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Charity oder Empowerment? Wohin geht es mit der Inklusion?

Von Sabriye Tenberken

Durch unsere internationalen Kontakte haben wir die Möglichkeit, Debatten zum Thema Integration und Inklusion in den sog. Entwicklungsländern und in Europa zu verfolgen. Wir wundern uns, dass es immer wieder um die folgenden "Gegensätze" zu gehen scheint: Regelschule = Inklusion und Förderschule = Exklusion. Dabei würden wir uns vielmehr eine kritische Auseinandersetzung über die Diskrepanz von "wohlgemeinter Theorie" und oft undurchdachter Praxis wünschen.

Ich selbst bin blind und daher werde ich mich hauptsächlich auf die Situation der Blinden und Sehbehinderten beziehen. Ich war auf einer Förderschule und bin in der Lage, mein Leben in die Hand zu nehmen, eben weil ich entsprechend gefördert wurde. Mit 12 Jahren entschloss ich mich, einen Integrationsversuch in einer Regelschule abzubrechen und auf das Marburger Gymnasium für Blinde und Sehbehinderte (kurz: blista) zu wechseln. Für mich war das ein Glücksfall.

Was macht die blista zu einer hervorragenden Förderschule?

  • Kleine übersichtliche Klassen
  • Hoch motivierte Lehrkräfte, die durch kreative und interdisziplinäre Unterrichtsansätze die Schüler zum kritischen Denken anregen
  • Unterricht, der die Schüler zu Problemlösungen anregt, der fordert und nicht zu geringe Ansprüche stellt.
  • Ein Medienzentrum, das den Lehrern hilft, naturwissenschaftliche und mathematische Konzepte taktil und akustisch aufzuarbeiten. 
  • Ein umfassender Sportunterricht mit den mannigfaltigsten Angeboten (von Ballspielen über "Risiko-Sport", wie Reiten, Voltigieren,   Kayak-fahren, Skifahren, Windsurfen und Trampolinspringen)   
  • Intensives Training in lebenspraktischen Fertigkeiten, Lesen und Schreiben in Brailleschrift, Mobilität und Orientierung.

Die Mutter eines blinden Kindes kam mal zu mir und sagte: "Mein Sohn ist so begabt, der braucht nicht nach Marburg, er kann auf eine Regelschule." Ich habe dann mal nachgefragt, wie das denn im Sportunterricht oder in naturwissenschaftlichen Fächern liefe. Und da wurde sie ein wenig nachdenklich. Der blinde Sohn aber, der bis dahin nicht viel gesagt hatte, wurde lebendig und meinte, dass Sport langweilig sei und Mathe und Naturwissenschaften nicht so sein Ding seien. Das mag sein. Viele sehende Kinder mögen das ähnlich sehen. Die Frage ist nur, ist es ihm vielleicht langweilig, weil er nicht entsprechend darin gefördert werden kann?

Wir treffen auf unseren Vortragsreisen in Deutschland oft auf Lehrer und Sonderpädagogen, die der Inklusion aus eigener Erfahrung kritisch gegenüberstehen und auf blinde Schülerinnen und Schüler, die sich von der Inklusions-Euphorie ihrer Eltern nicht haben anstecken lassen. Warum nicht? Vielleicht weil es bei vielen Inklusions-Versuchen zwar um wohlgemeinte karitative Maßnahmen, aber nicht um wirkliche Förderung geht?

Was bedeutet "Inklusion" eigentlich?

Man kann zwischen der ursprünglichen lateinischen Wortbedeutung und einer gesellschaftlichen Definition unterscheiden. Gibt man in eine Suchmaschine "Inklusion Bedeutung" ein, stolpert man schnell über eine soziologische Definition. Ich zitiere:

"Als soziologischer Begriff beschreibt das Konzept der Inklusion eine Gesellschaft, in der jeder Mensch akzeptiert wird und gleichberechtigt und selbstbestimmt an dieser teilhaben kann - unabhängig von Geschlecht, Alter oder Herkunft, von Religionszugehörigkeit oder Bildung, von eventuellen Behinderungen oder sonstigen individuellen Merkmalen. ... So auch im Bereich der Bildung. Die inklusive Pädagogik beschreibt einen Ansatz, der im Wesentlichen auf der Wertschätzung der Vielfalt beruht. In einem inklusiven Bildungssystem lernen Menschen mit und ohne Behinderungen von Anfang an gemeinsam. Homogene und damit separierende Lerngruppen werden nicht gebildet. Von der Kindertagesstätte über die Schulen und Hochschulen bis hin zu Einrichtungen der Weiterbildung wird niemand aufgrund einer Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen. Vielmehr ist es die Aufgabe des Bildungssystems, durch Bereitstellen von speziellen Mitteln und Methoden einzelne Lernende besonders zu unterstützen und zu fördern. Nicht das Individuum muss sich also an ein bestimmtes System anpassen, sondern das System muss umgekehrt die Bedürfnisse aller Lernenden berücksichtigen und sich gegebenenfalls anpassen." (Autorin: Andrea Schöb, Juli 2013)

Dies ist eine sehr gute umfassende Beschreibung des Sollzustandes. Betrachten wir aber den Istzustand der Inklusion, so hilft es vielleicht, der ursprünglichen lateinischen Bedeutung "includere" auf den Grund zu gehen:

"Includere" heißt wörtlich übersetzt "einschließen"

Ich kenne diesen Begriff aus der Mineralogie (Einschluss von Fremdsubstanzen) und ich stelle mir jedes Mal, wenn ich das Wort "Inklusion" höre, einen Bernstein mit einem eingeschlossenen Insekt vor; sieht hübsch aus, aber das Insekt ist gefangen und kann sich nicht wirklich einbringen.

Zwar verändern sich Wortbedeutungen durch den Zeitgeist. Aber ich glaube, dass die ursprüngliche Bedeutung eines Wortes eine gewisse Gravitationskraft behält. Das würde in unserem Zusammenhang bedeuten: Einschluss eines blinden Kindes in eine Klassengemeinschaft von Sehenden. Wie wirkt sich das aus?

Unter Leistungsgesichtspunkten scheint Einschluss zu funktionieren. Viele blinde Schüler haben gute Noten, und nicht selten machen sie ihr Abitur an Regelschulen.

Sind aber gute Noten die einzigen Erfolgskriterien? Wie wäre es, wenn man zu den gängigen Erfolgskriterien auch Bildung eines guten Selbstbewusstseins, Fähigkeit Probleme zu lösen, eigenständig Freundschaften zu schließen, mobil zu sein und damit sein Leben selbstständig in die Hand nehmen zu können zählt? Ist es nicht für jeden wichtig, das Gefühl zu haben, gleich unter Gleichen zu sein und sich aktiv einbringen zu können?

Wir stellen uns zurzeit die Frage, ob sich blinde Kinder unter den jetzt gegebenen Bedingungen eigenständig am Integrationsprozess beteiligen können. Wir haben unsere Zweifel. Blinde Schüler aus Regelschulen erzählen uns, dass sie zwar in den meisten Unterrichtsfächern mithalten können, aber oft nicht einbezogen werden, wenn es den Lehrern oder auch Mitschülern zu kompliziert wird. Besonders im Sport, bei sozialen Aktivitäten und im naturwissenschaftlich technischen Bereich werden sie oft außenvor gelassen.

Das führt mich zu einem weiteren Punkt: Education light - "Ausbildung ja, aber bitte ohne Mathe, Technik und Naturwissenschaften."

Es gibt in den Inklusionsschulen sowohl in Deutschland als auch in den sogenannten Entwicklungsländern eine berechtigte Scheu davor, Blinde in Mathematik und natürlich auch in den Naturwissenschaften zu unterrichten.

In unserer Wahlheimat Indien diskutieren wir immer wieder mit blinden Schülern und Pädagogen ein Gesetz, das Blinde und Sehgeschädigte von der achten Klasse an nach Wunsch vom Mathematikunterricht befreit. Übrigens ein Gesetz, das bei den Betroffenen großen Zuspruch erhält. Denn Mathematik, von solchen Lehrern nahegebracht, die niemals gelernt haben, wie man Graphiken taktil aufarbeitet, kann sich nicht inspirierend auf den Schüler auswirken. Und so wird natürlich Mathematik zu einem Fach, das man lieber nicht haben möchte. Dass damit Blinde später nur Sprachen studieren können, sonst aber nichts, nicht einmal Jura, Psychologie oder Informatik, das wird sowohl von den Betroffenen selbst wie auch von den Pädagogen ausgeblendet.

Zugunsten einer scheinbar funktionierenden Inklusion werden schwierige Hürden umschifft, Einschränkungen ignoriert, mit der Folge, dass sie später niemals wirklich kompensiert werden können.

Das, was das Blindengymnasium in Marburg schafft, nämlich durch eigens entwickelte Medien die Schüler umfassend, auch in Mathematik und Naturwissenschaften, auf eine höhere Bildung vorzubereiten, kann man von Regelschulen nicht verlangen. Also konzentriert man sich auch in Deutschland überwiegend auf die "machbaren" Fächer, Sprachen, Sozialwissenschaften, Geschichte usw. Sport für Inklusionsschüler wird in vielen Regelschulen zum unauflösbaren Problem.

Wie könnte es anders und besser laufen? Muss es immer entweder "Exklusion", also "Förderschule", oder "Inklusion", also "Regelschule", sein? Gibt es nicht einen Mittelweg?

Selbstintegration - ein dritter Weg

Während wir im Ausland unsere eigenen Wege suchten, etablierte sich in Amerika und in Europa der Begriff "Inklusion" als Ersatz für "Integration". Wir sind in diesem Punkt traditionell und bleiben bei dem Wort "Integration". Denn bedenkt man die lateinische Wortbedeutung "integrare", kommen wir schnell auf die Begriffe: "einbeziehen", "ergänzen".

Die Wahl zwischen "einschließen" oder "ergänzen" fällt leicht. Denn beim Ergänzen kann ich mich aktiv daran beteiligen, dass meine Integration für alle Beteiligten ergänzend wirkt.

In Tibet haben wir daher das Konzept der "Selbstintegration" entwickelt. Es beruht auf der Annahme, dass wirkliche Integration niemals von außen erzwungen werden kann, sondern von der Person selbst geleistet werden muss.

Die Selbstintegration funktioniert jedoch nur durch eine gute und intensive Förderung. Dazu gehört Training in Kommunikation, selbstständigem Denken, Problemlösen und in Blinden- und Mobilitätstechniken.

Vor wenigen Jahren wurde in der tibetischen Autonomen Region ein Gesetz verabschiedet, für das wir mehr als zehn Jahre gekämpft hatten. Es besagt, dass körperlich behinderte und blinde Kinder nach Wunsch der Betroffenen in Regelschulen aufgenommen werden müssen. Ein Grund zum Feiern, denn bisher wurden Kinder sogar mit jeder Art körperlicher Behinderung vom Unterricht ausgeschlossen. Eigentlich absurd, denn warum soll ein Kind mit einer Körperbehinderung - wir hatten z.B. den Fall eines kleinwüchsigen Mädchens - nicht gleichwertig am Unterricht teilnehmen können? Die einzigen Kinder mit Behinderungen, die bis dahin in Tibet in Regelschulen gesichtet wurden, waren unsere blinden Schüler, die wir ohne Gesetz, zunächst auf Probe, den Regelschulen nahezu aufgeschwätzt hatten.

