Distanzierte Nähe

Inklusive Beschulung blinder und sehbehinderter Schülerinnen und Schüler an Regelschulen in Zeiten von Corona

Ein Interview mit Brigitte Betz (im Folgenden BB), Oberstudienrätin an der Blista und Beratungslehrerin für blinde und sehbehinderte Schülerinnen und Schüler an Regelschulen.
Das Interview führte Dörte Severin (im folgenden DS), pensionierte Studienrätin und Beratungslehrerin an der Blista.

DS: Liebe Gitte, wir kennen uns durch unsere langjährige Zusammenarbeit am Überregionalen Beratungs- und Förderzentrum der Blista, eines von vier hessischen Förderzentren, an denen blinde und sehbeeinträchtigte Schülerinnen und Schüler an Regelschulen unterstützt werden. Heute möchte ich gern von Dir wissen, ob und wie sich Deine Beratungstätigkeit während der Coronapandemie verändert hat.

Bitte erläutere doch den Leserinnen und Lesern zunächst aber kurz einmal, wie sich eine solche Unterstützung grundsätzlich gestaltet.

BB: Wir unterstützen blinde, hochgradig sehbehinderte und sehbeeinträchtigte Kinder aller Schularten und -stufen sowie deren Eltern und Lehrerinnen und Lehrern.

Wir beraten auch sehgeschädigte Schülerinnen und Schüler mit weiteren Behinderungen (z. B. Hör-, Körper- oder geistigen Behinderungen). Daher ist die Beratungsarbeit sehr vielfältig.

Wenn ich jetzt mal von einem „normalen“ sehbehinderten Kind ausgehe, so beginnt meine Beratung bereits, bevor das Kind eingeschult wird, um die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen: geeignete Hilfsmittel müssen erprobt und angeschafft und die Lehrerinnen und Lehrer vor Ort müssen methodisch-didaktisch fortgebildet werden. Ist das Kind eingeschult, beobachte ich fortlaufend den Unterricht und gebe den Beteiligten Hilfestellungen.

Außerdem wird im Vorfeld in der Regel eine Assistenz für das Kind beantragt, die ich dann auf ihre Arbeit vorbereite: Sie hat die Aufgabe, das Kind direkt im Unterricht zu unterstützen, indem sie zum Beispiel kurze Arbeitsblätter adaptiert oder sehbehindertengerechte Materialien erstellt. Ziel soll es dabei sein, das Kind in seiner Selbstständigkeit so weit wie möglich zu fördern.

DS: Was sind häufige Themen der Elterngespräche?

BB: Inhalt der Beratungsgespräche mit Eltern ist z. B. die Beantragung einer Rehamaßnahme oder eines Schwerbehindertenausweises. Vor allem aber gebe ich den Eltern Raum, sich darüber mit mir auszutauschen, wie es Ihnen damit geht, ein behindertes Kind zu haben, und wie es ihr Familienleben beeinflusst.

DS: Da viele der DVBS-Mitglieder selbst blind sind und eine Förderschule besucht haben, interessiert es sie vermutlich, wie Du ein blindes Kind an einer Regelschule unterstützt.

BB: Sie können sich vorstellen, dass gerade bei der Einschulung eines blinden Kindes die Vorbereitung sehr wichtig ist; ich muss beispielsweise dafür sorgen, dass die Schulbücher in Blindenschrift ausgedruckt oder digital zu Beginn des neuen Schuljahres vorliegen. Diese Aufgabe übernimmt in Hessen übrigens das Medienzentrum der Blindenschule in Friedberg für alle inklusiv beschulten Schülerinnen und Schüler in Hessen.

Weiterhin vermittle ich den Regelschullehrerinnen und –lehrern sowie der Assistenz vor Ort die Arbeitstechniken des blinden Kindes: Wenn ein blindes Grundschulkind beispielsweise gerade selbst die Punktschrift erlernt, sollten z. B. Regelschullehrkräfte und die Assistenz zumindest die Basis-Brailleschrift beherrschen.

Vor allem bei blinden Schülerinnen und Schülern umfasst meine Arbeit auch den Einzelförderunterricht in dem sogenannten „dualen Curriculum“, das sind Dinge, die das Kind zusätzlich zum Unterrichtsstoff lernen muss: z. B. Tastaturbefehle am Notebook oder die Latex-Mathematikschrift ab der Mittelstufe der Sekundarstufe I (die sollte natürlich auch die Mathematiklehrerin bzw. der Mathematiklehrer können!).