Der Erfolg dieser "gesetzlosen" Integration war mit ausschlaggebend für den neuen Entscheid. Die Leichtigkeit, mit der sich unsere blinden Kinder im Unterricht einbrachten, gute Noten erzielten und Freundschaften schlossen, überzeugte die Lehrkräfte und Schulleiter davon, dass sich ein blindes Kind ohne Spezialbetreuung in den Schulalltag selbst integrieren und darüber hinaus den Unterricht und das soziale Miteinander erheblich bereichern kann.

Ist nun ein Gesetz, das auf diesen positiven Erfahrungen beruht, ein Grund zum Feiern? Für körperlich Behinderte ja, für Blinde nein. Denn ein solches Gesetz gibt nicht darüber Auskunft, wie es bei den Blinden zu diesem Erfolg kommen kann. Es verschleiert den Hindernis-Parcours, der genommen werden muss, wenn eine gelungene Integration von blinden und sehgeschädigten Kindern erzielt werden soll.

Was ist aber eine gelungene Integration?

Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass es nur ein entsprechendes Gesetz braucht, um die Integration des blinden Kindes einzuleiten. Denn ein blindes Kind ist in einer Klasse mit sehenden Kindern nicht ohne weiteres integriert, es erzielt nicht automatisch gute Noten und verbreitet auch nicht naturgemäß nur Freude.

Der Mangel eines so wichtigen Sinnes, wie der des Sehens, kann durchaus eine erhebliche Einschränkung in vielen Lebenslagen darstellen. In folgenden Bereichen müssen große Hindernisse überwunden werden:

Ausgrenzung im sozialen Miteinander:

Blindheit gilt in Tibet als Strafe für eine schlechte Tat in einem vergangenen Leben. Menschen schämen sich oft für ihre blinden Familien-Angehörigen. Wir hatten Schüler, die viele Jahre vor der Gesellschaft versteckt wurden und erst in unserer Einrichtung mühsam Sprechen, Laufen oder Treppensteigen lernen mussten. Viele unserer Kinder wurden von sehenden Gleichaltrigen mit Steinen beworfen oder sogar von Erwachsenen mit "Shargo" beschimpft. "Shargo" bedeutet "Blinder Tölpel", und dieses Wort sagt eine ganze Menge über die Einstellung der Bevölkerung zu Blinden aus.

Keine oder geringe Erwartungen an ein blindes Kind in schulischer Ausbildung:

Blinde galten in Tibet nicht als förderungswürdig, denn wie soll ein Mensch ohne Sehsinn Sinnvolles zur Gesellschaftsentwicklung beitragen können? Wir wurden auch schon von internationalen Entwicklungshelfern angesprochen, warum wir auf die Alphabetisierung und auf eine akademische Ausbildung bei Blinden so viel Wert legten, wenn noch nicht einmal alle Sehenden in Tibet lesen und schreiben können. Die Antwort darauf erübrigt sich.

Mangel an Mobilität und lebenspraktischen Fertigkeiten:

Die Welt ist für Sehende gemacht. Für Blinde ist deshalb nichts offensichtlich oder unmittelbar einsehbar. Daher sind sie zunächst einmal ausschließlich auf fremde Hilfe angewiesen. Sie müssen geführt werden und sie brauchen zum Beispiel auch beim Einkaufen eine Begleitung.

All dies sind klare Hindernisse auf dem Weg zur Integration. Was muss also getan werden, um sie erfolgreich zu überwinden? Man kann natürlich alle Hindernisse umgehen und mit entsprechenden Hilfestellungen freie Fahrt für den blinden Schüler schaffen.

Wir setzen dagegen eine praktische Vorbereitung, die sie instand setzt, eigenständig Hindernisse zu überwinden, also "Selbstintegration".

Dahinter steht die Auffassung, dass Integration nicht von außen, also von Lehrern oder Familienangehörigen gesteuert werden kann, sondern dass wirkliche Integration vom blinden Kind selbst in Angriff genommen werden muss. Somit fokussieren wir uns nicht auf das Umfeld, auf Eltern und Lehrer, sondern ausschließlich auf die Befähigung (Empowerment) des blinden Kindes. In Tibet nahmen wir dafür die Kinder für 1 bis 3 Jahre aus den Familien und bereiteten sie intensiv in allen nötigen Fertigkeiten auf ein Leben in der Regelschule vor.

Was sind die wichtigen Fertigkeiten, die unsere blinden Kinder beherrschen müssen?

  • Zunächst natürlich Blindentechniken: Lesen und Schreiben der Braille-Schrift-Systeme. Da sie in den Regelschulen in drei Sprachen, in Tibetisch, Chinesisch und Englisch, unterrichtet werden, müssen sie mindestens drei unterschiedliche Braille-Schrift-Ssysteme beherrschen.
  • Und sie müssen in der Lage sein, sich selbstständig, weitgehend ohne fremde Hilfe zu orientieren. Daher bekommen sie ein umfassendes Mobilitätstraining.

Wenn ein blindes Kind fließend lesen und schreiben und sich weitgehend ohne fremde Hilfe orientieren kann, ist schon viel gewonnen. Und doch fehlt etwas Entscheidendes: Es muss den Mut und das Selbstvertrauen haben, auf seine sehenden Mitmenschen zuzugehen und sich nicht kleinkriegen zu lassen.

"Blinder Dummkopf", "Bettler", "Parasit", das sind nur einige der Schimpfworte, denen sich die tibetischen Kinder täglich ausgesetzt sehen. Das blinde Kind muss mehr als alles andere genau darauf vorbereitet werden. Es darf Blindheit nicht mehr als Mangel empfinden, es sollte Blindheit sogar als Chance betrachten können. Es muss sich seiner Fähigkeiten bewusstwerden und darf sich nicht mehr dafür schämen, blind zu sein. Es muss mit Spaß sagen können: "Ja, ich bin blind, na und? Aber ich bin nicht blöd! Ich kann mich konzentrieren, denn ich werde nicht so schnell abgelenkt, und ich kann etwas, was sich sehende Kinder niemals träumen lassen: Ich kann im Dunkeln lesen und schreiben."

Wenn erstmal die "Lästermäuler" gestopft sind, können die Kinder sich ungestört selbst organisieren.

Da es in den Regelschulen keine Blindenpädagogen gibt, haben sie bei uns Methoden gelernt, eigene Probleme zu lösen. Dem ahnungslosen Lehrer erklärten sie, was sie gut alleine ausrichten konnten, und wo sie von Lehrern oder auch Mitschülern Hilfestellungen brauchten. Dabei war es wichtig, dass sie ihre Bedürfnisse, aber auch ihre Möglichkeiten klar kommunizierten. Weil sie natürlicherweise hier und da Hilfe brauchten, war es ausschlaggebend, dass sie nicht nur nehmen, sondern auch etwas zurückgeben können. Und so haben wir dafür gesorgt, dass die Kinder einen Wissensvorsprung in den Sprachen Englisch und Chinesisch bekamen, der ihnen gegenüber ihren Mitschülern eine Verhandlungsbasis verschafft hat, z.B. in der Art: "Du sagst mir, was auf der Tafel steht, und ich helfe dir später bei den Englisch-Hausaufgaben."

Englisch ist ihre Stärke, und manche tibetischen Lehrer nutzten diesen Vorsprung, um sich vor dem Unterricht selbst noch schnell einen Rat zu holen. Andere fühlten sich aber auch in ihrer Ehre gekränkt. So bekam eine Schülerin Punktabzüge, weil ihre Aussprache "zu englisch" sei. Ein anderer Lehrer stritt sich mit unseren Kindern über die Aussprache der westlichen Spezialität "Hambarjar". Als unsere Kinder anmerkten, der Lehrer meine wohl, "Hamburger", erklärte er mürrisch, "You can say either way."

In der Zwischenzeit haben sich mehr als dreihundert blinde und sehgeschädigte Schülerinnen und Schüler in Grundschulen, Mittelschulen und Oberschulen integriert. Viele gehen zur Universität. Einige werden Übersetzer, eine ehemalige Schülerin hat erfolgreich Journalismus studiert, eine andere studiert tibetische Medizin. Viele haben Auszeichnungen für gute Leistungen erhalten, zwei unserer Kinder zählten in ihrem Jahrgang offiziell zu den zehn besten Schülern der ganzen Tibetischen Autonomen Region.

Oft höre ich, das Selbstintegrationskonzept ohne sonderpädagogischen Begleitdienst möge ja vielleicht in Tibet funktionieren, aber in Deutschland sähe das ganz anders aus.

Warum? Eigentlich sind die Grundbedingungen in Tibet sehr viel schwieriger als hier in Deutschland. In deutschen Schulen wird viel mehr als in tibetischem Unterricht Wert auf mündliche Mitarbeit gelegt. Man baut auf Team-Arbeit und Solidarität. Auch die Klassenstärke mit 23 bis 30 Schülern ist überschaubarer als tibetische Klassen mit 40 bis 50 Schülern.

Dann wären doch die Bedingungen für die Selbst-Integration, also Inklusion mit entsprechender Vorbereitung, in deutschen Schulen viel günstiger!

Das Wichtigste sollte doch immer sein, dass die blinden Kinder den Mut haben, Blindheit nicht nur als Mangel, sondern immer auch als Chance für sich und alle Beteiligten wahrzunehmen und damit bereit zu sein, das Abenteuer der Integration einzugehen. Diese Vorbereitungen können gut ausgestattete Förderschulen wie zum Beispiel die blista in Marburg leisten. Wie Thomas Hill, ein selbst blinder Psychologe und ehemaliger blista-Schüler vorschlägt, könnte eine Einrichtung wie zum Beispiel die blista dann zu einem sonderpädagogischen Kompetenz-Zentrum werden. Ich stimme ihm zu: Das Blindengymnasium in Marburg ist nicht nur in Deutschland, sondern weltweit führend, wenn es um die blindengerechte Transformation komplexer Lerninhalte besonders in den Naturwissenschaften geht. 

Die Frage ist nur, ob das deutsche Ausbildungssystem einer erfolgreichen Integration in diesem Sinne entgegenkommt oder ihr entgegensteht.

Kann der von den meisten gewollte Soll-Zustand der Inklusion erreicht werden, solange ausschließlich die Vermittlung des Fachwissens im Mittelpunkt steht und nicht die ganzheitliche Förderung jedes Kindes?

Wir brauchen eine qualitative Veränderung der Ausbildung in allen Bereichen, nur dann wird die Einbeziehung Behinderter als Bereicherung und nicht als karitative Maßnahme verstanden werden.

Zur Autorin

Sabriye Tenberken ist Mit-Gründerin von Braille Ohne Grenzen, Tibet, und des kanthari Instituts, Indien (www.kanthari.ch). Sie ist außerdem Autorin u. a. von "Mein Weg führt nach Tibet" (200), "Mein siebtes Jahr" (2006) und "Die Traumwerkstatt von Kerala: Die Welt verändern - das kann man lernen" (2015).

Foto: Sabriye Tenberken und Paul Kronenberg, während ihres blista-Besuchs in der "Woche des Sehens 2022". blista-Alumna Sabriye Tenberken gründete 2005 gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Paul Kronenberg kanthari international, ein Bildungs- und Trainingsinstitut in Kerala, Indien. Foto: blista

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Recht

Leistungen zur Teilhabe an Bildung gem. § 112 SGB IX für die schulische oder hochschulische Bildung sowie für schulische Berufsausbildungen

Teil II: Systembedingte Ausnahmen im Rahmen der Schulbildung

Von Dr. Michael Richter

Zur Erinnerung: Teil I dieser kleinen Artikelserie (siehe horus 1/2023) befasste sich - kurz gesagt - mit dem 2020 durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) neu eingeführten Leistungsrecht der "Teilhabe an Bildung" (gem. § 112 i.V.m. § 75 SGB IX). Leistungen zu behinderungsbedingt notwendigen Unterstützungsbedarfen im Rahmen der schulischen Bildung (von der Vor- bis zur Hochschule) wurden bereits vor 2020 im Rahmen der Eingliederungshilfe erbracht. Vor der Reform durch das BTHG handelte es sich bei diesen Leistungen jedoch noch um einen Unterfall der Leistungen zur "Teilhabe zum Leben in der Gesellschaft" und war gesetzlich nicht so klarstellend geregelt. Die Erkenntnis, dass Bildung nicht nur schulisch erfolgt, dürfte nicht völlig überraschend sein, und man könnte jetzt meinen, gut, wir beschäftigen uns in diesem zweiten Artikel einfach mit dem Rest, d.h. der nichtschulischen Bildung. Guter Gedanke - aber dann hätten wir uns nicht mit sehr praxisrelevanten Ausnahmen des Sozialrechts und Grenzfällen beschäftigt, was wir aber natürlich nicht versäumen wollen, und deshalb vermutlich auch noch einen III. Teil zum Leistungsrecht in Sachen Bildung in dieser kleinen Serie anfügen müssen.

Befassen wir uns also mit den Ausnahmen, d.h. mit anderen denkbaren Kostenträgern für behinderungsbedingte Bedarfe im Rahmen der Teilhabe an der schulischen Bildung.

1. Gesetzliche Krankenversicherung

An erster Stelle ist hier die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) zu nennen. Hier heißt es in einer richtungsweisenden Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 22.07.2004 (Az.: B 3 KR 13/03 R) im Leitsatz "Eine Krankenkasse hat einen behinderten Schüler einer Sonderschule oder Regelschule nur dann mit einem der Herstellung oder Sicherung seiner Schulfähigkeit dienenden Hilfsmittel auszustatten, wenn er noch der Schulpflicht unterliegt."

Weiterhin führt das BSG dann aus: "Zu den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung seit langer Zeit anerkannten Aufgaben der GKV gehört allerdings die Herstellung und die Sicherung der Schulfähigkeit eines Schülers bzw. der Erwerb einer elementaren Schulausbildung (BSGE 30, 151, 154; BSG SozR 2200 § 182 Nr. 73; BSG SozR 2200 § 182b Nr. 28; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 22 und 40)." Dies ergäbe sich aus der historischen Entwicklung der Hilfsmittelversorgung in der Krankenversicherung, denn die Schulfähigkeit bzw. der Erwerb einer elementaren Schulausbildung seien als allgemeines Grundbedürfnis eines Schülers anerkannt (BSGE 30, 151, 154; 33, 263, 265; BSG SozR 2200 § 182 Nr. 73; BSG SozR 2200 § 182b Nr. 28). Die Schulfähigkeit sei aber nur insoweit als allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens i. S. des § 33 SGB V anzusehen, als es um die Vermittlung von grundlegendem schulischem Allgemeinwissen an Schüler im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht ginge. Die Landesgesetzgeber hätten den Erwerb eines alltagsrelevanten Grundwissens und der für das tägliche Leben notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten mit der bindenden Verpflichtung aller Kinder, die im jeweiligen Bundesland leben, zum Besuch einer Schule angeordnet und gingen davon aus, dass dieses "Grundwissen" in neun, maximal aber zehn Jahren (am Erreichen des Hauptschulabschlusses orientierte Dauer der Schulpflicht) vermittelt wird und erlernbar ist. Wenn die Krankenversicherung dafür einzustehen habe, Behinderten im Wege der medizinischen Rehabilitation die notwendige Kompetenz zur Bewältigung des Alltags zu vermitteln, so müsste sie zwar die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Behinderte das staatlicherseits als Minimum angesehene Maß an Bildung erwerben und die ihnen insoweit auferlegten staatsbürgerlichen Pflichten erfüllen können müssten; darüberhinausgehende Bildungsziele habe sie aber nicht mehr zu fördern. Im Ergebnis ergibt sich also eine Zuständigkeit der gesetzlichen Krankenkassen für Hilfsmittel im Sinne des § 33 SGB V, d.h. für solche Dinge, die speziell zum Ausgleich der Behinderung hergestellt wurden (Herstellerhorizont) und für die Schule gebraucht werden.

2. Gesetzliche Unfallversicherung

Die gesetzliche Unfallversicherung ist ein Leistungsträger im Kontext der schulischen Bildung, der nur äußerst selten für Leistungen zuständig ist. Die Zuständigkeit der gesetzlichen Unfallversicherung ergibt sich immer aus der Regulierung eines bestimmten Unfallgeschehens (vgl. § 2 SGB VII), für Schüler z.B. durch einen Unfall auf dem direkten Weg zur, in oder von der Schule. Die Betroffenen kennen in der Regel über die Anerkennung eines solchen "Unfallgeschehens" diese "Sonderzuständigkeit" und es kommt selten zu Problemen in der Leistungsgewährung, so dass an dieser Stelle keine weiteren Ausführungen erfolgen.

3. BAföG

In der Regel besteht für Menschen mit einer Behinderung im Rahmen des Besuchs einer weiterführenden Schule inkl. Internatsunterbringung auch ein ergänzender Anspruch auf BAföG-Leistungen. Zum Verhältnis von BAföG und Eingliederungshilfe hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 02.12.2009 (Az.: 5 C 33.08) grundlegend festgestellt, dass die auswärtige Unterbringung und Betreuung einer behinderten Auszubildenden in einem Internat im Sinne des § 14a Satz 1 Nr. 1 Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) in einem "unmittelbaren Zusammenhang" mit der Ausbildung stehe, wenn erst sie den Besuch einer der Behinderung der Auszubildenden entsprechenden schulischen Ausbildungsstätte ermöglicht, weil eine solche von der Wohnung der Eltern aus nicht täglich erreichbar sei. Ein nach § 14a Satz 1 Nr. 1 BAföG hinreichender unmittelbarer Zusammenhang zwischen einer Ausbildung und der Internatsunterbringung bestehe dann, wenn ohne die auswärtige Unterbringung eine der Behinderung entsprechende Ausbildungsstätte nicht besucht werden könnte, weil sie vom Wohnort der Eltern aus nicht täglich erreichbar sei, und die Internatsbetreuung nicht ausschließlich oder vorrangig wegen der Art und Schwere einer Behinderung oder sonst zur Sicherung des Erfolges der Teilhabe notwendig wird. Bei einer derart aus Entfernungsgründen erforderlichen auswärtigen Unterbringung entfalle der unmittelbare Zusammenhang mit der Ausbildung nicht schon deswegen, weil die Behinderung für die Wahl der speziellen Ausbildungsstätte maßgebend sei und ohne die Behinderung eine wohnortnahe allgemeine Ausbildungsstätte (hier: gymnasiale Oberstufe an einem allgemeinen Gymnasium) besucht werden könnte. Dem sozialgestaltenden, leistenden Gesetz- oder Verordnungsgeber sei ein weiter Gestaltungsspielraum zuzubilligen, welchem Sozialleistungssystem er die bedarfsgerechte und bedarfsdeckende Hilfeleistung zuordne. Die Sicherung gleichberechtigter Teilhabe behinderter Menschen am Leben in der Gemeinschaft und insbesondere im Bereich der schulischen und beruflichen Bildung habe Bedeutung für alle Leistungsbereiche und sei nicht auf die Leistungen der Eingliederungshilfe im Rahmen der Sozialhilfe beschränkt. Soweit das Ausbildungsförderungsrecht Raum für eine Auslegung lasse, bei der durch die Gewährung von Zusatzleistungen der Ausbildungsförderung besondere Aufwendungen gedeckt werden könnten, die einem Menschen mit Behinderung als Folge der zufälligen - von seiner Behinderung unabhängigen - örtlichen Lage der behinderungsgerechten Ausbildungsstätten entstehen, spricht Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz (GG) dafür, dass dann auch Ausbildungsförderung zu gewähren sei. Damit werde zugleich am besten der in § 1 BAföG zum Ausdruck kommende Grundgedanke verwirklicht, allen jungen Menschen - in gleicher Weise und ohne Rücksicht auf eine Behinderung - den Zugang zu einer den individuellen Fähigkeiten und Neigungen entsprechenden Bildung zu ermöglichen.

Diese Entscheidung führt in der Praxis allerdings nur dazu, dass Schüler ab dem Besuch der Oberstufe für den Besuch einer speziellen Schule inkl. Internat auch BAföG-Leistungen beantragen müssen. In der Regel reichen die BAföG-Leistungen aber nicht aus, die vollständigen Schul- und Internatskosten zu decken, d.h. der Eingliederungshilfeträger vereinnahmt diese Leistungen nur, um seine eigene Belastung zu reduzieren. Da aber ein Anspruch auf diese Leistung besteht, resultiert durch das berechtigte Interesse des Eingliederungshilfeträgers an der möglichen Reduzierung seiner finanziellen Belastung eine Mitwirkungspflicht der Anspruchsberechtigten, d.h. der Aufforderung, einen entsprechenden Antrag auf BAföG-Leistungen zu stellen, sollte nachgekommen werden.

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Aus der Arbeit des DVBS

Verein im Wandel - DVBS-Selbsthilfetage in bewegten Zeiten

Von Werner Wörder in Zusammenarbeit mit Leonore Dreves und Sabrina Schmitz

Endlich - nach fünf Jahren - fanden vom 18. bis zum 20. Mai 2023 wieder die Marburger Selbsthilfetage des DVBS statt. Auf den ersten Blick war alles wie früher: Nach dem Stelldichein am Donnerstagabend trafen sich die Gliederungen unseres DVBS in der blista. Dort gastierte am Abend das Duo Shtetldik. Am Samstag tagte die Mitgliederversammlung mit beinahe so vielen Mitgliedern wie vor fünf Jahren.