Welches dieser Schriftsysteme eine Schülerin bzw. ein Schüler erlernen soll, richtet sich nach ihren bzw. seinen speziellen Möglichkeiten und ihrer bzw. seiner Schulsituation.

DS: Man könnte meinen, für blinde Schülerinnen und Schüler ist die Assistenz unabdingbar. Worin liegen Deiner Meinung nach gerade die Herausforderungen für Assistenzen für blinde Kinder?

BB: Die Assistenz darf nicht zum „Diener“ der Schülerinnen und Schüler werden, indem ihnen Dinge abgenommen werden, die sie selbst verrichten können.

Ich habe viele Assistenzen erlebt, die sehr engagiert sind, ihre Aufgabe aber darin sehen, einer blinden Schülerin bzw. einem blinden Schüler zur Hand zu gehen und ihm so viel wie möglich abzunehmen. Auch ein blindes Kind kann beispielsweise sein Unterrichtsmaterial holen und zurückbringen und ohne fremde Hilfe mit seinen Hilfsmitteln im Unterricht mitarbeiten.

DS: Aus meiner Sicht sollte ein blindes Kind immer in der Lage sein, sich ohne fremde Hilfe in seiner Schule zurechtzufinden.

BB: Beim lauten Geräuschpegel einer großen Pause – oder, um soziale Kontakte zu pflegen – ist es natürlich oft sinnvoll, am Arm einer Mitschülerin bzw. eines Mitschülers zu gehen, aber den Weg zum Bus, in den Klassenraum etc. sollte es – sofern es die nötigen Voraussetzungen mitbringt – selbst beherrschen.

DS: Nachdem wir nun Grundsätzliches über Deine Arbeit erfahren haben, würde ich jetzt gern wissen, was sich seit Beginn der Corona-Pandemie bei Deiner Arbeit verändert hat.

Zunächst gab es ja diesen sogenannten „Lockdown“, d. h. die Schulen waren für mehrere Wochen geschlossen.

BB: Mein Einzelförderunterricht ist natürlich weggefallen. Leider konnten auch die Assistenzkräfte in dieser Zeit nicht arbeiten, da sie dafür bezahlt werden, ein behindertes Kind im Unterrichtsgeschehen zu unterstützen. Wenn z. B. ein blindes Kind von seiner Regelschullehrerin bzw. seinem -lehrer analoge Arbeitsblätter zugeschickt bekommt, wären Assistenzen sehr hilfreich gewesen, dieses Material zu digitalisieren. Jetzt waren oft die Eltern gefragt, diese Aufgaben zu übernehmen, was nicht immer möglich war.

Zu den Problemen, mit denen auch andere Eltern zu kämpfen hatten, kam bei unseren Schülerinnen und Schülern noch hinzu, dass Eltern häufig die Arbeitstechniken und Schriftsysteme ihrer Kinder nicht beherrschen und ihnen daher weniger helfen konnten.

So kam es durchaus vor, dass vor allem den blinden Kindern von Lehrerinnen und Lehrern zugesandte Arbeitsblätter nicht bearbeitet werden konnten. Anders war es mit den Schulbüchern, die in adaptierter Form vorliegen.

DS: Hast Du viele „Hilferufe“ bekommen in dieser Zeit?

BB: Eigentlich nicht. Ich unterstütze zurzeit nur sehbehinderte Schülerinnen und Schüler, dort haben die Lehrkräfte ihr Material in der Schule selbst vergrößert und verschickt.

Ich habe gestern gerade mit einer Regelschulkollegin telefoniert, die mir sagte, dass unser gemeinsamer sehbehinderter Schüler der einzige in ihrer Klasse ist, der mit einer eigenen E-Mail-Adresse selbständig mit ihr kommuniziert hat. Sie merke deutlich, dass dieser Schüler viel fitter sei im Umgang mit digitalen Medien als der Rest der Klasse. Sie war sehr begeistert.

Aufgrund der Lehrmittelfreiheit in Hessen bekommen die sehbehinderten Schülerinnen und Schüler ihre Hilfsmittel für ihre gesamte Schulzeit finanziert und über einen Pool ausgeliehen. Neuerdings werden darüber auch iPads finanziert, mit denen sehbehinderte Schülerinnen und Schüler zumindest bis zur Oberstufe gut arbeiten können. Da die Schulbuchverlage mittlerweile ihre Schulbücher als PDF zur Verfügung stellen müssen, können sich sehbehinderte Schülerinnen und Schüler diese auf ihr Tablet laden und individuell vergrößern und bearbeiten.

DS: Wie gehen die sehgeschädigten Schülerinnen und Schüler mit den Hygienebestimmungen und dem Tragen von einem Mund-Nase-Schutz um?

BB: Die Kinder haben sich daran gewöhnt, besser als die Erwachsenen aus meiner Sicht.

DS: Und die sehbehinderten Schülerinnen und Schüler haben sich nicht beschwert, dass die Maske stört bzw. die Brille beschlägt?

BB: In Hessen brauchen die Schülerinnen und Schüler an ihrem Platz im Unterricht bisher keinen Mund-Nase-Schutz zu tragen, daher war das kein Problem.

Lediglich hör-sehbehinderte Schülerinnen und Schüler haben Schwierigkeiten, andere zu verstehen, da die Aussprache unter einer Maske verwaschener ist und sie sich auch nicht nah genug anderen nähern können, um von den Lippen abzulesen. Teilweise wurde dann die Maske durch ein durchsichtiges Visier ersetzt, was allerdings nicht in dem Umfang schützt wie eine Maske.

DS: Wie geht es jetzt im neuen Schuljahr weiter?

BB: Nach den Sommerferien finden Einzelförderungen nicht im gewohnten Umfang statt, auch, weil Lehrkräfte und Assistenz nicht so nah wie gewohnt mit den Kindern arbeiten können, es sei denn, sie tragen eine Maske.

Unterrichtsbesuche sind zurzeit eingeschränkt, ich berate vornehmlich am Telefon.

Elterngespräche können mit entsprechendem Abstand und vor allem bei diesem herrlichen Wetter auch draußen im Garten oder auf dem Balkon stattfinden.

Ich habe mein letztes Beratungsgespräch bei einem guten Cappuccino draußen im Café gemacht, sehr angenehmes Arbeiten.

DS: Liebe Gitte, dann wünsche ich Dir und allen Deinen Ratsuchenden noch viele Tage Sonnenschein und danke Dir sehr für dieses Gespräch.

Deine Erfahrungen mit Inklusion in der Schule

  • Deine Biografie - Erzähl‘ was über Dich!
  • Wo bist Du aufgewachsen?
  • Bist Du blind oder sehbehindert?
  • Welche Bedingungen haben Deinen schulischen Alltag noch beeinflusst (z.B. …)?
  • Hast Du eine Förderschule oder eine allgemeinbildende Schule besucht?

Wenn Du eine allgemeinbildende Schule besucht hast, beantworte bitte folgende Fragen:

  • Welche Hilfsmittel hast Du genutzt?
  • Welche offizielle Hilfe hast Du erhalten (z.B. Unterstützung durch einen Förderschullehrer oder einen Schulbegleiter/Integrationshelfer …)?
  • Welche Personen haben Dich darüber hinaus unterstützt (z.B. Deine Eltern, Deine Mitschüler …)?
  • Konntest Du dem Unterricht gut folgen? Hast Du barrierefreies Material, z.B. bearbeitete Bilder, tastbare Abbildungen oder Bildbeschreibungen …, bekommen?
  • Hast Du Dich in der Schule wohl gefühlt (z.B. im Unterricht, in den Pausen, auf Klassenfahrten …)?
  • Hattest Du Kontakt zu gleichaltrigen Sehbehinderten und Blinden?
  • Was hast Du in deiner Freizeit gemacht?
  • Was hättest Du Dir gewünscht - in der Schule und/oder in Deiner Freizeit?