Doch in Wirklichkeit war diesmal beinahe alles anders! Dies zeigte sich schon bei der aufwändigen Vorbereitung. "So schwierig und umständlich war es noch nie!", meinte eine verdiente Mitarbeiterin, die schon oft Selbsthilfetage organisiert hatte. So fand das Stelldichein nicht in der blista statt, weil uns kein Caterer am donnerstäglichen Feiertag mit Essen und Trinken versorgen konnte. Zudem öffnete der blista-Hilfsmittel-Shop am Freitag nicht. Am Samstag mussten die Hauptamtlichen wegen der verweigerten Unterstützung des Hausmeisters auf die Ehrenamtlichen zurückgreifen, um den Tagungsraum im Bürgerhaus Cappel für die Mitgliederversammlung herrichten zu können. Auch bei den Aktivitäten der Vereinsgliederungen kam es zu bei früheren Selbsthilfetagen nicht vorstellbaren Veränderungen. So gab es kein Angebot der Fachgruppe Jura.

Und dennoch und trotz alledem waren diese Selbsthilfetage nach Ansicht vieler Besucher*innen ein voller Erfolg! Zum Stelldichein war der neue Geschäftsführer, Elias Knell, als Überraschungsgast geladen worden. Er stellte sich kurz vor und kam dann im Laufe des vergnüglichen Abends mit vielen Mitgliedern unseres Vereins, die ihn als sympathisch und zugewandt erlebten, ins Gespräch. Inzwischen hat er seine Tätigkeit in der Geschäftsstelle unseres DVBS aufgenommen.

Auf reges Interesse stießen am Freitag die für alle Mitglieder offenen Angebote der Fachgruppen Wirtschaft, StAu und MINT. Die Fachgruppe Wirtschaft hatte Thorsten Prenner von der Vermittlungsstelle für schwerbehinderte Akademiker der ZAV für Vortrag und Diskussion gewinnen können. Herr Prenner referierte auch bei der Fachgruppe StAu und ging ausführlich auf Fragen ein. Ganz im Zeichen des Mottos der Selbsthilfetage stand beim Treffen der Fachgruppe MINT die Präsentation eines in Deutschland für die Blindenbildung entwickelten, modernen Grafiklesegerätes, des Tactonom Readers. Der Freitag wurde abgerundet durch den sehr gelungenen Auftritt des Duos Shtetldik, das jiddische und andere Lieder vortrug.

Auf der samstäglichen Mitgliederversammlung stand das Motto der Selbsthilfetage "Verein im Wandel" im Vordergrund. Nach der Corona-Pandemie, in der der DVBS sehr erfolgreich mit Videokonferenzsystemen gearbeitet hatte, ging es um deren Für und Wider. Es nimmt nicht Wunder, dass zunächst technische Fragen wie Vor- und Nachteile von Videokonferenzen im Vergleich zu lange eingeübten Telefon-Chats diskutiert wurden. Vor dem Hintergrund schwindender Bereitschaft, sich etwa für ein Seminar auf eine lange Bahnreise am Wochenende zu begeben, wurden virtuelle und hybride Veranstaltungen in einigen Redebeiträgen favorisiert. Andere Teilnehmer*innen hoben hingegen den Wert von unmittelbaren Begegnungen bei Präsenzveranstaltungen hervor. Nur bei diesen sei der unverzichtbare, informelle Austausch überhaupt möglich. Beklagt wurde die nicht nur in der Selbsthilfe feststellbare Entwicklung, sich nur temporär in Projekten und nicht mehr kontinuierlich zu engagieren. Dies gelte vor allem für Berufstätige und Arbeitssuchende, aber auch für jene, die sich im Studium oder in Ausbildung befänden. Umso mehr freute sich der Vorstand über diejenigen, die zu den Selbsthilfetagen gekommen waren. Als kleine Willkommensgeste erhielten sie vom Vorstand des DVBS ein Dankeschön aus Text und Schokolade.

Obwohl bei der Mitgliederversammlung beinahe so viele Menschen wie bei der letzten in Präsenz im Jahre 2018 waren, stellte sich die Frage:

Quo vadis DVBS?

Vorgeschlagen wurde unter anderem eine sehr sorgfältig vorzubereitende Mitgliederbefragung.

Einstimmigkeit herrschte am Samstag bei der Verabschiedung einer Resolution, die ein Bündel an Maßnahmen zur Novellierung des Behindertengleichstellungsgesetzes des Bundes, des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes und des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes betrifft, um die Teilhabechancen Betroffener dringend zu verbessern (siehe nachfolgender Beitrag).

Wie weiter mit den Selbsthilfetagen?

Die Idee, diese in gewisser Weise neu zu erfinden, nahm während der Selbsthilfetage immer mehr Gestalt an. So wurde überlegt, sie 2025 von Marburg in ein Tagungshotel in das für Bahnreisende viel günstiger gelegene Kassel zu verlagern. Dies käme der steigenden Zahl von Mitgliedern entgegen, die keine blista-Vergangenheit haben und für die Marburg daher fremd ist. Diejenigen, die in alten Zeiten schwelgen wollten, könnten dies auch in Kassel tun.

Doch auch diese Idee muss noch reifen ...

So oder so: Auf zu neuen Ufern!

Bild: Am Podiumstisch: Harald Schoen (o.l.), Werner Wörder (o.r.), Malek Alaamri (u.l.) und Leonore Dreves (u.r.) berichteten während der Mitgliederversammlung am 20. Mai 2023 über die Vereinsarbeit, Mitgliederstatistik und Finanzen. Vorstandsmitglied Sabrina Schmitz (ohne Foto) konnte nicht nach Marburg kommen und hatte ein Grußwort geschickt. Fotocollage: DVBS

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Resolution vom 20. Mai 2023

Der DVBS setzt sich als Selbsthilfeorganisation seit mehr als 100 Jahren für die gleichberechtigte Teilhabe blinder und sehbehinderter Menschen in Ausbildung, Beruf und Gesellschaft ein. Dazu gehören Gesetze, die diesen Anspruch verwirklichen.

Angesichts der Absicht der Bundesregierung, sowohl das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes wie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz zu novellieren, hat die Mitgliederversammlung des DVBS am 20. Mai d.J. die folgende Resolution verabschiedet:

Chancen für mehr Teilhabe nutzen

Behindertengleichstellungs- und Teilhabegesetze sind in der Bundesrepublik seit Längerem in Kraft. Ihre Überarbeitung im Sinne besserer Teilhabechancen für die betroffenen Menschen ist daher dringend erforderlich. Dazu gehört ein ganzes Bündel von Maßnahmen in allen drei Gesetzen, die nach den Vorgaben im Koalitionsvertrag der Bundesregierung neu gestaltet werden sollen.

Entscheidend sind Veränderungen, die den Zugang zu staatlichen Leistungen (insbesondere auch im digitalen Bereich), aber auch zu privat angebotenen Produkten und Dienstleistungen barrierefrei gestalten und damit erleichtern. Dafür müssen die drei genannten Gesetze inhaltlich besser aufeinander abgestimmt und weiter an die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention angeglichen werden.

Des Weiteren fordern wir zur besseren Rechtsdurchsetzung die Hürden zur Anrufung der Gerichte durch gezielte Maßnahmen zu senken, aber auch die außergerichtliche Streitbeilegung auszubauen.

Schließlich bedarf es bei Verstößen gegen zwingende gesetzliche Vorschriften nachhaltiger Sanktionen, ohne die gesetzliche Ge- und Verbote häufig wirkungslos bleiben. Vor allem für sehbehinderte und blinde Menschen in Ausbildung und Beruf, aber auch im Ruhestand ist die Verwirklichung dieser Forderungen eine entscheidende Voraussetzung für ihr berufliches Fortkommen wie für ihre gesellschaftliche Anerkennung. Es darf nicht länger sein, dass ihre tagtäglich aufgewandte Energie in diesen Bereichen auf rechtliche wie tatsächliche Barrieren stößt, die generell oder durch angemessene Vorkehrungen beseitigt werden könnten.

Im Übrigen schließt sich der DVBS den Forderungen und Empfehlungen, wie sie vom Verbandsrat des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes und vom Deutschen Behindertenrat verabschiedet worden sind, inhaltlich an und fordert den Gesetzgeber auf, hier unverzüglich und nachhaltig tätig zu werden.

Die Chancen für ein modernes Behinderten- Antidiskriminierungsrecht dürfen nicht vertan werden.

Bild: DVBS-Logo

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DVBS-Geschäftsführung

Liebe Leserinnen und Leser

ich freue mich, seit dem 1. Juli neuer Geschäftsführer des DVBS sein zu dürfen.

Da Sie in Zukunft öfter von mir hören oder lesen werden, darf ich mich an dieser Stelle vorstellen:

Mein Name ist Elias Knell, in den letzten fünf Jahren habe ich als Persönlicher Referent beim Landeswohlfahrtsverband gearbeitet. Marburg ist mir noch gut aus meiner Studentenzeit bekannt, hier habe ich Politikwissenschaft auf Bachelor und Master studiert. Ich bin verheiratet, lebe in einem kleinen Dorf im Schwalm-Eder-Kreis und habe eine sechsjährige Tochter und einen fast zweijährigen Sohn. Mit mir sind die beiden Kleinen Münsterländer Hunde Dori und Bilbo in die Geschäftsstelle gezogen. Sie schlafen nun tageweise hinter meinem Schreibtisch und erinnern mich daran, dass eine "bewegte Mittagspause" eine gute Idee ist, um die eigene Kreativität und Schaffenskraft zu erhalten.

Ich persönlich und das gesamte Team der Geschäftsstelle freut sich, mit Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, in Kontakt zu kommen. Ihre Eindrücke, Anregungen und Ihr Wissen hilft uns, den Verein lebendig, einflussreich und interessant zu halten und weiterzuentwickeln. Lassen Sie es uns gemeinsam angehen!

Ihr

Elias Knell

Bild: DVBS-Geschäftsführer Elias Knell lächelt offen. Er hat braune Augen, blondes Haar und trägt auf dem Portraitfoto im grünen Außenbereich zum blau karierten Hemd einen grünen Lodenjanker. Foto: Lars Zacharias Video & Audio Design GmbH

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Seminare

Von Christian Axnick

Bisher sind folgende Seminare in der Planung:

Fachgruppe Wirtschaft

Gesprächsführung und Gelassenheit, 2. - 5. November 2023

Fachgruppe Musik

  • Notennetzwerk, 26. - 28. Januar 2024
  • Seminar "Voneinander lernen - miteinander musizieren", 7. - 9. Juni 2024

Interessengruppe Digitale Barrierefreiheit

Die IG plant für Anfang 2024 ein Workshop-Wochenende mit Themen aus den Bereichen der rechtlichen Grundlagen und der technischen Standards der Barrierefreiheit.

Für juristisch Interessierte

Vom 13. - 15. September 2023 wird der DVBS - wie in den vergangenen Jahren auch - mit einem Infostand und Beiträgen zur Barrierefreiheit auf dem Deutschen EDV-Gerichtstag in Saarbrücken vertreten sein, der unter dem Motto "Digitaler Rechtsstaat" in den Räumen der Universität des Saarlandes stattfindet (https://www.edvgt.de/).

Wir freuen uns auf Besucherinnen und Besucher!

Kontakt

Aktuelle Termine unserer Seminare, Telefonchats und Treffen finden Sie auf https://dvbs-online.de/index.php/aktuelles/termine.

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Aus der blista

Neue Beratungsstelle für Menschen mit Taubblindheit und Hörsehbehinderung

Land finanziert hessenweit agierende Beratungsstelle für taubblinde Menschen mit 500.000 Euro.

Der Alltag taubblinder und hörsehbeeinträchtigter Menschen birgt viele Herausforderungen. Um die Unterstützung Betroffener und ihrer Angehörigen weiter auszubauen, finanziert das Land künftig eine hessenweit agierende Beratungsstelle in Trägerschaft der Deutschen Blindenstudienanstalt e.V. (blista). "Nachdem wir in Hessen bereits das Landes-Taubblindengeld eingeführt haben, ist die Beratungsstelle ein weiterer Schritt, um die bedarfsgerechte Versorgung taubblinder und hörsehbehinderter Menschen sicherzustellen und ihre gesellschaftliche Teilhabe maßgeblich zu verbessern. Wir bieten Taubblinden damit Unterstützungsleistungen, mit denen Hessen auch im bundesweiten Vergleich eine Spitzenposition einnimmt", so Sozial- und Integrationsminister Kai Klose. "Mit der blista haben wir einen hochkompetenten Partner an unserer Seite, dessen Expertise und Netzwerke über viele Jahre gewachsen und weit über die Grenzen Hessens hinaus anerkannt sind."

"Ich freue mich sehr, dass uns das Ministerium maßgeblich darin unterstützt, diese wichtige Aufgabe für mehr Teilhabechancen von Menschen mit Taubblindheit und Hörsehbehinderung anzugehen und damit einen weiteren Baustein im hessischen Beratungsangebot realisieren zu können", fügt der Vorstandsvorsitzende der blista, Patrick Temmesfeld, hinzu. Sitz der Beratungsstelle wird das neue Reha-Beratungs- und Schulungszentrum der blista in Frankfurt am Main sein. Neben der Betreuung vor Ort wird auch mobile Beratung angeboten, in deren Rahmen Menschen mit Informationsbedarf zu Hause aufgesucht werden.

"In der neuen Beratungsstelle möchten wir gemeinsam mit den ratsuchenden Menschen und ihren Angehörigen die für sie passenden Angebote finden und sie auf dem Weg zu mehr Selbstbestimmung und Autonomie begleiten", sagt Ute Mölter, Leiterin der Hessischen Beratungsstelle für Menschen mit Taubblindheit und Hörsehbehinderung der blista.

"Unser Ziel ist, taubblinde und hörsehbehinderte Menschen aus der Isolation zu holen", bekräftigt Minister Klose. "Deswegen gestalten wir das Angebot so niedrigschwellig wie möglich, schulen die Beratenden in den wichtigsten Kommunikationstechniken und ziehen bei Bedarf Dolmetschende hinzu. Alle Betroffenen, die Rat suchen, sollen ihn auch erhalten."

In den ersten beiden Jahren fördert das Hessische Ministerium für Soziales und Integration den Aufbau mit insgesamt fast 500.000 Euro. Während dieser Phase sollen wichtige Erkenntnisse über die weitere Ausgestaltung gesammelt und das Angebot verstetigt werden.

Wie geht es weiter? Die nächsten Schritte

Die Hessische Beratungsstelle für Menschen mit Taubblindheit und Hörsehbehinderung befindet sich im Aufbau. Derzeit sucht die blista mit einer Stellenausschreibung zwei Berater*innen, die die neue Beratungsstelle mit Leben füllen. Das neue Team wird künftig vor Ort in Frankfurt, online, am Telefon und auch mobil bei den ratsuchenden Menschen zuhause seine Beratungen anbieten.

Wir informieren Sie gern

Hessische Beratungsstelle für Menschen mit Taubblindheit und Hörsehbehinderung
blista Frankfurt
Mörfelder Landstraße 6-8
60598 Frankfurt am Main.

Sie erreichen uns fußläufig mit 3 Minuten Gehzeit von der S-Bahn-Haltestelle Lokalbahnhof oder vom Südbahnhof aus.

Ihre Ansprechpartnerinnen

Ute Mölter und Amélie Schneider
Telefon: 069 13014838
E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Internet: www.blista.de/tbl-beratungsstelle

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Kostenlose Downloads von 3D-Modellen - blista ist Teil der Entwicklung von www.tactiles.eu

Von Silke Roesler

Die neue Plattform für den Austausch von 3D-Modellen und taktilen Abbildungen ist online und verspricht eine große Hilfe im Schulalltag von Schüler*innen mit Blindheit oder Sehbehinderung.

Knut Büttner, Heike Flach, Jens Flach und Silke Roesler von der Carl-Strehl-Schule haben im Rahmen des EU-Projektes 3D4VIP in den letzten drei Jahren aktiv an ihrer Entwicklung teilgenommen. Unter Federführung des niederländischen Kompetenzzentrums Visio und der fachkundigen Mitwirkung von Sight Scotland, der Schloss-Schule Ilvesheim, der spanischen Organisation AsPAYm und der blista entstand die Internetpräsenz www.tactiles.eu. "Das Ziel war es, eine internationale Plattform zum Austausch von 3D-Modellen und taktilen Abbildungen zu erschaffen, um den Zugang zu dieser hilfreichen Technologie weltweit zu erleichtern", erläutert blista-Lehrer Knut Büttner.

3D-Modelle und tastbare Abbildungen ermöglichen Schüler*innen mit Blindheit oder Sehbehinderung das Verständnis von nicht "greifbaren" Themen wie zum Beispiel biologischen Sachverhalten, chemischen Verbindungen oder geografischen Strukturen. Auch das Verständnis von Zahlenreihen und anderen mathematischen Konzepten wird durch die dreidimensionalen Repräsentationen erheblich erleichtert.

Alle verfügbaren Modelle wurden von Expert*innen aus dem Förderschwerpunkt Sehen entwickelt. Sie sind also nach den besonderen Kriterien designt, die auf die speziellen Bedürfnisse von Schüler*innen mit Blindheit oder Sehbehinderung zugeschnitten sind. Die Website enthält überdies auch Guidelines zu diesen Kriterien, um 3D-Designer*innen zu befähigen, eigene Modelle für den Einsatz im Förderschwerpunkt Sehen zu entwickeln. Blista-Lehrerin Heike Flach, die selbst einige Modelle beigesteuert hat, ergänzt: "Die blista und ihre Partnerinstitutionen laden alle interessierten Pädagog*innen dazu ein, die Plattform auszuprobieren und eigene Modelle zu veröffentlichen."

In Amsterdam wurde tactiles.eu anlässlich der "Visio International Week" am 8. Juni einem internationalen Publikum vorgestellt. In seinem Beitrag präsentierte blista-Lehrer Jens Flach an der Carl-Strehl-Schule entwickelte Unterrichtskonzepte, die es ermöglichen, Schüler*innen am Erstellen von 3D-Modellen zu beteiligen. Diese lassen sich mit einer Programmiersprache über eine einfache Texteingabe konstruieren. So können auch Schüler*innen mit Blindheit ihre eigenen Ideen umsetzen und drucken. Er führt aus: "Wahre Teilhabe geht über das Vermitteln von Lerninhalten anhand von Modellen hinaus. Uns geht es darum, alle am gesamten Prozess zu beteiligen, weil es so viele Anknüpfungspunkte, wie z.B. zum räumlichen Vorstellungsvermögen, Logik und Programmierung gibt. All diese Kompetenzen können durch das Designen trainiert werden."

Das gesamte internationale Projekt-Team hofft, dass möglichst viele Akteur*innen in der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik von der neuen Plattform erfahren und dass sich das Angebot durch neue Modelle stetig erweitert. Für die Zukunft sind beispielsweise auch Webinare geplant und alle beteiligten Expert*innen stehen über die Kontaktfunktion gerne für Rückfragen zur Verfügung. Ein Besuch von www.tactiles.eu lohnt sich immer wieder!

Foto: Jens Flach (links) präsentiert im Rahmen der Vorstellung von www.tactiles.eu Empfehlungen, wie blinde oder sehbehinderte Schüler*innen an der Erstellung von 3D-Modellen beteiligt werden können. Foto: blista

Foto: Fünf Beispiele taktiler Modelle für den Unterricht, z. B. der Entwicklungszyklus eines Schmetterlings und ein Bruchkreis. Foto: blista

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"Toll, alle haben es geschafft!" - Absolvent*innen 2023

"Abi 100" - das ursprünglich ein wenig selbstironisch gemeinte Motto des Abschlussjahrgangs 2023 motivierte zu einer tollen Erfolgsquote: 100 Prozent aller Absolvent*innen des Allgemeinen Gymnasiums sowie der Fachoberschulen der Carl-Strehl-Schule haben in diesem Jahr ihre Prüfungen bestanden.

Entsprechend gut gelaunt und glücklich moderierten Michelle Wosiek und Jakob Borda die Abschlussfeier der Carl-Strehl-Schule am 8. Juli 2023 in der Aula auf dem blistaCampus.

blista-Vorsitzender Patrick Temmesfeld freute sich mit: "Es ist geschafft, ein wichtiger Lebensabschnitt liegt nun hinter Ihnen. Danke, dass wir Sie kennenlernen durften, für die gemeinsame Zeit und die Spuren, die Sie alle hier hinterlassen haben! Sie können sehr stolz sein auf sich und wir alle sind es auch." Er gab den Ausscheidenden abschließend die schöne Weisheit aus "Winnie Puuh", den Geschichten um den Bären aus dem Hundert-Morgen-Wald von Alan Alexander Milne, mit auf den Weg: "Die Dinge, die mich anders machen, sind die Dinge, die mich ausmachen." Er betonte: "Haben Sie den Mut, auf Ihre Weise in die Zukunft zu starten, und lassen Sie uns gerne an Ihrem weiteren Weg teilhaben."

Oberstufenleiterin Silke Roesler erzählte herzlich von den unterschiedlichen Talenten der bunten Gruppe. Sie erinnerte an die vielen gemeinsamen Fahrten und Erlebnisse. Als Notenschnitt habe der Abschlussjahrgang eine 2,4 erreicht. "Toll, alle haben es geschafft!", freute sie sich. Abschließend wünschte sie allen viel Glück und gab ihrer Hoffnung auf ein Wiedersehen bei BOSS-Tagen und Sommerfesten auf dem blistaCampus Ausdruck. Dem schloss sich auch Internatsleiter Daniel Reh gerne an. Er bedankte sich zudem bei den Eltern für ihr Vertrauen und dafür, dass "Sie unsere Arbeit mitgetragen haben".

Musikalisch entführte die Abiturientin Maxima Mania den Saal mit "In a Sentimental Mood" und erhielt für ihren gelungenen Beitrag langanhaltenden Applaus. Sodann trat Lehrer Dr. Tobias Mahnke ans Rednerpult. Nicht in feinem Zwirn, sondern mit Wanderstiefeln, Hut und Rucksack ausgestattet, versorgte er die Anwesenden mit schönsten Anekdoten und lustigen Erinnerungen der gemeinsamen "Reise".