Wenn Du eine Förderschule besucht hast, beantworte bitte folgende Fragen:

  • Welche Hilfsmittel hast Du genutzt?
  • Welche offizielle Hilfe hast Du erhalten (z.B. Unterstützung durch einen Erzieher oder einen Schulbegleiter/Integrationshelfer …)?
  • Welche Personen haben Dich darüber hinaus unterstützt (z.B. Deine Eltern, Deine Mitschüler …)?
  • Konntest Du dem Unterricht gut folgen? Hast Du barrierefreies Material, z.B. bearbeitete Bilder, tastbare Abbildungen oder Bildbeschreibungen …, bekommen?
  • Hast Du Dich in der Schule wohl gefühlt (z.B. im Unterricht, in den Pausen, auf Klassenfahrten …)?
  • Hattest Du Kontakt zu gleichaltrigen Sehenden?
  • Was hast Du in Deiner Freizeit gemacht?
  • Was hättest Du Dir gewünscht - in der Schule und/oder in Deiner Freizeit?

Bericht vom zweiten Treffen unseres „AK Inklusion“

Der Rahmen:

Am Samstag, 03. November 2018 zwischen 11:30 und 16:45 Uhr fand das zweite Treffen des AK Inklusion im „Haus der Begegnung St. Vinzenz“ in Marburg statt.

Beim ersten Treffen hatten wir einen Internetauftritt auf der Seite des DVBS beschlossen.

Nach vielen Vorarbeiten war es dann 2017 endlich soweit!

Der Internetauftritt bedarf jedoch der Pflege. Diese kann nicht nur durch organisatorische und inhaltliche Absprachen bei Telefonkonferenzen geleistet werden. Da wir auch konzeptionell weiterkommen wollten, vereinbarten wir ein zweites Treffen in Marburg.

Für dieses hatten wir uns neben einem Gedankenaustausch über unsere Erfahrungen und Positionen zur schulischen Inklusion von Schüler*innen und Lehrkräften vorgenommen, viele kleine, vor allem praxisnahe Ideen für den Webspace Inklusion zu entwickeln.

In sehr angenehmer Atmosphäre bei Tee, Kaffee, Wasser und Gebäck sowie einer leckeren griechischen Stärkung zur Mittagsstunde nahmen wir uns viel Zeit für einen Gedankenaustausch, der bei mir den guten Eindruck hinterlassen hat, dass wir an diesem Samstag etwas geschafft haben.

Skizzierung Unserer Ergebnisse:

Wir beschlossen eine behutsame Aktualisierung unseres Internetauftritts, die Erstellung eines Interviewleitfadens und nicht zuletzt ein drittes Treffen - wahrscheinlich innerhalb des nächsten halben Jahres in Nordrhein-Westfalen.

Bei unserem biographisch gefärbten Gedankenaustausch waren wir uns selbstverständlich im Klaren darüber, dass die Forderung nach der Überwindung des dreigliedrigen Schulsystems in Deutschland vor dem Hintergrund utopisch erscheint, dass sie schon vor hundert Jahren zu Beginn der Weimarer Republik und seitdem immer wieder gescheitert ist. Dafür, dass sich eine Kultur der Inklusion auch in sehr heterogenen Klassen zu entwickeln beginnt, gibt es aber immerhin seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) 2009 durchaus ermutigende Anzeichen. Inklusion ist oft eine Erfolgsgeschichte.

Auf der anderen Seite kostet Inklusion Geld, das unter den Bedingungen einer strikten Austeritätspolitik auf Bundesebene und vor allem in den für Kultuspolitik zuständigen Bundesländern nicht einmal ansatzweise ausreichend zur Verfügung steht.  Im oft bedrückenden inklusiven Alltag drängt sich sogar nicht selten der Eindruck auf, dass die Inklusion als eine Art Sparschwein betrachtet wird: Leistungen erreichen nicht einmal das Niveau der Zeit, in der von Integration und gemeinsamen Unterricht gesprochen wurde.

Entsprechend gibt es unter Betroffenen und Experten inzwischen eine große Ernüchterung, der nur durch ausreichende Ressourcen begegnet werden kann.

Dies bedeutet aus unserer Sicht, dass z. B. Klassen kleiner werden müssen; darüber hinaus sind multiprofessionelle Teams vonnöten, die der Heterogenität in einem inklusiven Unterricht Rechnung tragen würden. Heterogenität heißt in diesem Zusammenhang, dass z. B. in einer Grundschulklasse sowohl Kinder mit Beeinträchtigungen als auch solche mit internationaler Geschichte oder schwierigen häuslichen Verhältnissen neben Hoch- und Normalbegabten zu unterrichten sind. Es bedarf also unbedingt individueller Lösungen, die aber teuer wären!

Für Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen muss auch aus Gründen der Selbstvergewisserung der eigenen Rolle bedacht werden, dass der Austausch und die Begegnung mit Gleichbetroffenen, die in der inklusiven Beschulung nicht selten zu kurz kommen, zu fördern sind. Auch dafür müssen Förderschulen als Ressourcenzentren erhalten werden, in denen darüber hinaus Kompetenzen wie etwa die Blindenschrift oder die Gebärdensprache noch vorhanden sind.

Inklusion kann überdies nur gelingen, wenn sie ganzheitlich gedacht wird. Neben dem Lernerfolg müssen Kinder und Jugendliche auch sozial inkludiert werden, was oft spätestens in der Pubertät schwierig wird. In jedem Falle müssen alle Beteiligten - die Betroffenen, ihre Mitschüler*innen, Eltern, Lehrkräfte, Schulleitungen etc. - engagiert und willens sein, Inklusion gelingen zu lassen. Der menschliche Faktor ist also entscheidend, damit sich alle auf den Weg machen. Dieser ist mühevoll - ein utopisches Endziel gibt es nicht! Um diesen Weg aber mit mehr Aussicht auf Erfolg beschreiten zu können, bedarf es eines professionellen Unterstützungssystems.

Nach den von uns angestellten, noch unfertigen Überlegungen ist die sogenannte Schulbegleitung unbedingt zu professionalisieren. Ständig wechselnde Laien dürfen nicht durch ihre Kompetenz über den Schulerfolg von Menschen mit Beeinträchtigungen entscheiden. Die Integrationshelfer*innen müssen beispielsweise Blindentechniken, aber auch die Gebärdensprache beherrschen, sodass sie Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen unterstützen können.

Unter vielem bleibt aber die Diagnostik weiterhin die vornehme Aufgabe von Förderschullehrkräften, die mit mehr sächlichen Mitteln und größerem Stundendeputat ausgestattet werden müssen.

Zusammenfassend und auf den Punkt gebracht bedeutet dies aus unserer Sicht, dass die/der Klassenlehrer*in die Kompetenz hat, wenn es um den Lernstoff und seine Vermittlung geht, und die/der Förderlehrer*in, wenn diagnostische und soziale Fragen im Vordergrund stehen; die/der Integrationshelfer*in sorgt in diesem Kontext für die Aufbereitung des Materials nach Vorgabe durch die Förderschullehrkräfte.

Um an ebenso lebendige wie anschauliche und informative Praxiserfahrungen für unseren „AK Inklusion“ auf der Seite des DVBS zu gelangen, werden wir zeitnah einen Interviewleitfaden erstellen. Dieser ist für Betroffene - sehr gerne z. B. Mitglieder unseres Vereins, aber auch Lehrkräfte und Eltern etc. -, bestimmt; er soll die Barriere, die durch die Erstellung eines zeitaufwändig ausformulierten Berichts entstehen könnte, abbauen, indem jede/r kurz, knackig und schnell auf die Fragen des Leitfadens antwortet. Die Ergebnisse sollen dann einvernehmlich auf unserer Seite eingestellt werden.

Wer an einer Mitarbeit in unserem kleinen, aber feinen Kreis interessiert ist, melde sich bitte bei Werner Wörder, F: 06421-163820 (AB) oder Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! !

Werner mit engagierter Unterstützung von Claudia und Sabrina

Inklusion für alle?

Ein Erfahrungsbericht von Jana Eichstädt

Mein mittlerweile 21jähriger Sohn Mirko ist hochgradig sehbehindert. Er ist einäugig und hat eine Sehkraft von etwa 10 % sowie einen Pendelnystagmus. Bereits im Alter von wenigen Wochen wurde uns durch eine Oberärztin die Diagnose „Optikuskolobom“ mitgeteilt, verbunden mit den „aufmunternden“ Worten: Solche Kinder werden sowieso erst später laufen lernen und sind dazu meist geistig eingeschränkt.

Aber mein Sohn konnte mit einem Jahr laufen und entwickelte sich altersentsprechend. Zeitig stellten wir eine Vorliebe für Zahlen und Musik fest. In der Feinmotorik hatte er einige Schwierigkeiten, drückte beispielsweise Stifte recht stark auf. Vor Schulbeginn konnte er Fahrrad fahren, lernte schwimmen und besuchte eine Tanzschule. Mit vier Jahren begann er mit dem Schachspiel.