Mit viel Charme und Herzlichkeit bedankten sich die Absolventinnen Hala Mannan und Gamze Demiröz im Namen aller bei allen Lehrkräften persönlich. Ihr Fazit: "Vor vielen Jahren war die erste Verabschiedung von den Eltern unendlich schwierig. Im Rückblick ist die Zeit viel zu schnell vergangen, die uns nun so viele Türen geöffnet hat."

Den abschließenden Höhepunkt der Feier bildeten die großartigen Beiträge von Steve Greiner "Wind of Change" (Gesang und Klavier) sowie "Fields of Gold" vom Leistungskurs Musik. Dazwischen das Wichtigste: Die Absolvent*innen erhielten ihre Zeugnisse unter dem Blitzlichtgewitter der vielen Handys und weithin schallendem Applaus.

Die 19 Absolvent*innen

Gymnasium

Nour Alabbas, Tamara Benndorf, Jonas Lasse Biebricher, Jakob Jonas Borda, Gamze Demiröz, Hannah Gieg, Steve Greiner, Johanna Humburg, Lina-Sophie König, Maxima Mania, Hala Mannan, Kilian Hermann Parzich, Sarah Samadi, Amelie Schwedes, Vanessa Wagner, Luca Andries Wurdak

Fachoberschule (FOS)

Ibtissam Echargui, Steven Schulze, Michelle Wosiek

Geehrt wurden:

Vanessa Wagner für das beste Abitur (1,0) und Tamara Benndorf mit dem Karl-von-Frisch-Preis "VBIO".

Bild: 17 blista-Absolvent*innen haben sich lachend mit ihren gelben Rosen und Zeugnissen auf dem blista-Campus vor der Carl-Strehl-Schule zum Gruppenfoto in der Sonne aufgestellt. Außen rechts und links halten zwei der jungen Männer eine Flagge mit dem regenbogenfarbenen Slogan "#wirsindblista" und "blista-Campus Bildung für alle". Foto: blista

Bild: Absolvent*innen, Lehrkräfte und Gäste hören während der Abschlussfeier gespannt einer Rede zu. Blick von oben in die Aula auf dem blistaCampus. Foto: blista

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Bücher

Hörbuchtipps aus der blista

Von Thorsten Büchner

Hörbücher aus der DBH

Felix Scholz: Tod in Marburg

Emons, Köln, 2022. Bestellnummer: 1573741, Laufzeit: 8 Std. 30 Min.

Frankfurter Griesgram ermittelt mit linkem Weltverbesserer unter Marburger Burschenschaften. Die junge Forscherin Yalda Wegener steht kurz vor einem bedeutenden Durchbruch in der Impfstoffentwicklung. Doch dann wird sie tot in der Lahn aufgefunden, durchbohrt von einem mittelalterlichen Degen. War Industriespionage das Motiv, oder haben sich die ultrarechten Burschenschaften Marburgs an einer alten Widersacherin gerächt? Die beiden nicht ganz freiwillig zusammenarbeitenden Ermittler Momberger und Zassenberg mäandern zwischen Pharmaindustrie und Studentenschaft, um am Ende zu einem überraschenden Ergebnis zu kommen.

Orlando Figes: Eine Geschichte Russlands

Klett-Cotta Verlag, Stuttgart, 2022. Bestellnummer: 1584101, Laufzeit: 15 Std. 36 Min.

In einer packenden Reise durch die Zeit erzählt Orlando Figes, wie die Russen sich selbst erlebten und wie sie sich im Laufe ihrer Geschichte immer wieder neu erfanden: Er ergründet ihre Anfänge als Jäger und Sammler und schildert das Leben der Bauern Russlands im ersten nachchristlichen Jahrtausend. Souverän lässt er die Jahrhunderte der Monarchie und deren Ende Revue passieren - das Zarenreich, den Totalitarismus nach der Oktoberrevolution 1917 und die Perestroika Gorbatschows bis hin zu Wladimir Putins Krieg.

Ashley Audrain: Der Verdacht

Penguin Verlag, München, 2021. Bestellnummer: 1490721, Laufzeit: 9 Std. 18 Min.

Violet ist ein Wunschkind, und Blythe möchte die liebevolle Mutter sein, die ihr selbst so sehr fehlte. Doch als man ihr das Neugeborene in den Arm legt, ist es ihr vollkommen fremd. Je älter Violet wird, desto sicherer ist sie sich, dass das Mädchen nicht nur feindselig ist, sondern ihr Böses will. Alles nur Einbildung? Ihr Ehemann Fox, der seine Tochter von ganzem Herzen liebt, beobachtet seine Frau mit wachsendem Misstrauen, und die einst so glückliche Ehe gerät in eine schwere Krise. Erst mit der Geburt des zweiten Kindes wendet sich scheinbar alles wieder zum Guten. Bis zu jenem Tag, an dem die Tragödie über die Familie hereinbricht - und Blythe sich der Wahrheit stellen muss.

Evan Osnos: Mein wütendes Land. Eine Reise durch die gespaltenen Staaten von Amerika

Suhrkamp Verlag, Berlin, 2022. Bestellnummer: 1584111, Laufzeit: 23 Std. 15 Min.

Nach zehn Jahren als Korrespondent im Nahen Osten und in China zieht Evan Osnos 2013 zurück in die USA. Doch das Land, in das er heimkehrt, ist kaum wiederzuerkennen. Chancengleichheit, Rechtsstaatlichkeit, der Glaube an die Macht der Wahrheit - die fundamentalen Prinzipien der ältesten Demokratie der Welt scheinen ihre Selbstverständlichkeit eingebüßt zu haben. 2016 wird Donald Trump zum Präsidenten gewählt, vier Jahre später stürmen seine Unterstützer das Kapitol. Aus den vereinigten sind die gespaltenen Staaten von Amerika geworden. Evan Osnos hat diese Entwicklungen über Jahre beobachtet. Er versucht zu verstehen und zu erklären: warum im reichen Greenwich an der Ostküste, wo er aufgewachsen ist, aus gemäßigten Konservativen eingefleischte Trump-Anhänger wurden. Wie sich in Clarksburg, West Virginia, wo er seinen ersten Job bei einer Zeitung annahm, die Opioid-Krise zur nationalen Katastrophe ausweiten konnte. Und was die Ursachen sind für den Rassismus, die Waffengewalt und die Ungleichheit in Chicago, wo er selbst zu einem gefragten Journalisten aufstieg. Aus eindringlichen Porträts entsteht eine große Erzählung, die vom 11. September 2001 bis zum 6. Januar 2021 reicht. Der Pulitzer-Preisträger zeichnet nach, wie die USA den moralischen Kompass verloren, der einst aus einer Vereinigung von Staaten die Vereinigten Staaten machte.

Hörbücher zum Schwerpunkt "Kontakte und Beziehungen"

Daniel Schreiber: Allein

Hanser Berlin, Berlin, 2021. Bestellnummer: 1489551, Laufzeit: 4 Std. 27 Min.

Zu keiner Zeit haben so viele Menschen allein gelebt, und nie war elementarer zu spüren, wie brutal das selbstbestimmte Leben in Einsamkeit umschlagen kann. Aber kann man überhaupt glücklich sein allein? Und warum wird in einer Gesellschaft von Individualisten das Alleinleben als schambehaftetes Scheitern wahrgenommen?

Gabriele von Arnim: Das Leben ist ein vorübergehender Zustand

Rowohlt Verlag, Hamburg, 2021. Bestellnummer: 1492351, Laufzeit: 5 Std. 58 Min.

Zehn Jahre lang lebt die Journalistin Gabriele von Arnim mit ihrem Mann in seiner Krankheit. Zwei Schlaganfälle haben ihn zerstört. Er kann nicht richtig sprechen, nicht gehen, nicht lesen, nicht schreiben - und ist doch hellwach im Kopf. Ohne Effekthascherei, empathisch, aber ohne Larmoyanz, reflektiert, mit einer kühlen, doch auch zärtlichen Sprache erzählt Gabriele von Arnim über das Sterben.

Ihr Kontakt zur DBH

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Aus der Braille-Druckerei: Viel LeseLust für Klein und Groß

Von Wencke Gemril und Jochen Schäfer

Wir haben diesmal eine gemischte Literaturauswahl für die Kleinen und Großen, in der sich vieles um Freundschaft, Solidarität, Zusammenhalt, aber auch Liebe und Partnerschaft dreht - passend zum Schwerpunkt - und damit setzen wir unsere Bestseller-Serie fort.

Beginnen wollen wir mit zwei Kinder- und Jugendbüchern:

Hendrikje Balsmeyer/Peter Maffay: Anouk, die nachts auf Reisen geht - Geschichten von Freundschaft, Mut und Fantasie

Silberfisch, Hamburg, 2021. 2 Bände in reformierter Kurz-, 3 in Vollschrift, Bestell-Nr. 6238.

Der bekannte Rockmusiker Peter Maffay legt zusammen mit seiner wesentlich jüngeren Partnerin ein Kinderbuch besonderer Art mit bezaubernden Gutenachtgeschichten vor, das sie ihrer gemeinsamen kleinen Tochter widmen. Anouk ist ein aufgewecktes kleines Mädchen, das nicht gerne schlafen geht, bis sie eines Nachts eine aufregende Entdeckung macht. Sie sieht ein helles Licht, und wenn sie sich ihm nähert, gerät sie plötzlich in andere Welten, erlebt spannende Abenteuer mit gleichaltrigen Kindern und gewinnt diese sehr schnell als neue Freunde, da Anouk sehr hilfsbereit ist. Bei ihren nächtlichen Abenteuern ist Affi, ihr Plüschtier, immer dabei. Wenn sie am nächsten Morgen von ihren Eltern geweckt wird und ihnen von den Abenteuern erzählen will, glauben sie, dass Anouk alles nur geträumt hat - aber ist das so, oder gibt es Beweise dafür, dass es doch wahr ist? In diesem Buch spielen Freundschaft, Solidarität, aber auch Mut und Tapferkeit eine große Rolle. Die Geschichten sollen das Selbstvertrauen von Kindern stärken - ganz nach der Devise: Alle haben Talente, und jedes Ziel ist erreichbar. - In der DBH gibt es das Buch auch auf 2 DAISY-CDs (Bestell-nr. 1542761), in ungekürzter Lesung von Nora Jokhosha - und sogar mit einem Song von Peter Maffay.

Tanya Stewner: Alea Aquarius - Der Ruf des Wassers

Oetinger, Hamburg, 2015. 5 Bände in reformierter Kurz-, 6 in Vollschrift, Bestell-Nr. 6259.

Meeresmagie, Abenteuer und eine wunderbare Freundschaft! Alea fühlt den Sog des Meeres, seit sie denken kann, und doch fürchtet sie es. Denn wenn sie mit Wasser in Berührung käme, könnte es tödlich für sie enden. Das hat Aleas Mutter ihrer Pflegemutter gesagt, bevor sie verschwand. Eines Tages schließt Alea sich den Kindern von der Alpha Cru an, die auf einem Segelboot über die Meere schippern. Bei einem Sturm wird sie über Bord geschleudert. Und danach ist alles anders als vorher. - Wie? Das erfahrt ihr in diesem 1. Band und den weiteren Bänden dieser coolen Meermädchen-Serie, die wir ebenfalls übertragen und vorstellen werden. Ihr könnt euch also schon auf die nächsten Buchtipps freuen, denn dort gibt's nur Kinder- und Jugendbücher.

Es geht jetzt weiter mit Sachliteratur für die Großen.

Gavin Maxwell: Ein Ring aus hellem Wasser - Meine Jahre an Schottlands wilder Westküste

Blessing, München, 2021. 6 Bände in reformierter Kurz-, 8 in Vollschrift, Bestell-Nr. 6275.

Zeitlos und unvergesslich - mit seinen Schilderungen von der dramatischen Schönheit Schottlands und seiner Freundschaft mit den zahmen Fischottern, die er aufzog, schuf Gavin Maxwell 1960 einen Weltbestseller, der literarische Maßstäbe setzte. Das verlassene ehemalige Cottage eines Leuchtturmwärters, die abgelegene Landzunge, umspielt von einem Ring aus hellem Wasser, das Wechselspiel von Einsamkeit und Verbundenheit mit unberührter Natur: Nach sechzig Jahren erscheint dieser Klassiker des Nature Writing erstmals in neuer deutscher Übersetzung. Ein unverstelltes Lebenszeugnis voller lyrischer Leuchtkraft.

Manuel Menrath: Unter dem Nordlicht - Indianer aus Kanada erzählen von ihrem Land

Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2020. 11 Bände in reformierter Kurz-, 15 in Vollschrift (A4-Format, Spiralbindung), Bestell-Nr. 6258

Bären an wilden Flüssen, Ahornsirup, Eishockey, nette Umgangsformen - unser Bild von Kanada ist von Klischees geprägt. Genauso romantisiert ist unsere Vorstellung von Indianern, die immerhin einen Großteil des Landes besiedeln. Doch wie leben sie wirklich? Der Autor machte sich auf in entlegene Gebiete im hohen Norden Kanadas, wo keine Straße hinführt, und traf Cree und Ojibwe in ihren Reservaten - und sie vertrauten ihm, dem Europäer. Sie nahmen ihn mit zu ihren rituellen Festen und zur Jagd, er lebte unter ihnen. Sie erzählten ihm von ihrem Leben und von dem Land, das sich heute "Kanada" nennt und dessen Entstehung für sie mit großem Leid verbunden ist. So erzählten sie u.a. von den Grausamkeiten in den Residential Schools, in denen ihre Kinder in die Gesellschaft der Weißen zwangsassimiliert wurden. Manuel Menraths faszinierendes und tief beeindruckendes Buch berichtet vom Leben derer, die schon seit Jahrtausenden in Kanada leben - und lässt sie selbst zu Wort kommen.

Charlotte Fox Weber: Weißt du, was du wirklich willst?

Knaur, München, 2022. 7 Bände in reformierter Kurz-, 9 in Vollschrift, Bestell-Nr. 6302.

Die Autorin ist Psychotherapeutin und nimmt uns mit in zwölf fiktive Therapiesitzungen. Es geht um unsere wahren Wünsche und um psychologische Lebenshilfe: Wie wir endlich erkennen, was wir wirklich wollen, die richtigen Entscheidungen für unser Leben treffen und glücklich leben. Denn viele psychische Probleme oder Erkrankungen haben ihren Ursprung in unseren Wünschen, etwa weil wir nicht gelernt haben, sie zu erkennen und zu erfüllen oder weil wir sie bewusst verdrängen. Manchmal auch, weil wir begehren, was uns schadet. Die Autorin hat in unzähligen Sitzungen mit ihren Patient*innen erkannt, dass es zwölf universelle Wünsche gibt, die alle Menschen teilen. Sie zeigt eindrucksvoll, wie es uns gelingt, unsere wahren Wünsche zu erkennen und endlich danach zu leben. Ein erhellendes wie praktisches Buch, das verblüffende Einblicke gibt in die wahren Beweggründe unseres Denkens und Handelns.

Bettina Stangneth: Sexkultur

Rowohlt, Reinbek, 2020. 4 Bände in reformierter Kurz-, 6 in Vollschrift, Bestell-Nr. 6227.

Die Autorin, eine Philosophin und Historikerin, legt mit diesem Buch einen Essay mit allerlei Betrachtungen über "die wichtigste Sache der Welt" vor. In den ersten Kapiteln wird das Thema sehr philosophisch-theoretisch behandelt, und man möchte das Buch wegen seiner Theorielastigkeit am liebsten beiseitelegen. Aber das sollte man lieber lassen, denn sonst verpasst man das, was das Buch interessant und lesenswert macht, da es sehr praktisch weitergeht. Zwei Punkte werden von Bettina Stangneth besonders herausgestellt: Sie spricht sich für die Autoerotik aus (also "Liebe mit sich selbst machen"), da diese sehr fantasieanregend ist, besonders wenn man keine Partner*in hat. Aber vor allem Sex zu zweit ist sehr befreiend, entspannend und kann sogar gesundheitsfördernd sein. Außerdem, so die Autorin, sollten wir mehr über Sex reden und das Thema nicht länger tabuisieren, da es zu unserem Alltag gehört. So reflektiert sie die aktuellen Debatten um "me too" auf grundsätzliche Weise.

Katja Eichinger: Liebe und andere Neurosen

Aufbau Digital, Berlin, 2022. 5 Bände in reformierter Kurz-, 7 in Vollschrift (Bestell-Nr. 6274).

Die Autorin, Anfang 50, war lange Jahre glücklich verheiratet, bis vor einigen Jahren ihr Mann starb. In ihrem Buch erzählt sie auf sehr offene Weise von ihren eigenen sexuellen Begegnungen, aber auch von Familiengeschichten alter Zeit, z.B. ihrer Urgroßmutter, die von dem armen Handwerker träumte, den sie nicht heiraten durfte. Es sind 10 elektrisierende Essays über das Wechselspiel zwischen Verlangen und Verunsicherung. Dieses "radikal-vergnügliche Buch" (so der Klappentext) dreht sich um die zentralen Fragen: Wen begehren wir? Was erzählt unser Begehren über uns? Wie hängen Lust, Leidenschaft und Liebe zusammen?

Das Werk ist auch als ungekürztes DAISY-Hörbuch in der DBH erhältlich (Bestell-Nr. 1570111), gelesen von der Autorin.

Bestelladresse

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Am Schlag 2-12
35037 Marburg
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Panorama

Deutscher Hörfilmpreis 2023

21 Hörfilme waren nominiert, 6 von ihnen wurden dank herausragender Audiodeskription (AD) mit einer "ADele" ausgezeichnet: Am 20. Juni 2023 vergab der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) in Berlin den 21. Deutschen Hörfilmpreis. Mit der begehrten Trophäe wurde in jeweils sechs verschiedenen Kategorien die Kunst gewürdigt, in knappen Worten zentrale Elemente einer Filmhandlung sowie Gestik, Mimik und Dekor in den Dialogpausen einzusprechen.

Durch den Abend führte Moderator und Filmexperte Steven Gätjen. Die Band "DOTA" sorgte für den musikalischen Rahmen der Gala. Filmschaffende und Audiodeskriptionsteams freuten sich über die Auszeichnung ihrer folgenden Filme:

  • "In einem Land, das es nicht mehr gibt", Regie: Aelrun Goette (Kategorie "Spielfilm - Kino"),
  • "Im Westen nichts Neues", Regie: Edward Berger (Kategorie "Spielfilm - TV/Mediatheken/Streaming"),
  • "Gestern waren wir noch Kinder", Regie: Nina Wolfrum (Kategorie "Serie"),
  • "Die Schlümpfe" Staffel 1, Regie: William Renaud (Kategorie "Kinder- und Jugendfilm"),
  • "Die Werckmeisterschen Harmonien", Regie: Béla Tarr (Kategorie "Filmerbe"),
  • "Racko - Ein Hund für alle Fälle", Regie: Uli Möller (Kategorie "Publikumspreis").

Die Jury zeichnete dieses Jahr keine Hörfilm-Dokumentation aus, da die Qualität der Audiodeskription in diesem Genre nicht an die der Vorjahre heranreichen konnte. Sie appelliert jedoch daran, die Qualität der AD-Produktionen bei dem stetig wachsenden Hörfilmangebot nicht zu vernachlässigen.

Die Aufzeichnung der Veranstaltung sowie Infos sowohl zu allen eingereichten als auch den ausgezeichneten Hörfilmen gibt es auf www.deutscher-hoerfilmpreis.de

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Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes verzögert sich

Paritätischer Gesamtverband

Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) ist das wohl größte behindertenpolitische Reformprojekt der letzten Jahre. Im Jahr 2016 ist es unter der damaligen Koalition von CDU/CSU und SPD mit einer großen Mehrheit beschlossen worden. Ziel war und ist die gesellschaftliche Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK).

Am 8. Mai 2023 stellte die CDU/CSU-Fraktion eine Kleine Anfrage (20/6690) an die Bundesregierung zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes.

Zum jetzigen Zeitpunkt kann die Bundesregierung noch nicht abschließend sagen, ob die Ziele des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) vollumfänglich erreicht werden können, antwortete sie (20/6935). Aufgrund der Pandemiefolgen und der insgesamt verzögerten Umsetzung des BTHGs sei die Eingliederungshilfe noch nicht so weiterentwickelt worden, wie es das Gesetz vorsehe. Einen "grundsätzlichen Handlungsbedarf mit Blick auf Änderungen im Recht der Eingliederungshilfe" sieht die Bundesregierung aktuell allerdings nicht.

Um die Umsetzung der Reform weiterhin zu begleiten, seien die entsprechenden Projekte des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales wie die "Wirkungsprognose" oder die "Umsetzungsbegleitung" verlängert worden. Auch die Zusammenarbeit der Länder-Bund-Arbeitsgruppe werde fortgesetzt. Grundsätzlich falle die Umsetzung des BTHGs in die Zuständigkeit der Länder, schreibt die Bundesregierung.

Zusammengefasst kommt dieser Bericht zum Ergebnis, dass knapp sechs Jahre nach der Verabschiedung des BTHG die angestrebte Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe noch nicht vollständig in der Praxis umgesetzt ist. Dementsprechend könnten zum jetzigen Zeitpunkt noch keine abschließenden Aussagen getroffen werden, ob die mit dem BTHG verbundenen Ziele erreicht werden.

Anfrage und Antwort stehen als PDF-Dateien zur Verfügung: https://www.der-paritaetische.de/alle-meldungen/umsetzung-des-bundesteilhabegesetzes-verzoegert-sich/

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Ältere Menschen vor Gewalt und Vernachlässigung schützen - BAGSO fordert Ombudsstellen in allen Bundesländern

BAGSO

Die BAGSO - Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen fordert einen besseren Schutz gegen Gewalt und Vernachlässigung im Erwachsenenalter. So wie Kinder und Jugendliche einen Anspruch auf staatlichen Schutz haben, gilt dieser auch für Erwachsene in verletzlichen Situationen. Besonders gefährdet sind Menschen, die auf Hilfe und Pflege angewiesen sind. Bislang fehlen jedoch Strukturen, die gezielt auf den Schutz alter Menschen vor Gewalt, Misshandlung oder Vernachlässigung ausgerichtet sind. Die BAGSO setzt sich deshalb dafür ein, dass in allen 16 Bundesländern Ombudsstellen eingerichtet werden, an die sich Betroffene wenden können.

In den vergangenen Jahren haben einige Bundesländer Pflegebeauftragte eingesetzt, die zum Teil auch die Funktion von informellen Ombudsstellen wahrnehmen. Dazu zählen Bayern, Berlin, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und das Saarland. Die BAGSO fordert, dass es solche Anlaufstellen in ganz Deutschland geben muss. Sie sollten sich eng miteinander vernetzen, um Erkenntnisse und Erfahrungen auszutauschen. In Verdachtsfällen muss es zudem behördliche und gerichtliche Eingriffsbefugnisse geben, um Schutz garantieren zu können.

Die BAGSO fordert zudem einen offenen Umgang mit dem tabuisierten Thema Gewalt gegen ältere Menschen. Erkenntnisse aus Studien und Erfahrungen aus Projekten weisen darauf hin, dass Gewalt sowohl in der stationären als auch in der häuslichen Pflegesituation in einem Ausmaß vorkommt, das deutlich über Einzelfälle hinausgeht. Die Erscheinungsformen sind vielfältig und umfassen unter anderem Vernachlässigung, verbale Aggressionen und körperliche Gewalt. Als Ursache wird meist Überforderung genannt, in Wirklichkeit sind die Zusammenhänge häufig komplexer. Nur ein offener Umgang der Gesellschaft mit dem Thema macht es möglich, bedarfsgerechte Unterstützung anzubieten.

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Antidiskriminierungsbericht 2022 erschienen

Ferda Ataman leitet die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) und zieht eine kritische Bilanz: "Oft reicht der gesetzliche Schutz in Deutschland nicht, um Menschen wirksam zu helfen. Das können wir besser", so in ihrer Einleitung zum Jahresbericht 2022, der im Juni 2023 erschien. Sie tritt daher für eine Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) ein.

An die Anlaufstelle beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend kann sich wenden, wer aufgrund von Alter, Behinderung, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Religion, sexueller Identität oder Weltanschauung diskriminiert wird und sich beraten lassen möchte. 2022 erhielt das Servicebüro 8.827 Anfragen, so viele wie nie zuvor. Statistisch gesehen standen Anfragen wegen einer Diskriminierung aufgrund von Behinderung und chronischer Krankheit an zweiter Stelle (27 Prozent). Die erste Stelle (43 Prozent) nahmen Diskriminierungen aufgrund ethnischer Herkunft ein.

Bezogen auf verschiedene Lebensbereiche betrafen die meisten Anliegen den Arbeitsmarkt: "Der Hauptbestandteil (über ein Viertel) der in der Beratung geschilderten Diskriminierungen liegt weiterhin im Arbeitsleben und ist durch das AGG verboten", so der Bericht. Auch Diskriminierung in Ämtern und Behörden, von Polizei und Justiz waren Thema: "Nimmt man noch den öffentlichen Bildungsbereich (...) dazu, dann sind es (...) über ein Viertel der Beratungsfälle, die sich im öffentlich-rechtlichen Kontext abspielen. Dieser ist aber nicht vom Diskriminierungsschutz des AGG umfasst und es gibt hierfür keine speziellen Regelungen."

Gut zu wissen: Seit Dezember 2022 können sich auch Menschen, die wegen Elternzeit, Pflegezeit oder Familienpflegezeit benachteiligt worden sind, an die Antidiskriminierungsstelle wenden, selbst wenn das AGG sie bisher nicht im gleichen Maße schützt wie andere Gruppen.

Kontakt

Antidiskriminierungsstelle des Bundes
11018 Berlin
Servicebüro Tel.: 0800 546 546 5
E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Download des Jahresberichts: https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/Jahresberichte/2022.html

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Impressum

horus 3/2023
Jg. 85 der Schwarzschriftausgabe
Jg. 97 der Brailleausgabe

Herausgeber

Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V. (DVBS) und Deutsche Blindenstudienanstalt e.V. (blista)

Redaktion

  • für den DVBS: Peter Beck, Andrea Katemann, Matthias Klaus und Nina Odenius
  • für die blista: Isabella Brawata, Thorsten Büchner und Dr. Imke Troltenier

Koordination

DVBS-Geschäftsstelle
Sabine Hahn
Frauenbergstraße 8
35039 Marburg
Telefon: 06421 94888-0
Fax: 06421 94888-10
E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Internet: https://dvbs-online.de

Beiträge und Bildmaterial schicken Sie bitte ausschließlich an die Geschäftsstelle des DVBS, Redaktion. Wenn Ihre Einsendungen bereits in anderen Zeitschriften veröffentlicht wurden oder für eine Veröffentlichung vorgesehen sind, so geben Sie dies bitte an. Nachdruck - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung der Redaktion.

Verantwortlich im Sinne des Presserechts (V. i. S. d. P.)

Andrea Katemann (DVBS) und
Dr. Imke Troltenier (blista)

Verlag

Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V., Marburg
ISSN 0724-7389

Punktschriftdruck

Deutsche Blindenstudienanstalt e. V.
Am Schlag 2-12, 35037 Marburg
E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Digitalisierung und Aufsprache

Geschäftsstelle des DVBS
Frauenbergstraße 8, 35039 Marburg
E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Schwarzschrift-Druck

Druckerei Schröder, Lindauer & Wolny GbR
Schuppertsgasse 2, 35083 Wetter/Hessen
E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
www.druckerei-schroeder.de

Erscheinungsweise

Der "horus" erscheint alle drei Monate in Blindenschrift, in Schwarzschrift und digital (wahlweise auf einer CD-ROM oder als Download-Link). Die digitale Ausgabe enthält die DAISY-Aufsprache, eine HTML-Version sowie die Braille-, RTF- und PDF-Dateien.

Jahresbezugspreis

35 Euro (Versandkosten Inland inklusiv).

Die Kündigungsfrist beträgt sechs Wochen zum Ende eines Kalenderjahres. Für Mitglieder des DVBS ist der Bezug im Jahresbeitrag enthalten.

Bankkonto des DVBS

Sparkasse Marburg-Biedenkopf
IBAN: DE42 5335 0000 0000 0002 80
BIC: HELADEF1MAR

Die Herausgabe der Zeitschrift "horus" in Punktschrift wird vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband aus Mitteln der "Glücksspirale" unterstützt.

Vorschau horus 4/2023

Schwerpunkt: Leben, Bildung, Partizipation: Schlaglichter des VBS-Kongresses 2023

Erscheinungstermin: 27.11.2023

Anzeigenannahmeschluss: 20.10.2023

Redaktionsschluss: 22.09.2023

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Anzeigen

Kleinanzeigen

Private Kleinanzeigen bis zu einer Länge von 255 Zeichen werden kostenlos abgedruckt. Danach werden 17 Euro pro angefangene 255 Zeichen berechnet. Für die korrekte Wiedergabe ihres Inhalts (z. B. Namen, Anschriften usw.) kann keine Haftung übernommen werden.

Für gewerbliche Anzeigen oder Beilagen senden wir Ihnen gerne die horus-Mediadaten zu.

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Com-M: Braille hat Zukunft, und wir wollen, dass das so bleibt!

Deshalb empfehlen wir die neue Familie portabler Humanware Braillezeilen:

Alle Geräte verfügen über einen Terminalmodus, einen einfachen Texteditor, Taschenrechnerfunktion sowie Dateiverwaltung. Konnektivität: Wlan, USB-C, USB-A, Bluetooth. Dabei gibt es für jeden Bedarf die passende Ausführung:

  • Die Mantis Q40 mit 40-stelliger Braillezeile und einer QWERTZ Notebooktastatur für €3564,00 Inkl. MwSt
  • Die Brailliant BI40 mit 40-stelliger Braillezeile und 8-Punkte Brailletastatur für €3564,00 ink. MwSt
  • Die Brailliant BI20 mit 20-stelliger Braillezeile und 8-Punkte Brailletastatur für €2370,00 inkl. MwSt.

Com-M Inh. Claudia Mischler-Korz,
Sonderpädagogin
Martin Mischler,
blinder Hilfsmittelspezialist seit 1983
Tel.: 07764 9 333 700
Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Homepage: www.com-m.de
Wir freuen uns auf Ihren Anruf!


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Die Features der EnVision Glasses:

  • Kompatibel mit der EnVision App
  • aus dem Google PlayStore & App Store
  • Texte vorlesen (Druck & Handschrift)
  • Szenenbeschreibung
  • Unterstützung durch Videoanruf
  • Gesichtserkennung
  • Bargeldscheinerkennung (über 100 Währungen)
  • Farb- & Lichterkennung
  • WLAN-Verbindung notwendig!

Sprechen Sie mit uns, wenn Sie auf eine qualifizierte Beratung und Betreuung rund um Hilfsmittel für Sehgeschädigte Wert legen.

Ihre IPD

Tel.: 0511 9363090
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Web: www.ipd.gmbh

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Die blista ist ein bundesweites Kompetenzzentrum für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung

  • mit dem Carl-Strehl-Gymnasium für blinde, sehbehinderte und sehende Schüler*innen von Klasse 5 bis 13,
  • Fachoberschulen für Wirtschaft, Gesundheit und für Soziales,
  • einem Zentrum für berufliche Bildung mit sechs modernen Ausbildungen und Umschulungen sowie
  • dem dezentralen Internat, das vielfältige Möglichkeiten für das Wohnen inmitten unserer quicklebendigen Stadt eröffnet.

Bei der blista bist du richtig!

Tel.: 06421 606-339
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Wir haben versucht, die Braillezeile neu zu erfinden. Es ist uns gelungen.
Der Activator.

Durch die klappbare 2-in-1-Tastatur bietet der Activator für jeden Anwendungsfall den perfekten Eingabemodus - egal ob Punktschrift- oder Texteingabe. Ein Braille-Erlebnis der nächsten Generation - dank integrierter Kurzschriftübersetzung, SmartDock und "HelpTech+"-App.

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Tel.: 07451 55460

Bildbeschreibung: Es sind drei Bilder des Activators zu sehen, um seine Vielfalt zu verdeutlichen. Zeigt den Activator zusammengeklappt mir Brailletastatur. Rechts davon ist das innovative SmartDock mit Ladefunktion und USB-Port angeschlossen, indem ein iPhone eingelegt ist. Auf dem Screen des iPhones ist die "HelpTech+"-App zu sehen. Auf dem anderen Bild ist der Activator in aufgeklapptem Zustand mit QWERTZ-Tastatur zu sehen.


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