Mit sechs Jahren kam er in die wohnortnahe Regelschule. Mit Hilfe einer Sonderpädagogin im Bereich Sehen wurden ihm auf Grund des Förderschwerpunkts Sehen vier Stunden wöchentlich zur Unterstützung in der Schule gewährt. Allerdings wurde er dazu aus dem regulären Unterricht genommen. Wer und was mit ihm – er durfte noch einen Freund mitnehmen – dort geübt wurde, wurde mir nie mitgeteilt. Außerdem wurden die Stunden schnell abgeschafft, d.h. ich gehe im Nachhinein davon aus, dass diese Stunden zur Förderung anderer Kinder eingesetzt wurden. Von der Grundschule wurde meinem Sohn ein Tisch mit geneigter Tischplatte zur Verfügung gestellt, er saß vorn. Außerdem stellte die Sehbehindertenbeauftragte eine große Tischlampe zur Verfügung, um seinen Arbeitsplatz besser ausleuchten zu können. Zusätzlich nutzte er eine Handlupe. Ich selbst fuhr zu Beginn der ersten beiden Schuljahre zur Blindenschule nach Königs Wusterhausen. 2004/2005 war es dort noch möglich, Schulmaterialien für Kinder in Brandenburg, die Regelschulen besuchten, vergrößern zu lassen. Das Kollegium von Königs Wusterhausen bot auch Lehrern in Regelschulen Fortbildungen zum Umgang mit blinden und sehbehinderten Schülern an, jedoch bestand daran beim Kollegium unserer kleinen Grundschule  (ca. 200 Schüler in den Klassen 1 bis 6) kein Interesse. In der Grundschulzeit hat mein Sohn somit kaum besondere Unterstützung erfahren, es wurde von Seiten der Schule betont, dass er ja keine Probleme beim Lernen zeige. Materialien, wie die Anlauttabelle, wurden durch die Schule nicht vergrößert, er hatte eine kleine Handlupe. Nur eine Lehrerin zeigte starkes Interesse. Auf Grund der besonderen Vorliebe für Mathe durfte Mirko in der dritten Klasse den Mathematikunterricht der vierten Klasse besuchen. Nachdem aber klar war, dass wir uns für einen Schulwechsel interessieren, wurde das Drehtürmodell nicht mehr gewährt.

In Brandenburg dauert die Grundschulzeit  i. d. R. sechs Jahre. Etwas über 30 Klassen, so genannte Leistungs- und Begabungsklassen, bieten den Wechsel in die weiterführende Schule bereits nach vier Jahren an. Zu Zeiten des Abiturs nach 13 Jahren wurde in diesen Klassen das Abitur nach nur 12 Jahren abgelegt. Mittlerweile haben diese Klassen trotz eines einheitlichen Abiturs nach zwölf Jahren einen hohen Zulauf, da hier meist lernwillige Schüler vereint sind. Auf den Gymnasien bekommen die Kleinen i. d. R. die besten Lehrer und haben nur wenig Unterrichtsausfall.

Für diese Klassen muss man sich mit dem Halbjahreszeugnis der vierten Klasse und einem Schulgutachten bewerben. Dann wurde landesweit gleichzeitig im April ein prognostischer Test an den Wunschschulen durchgeführt. Trotz entsprechender Noten wurde durch die Grundschule meines Sohnes eine „Nichteignung“ attestiert. Dazu ist zu sagen, dass für die Grundschule zur damaligen Zeit mit der Gefahr einer Schließung bestand. Durch den Weggang mehrerer Schüler im gleichen Jahrgang wurden die beiden Klassen später im fünften Jahrgang zusammengelegt.

Auf Grund des Testergebnisses entschied sich der Direktor des Gymnasiums trotz Negativprognose der Grundschule für die Aufnahme unseres Sohnes in Klasse 5. Hier erfuhren wir starkes Interesse an seiner Sehbehinderung. Die wöchentlich zusätzlich gewährte Stunde nutzte die Klassenlehrerin beispielsweise für Kartenarbeit in Geographie. Der neue Direktor setzte sich für eine besondere Beleuchtung am Arbeitsplatz des Klassenraumes ein. Mirkos Klasse wechselte nur für Fachunterricht – wie Chemie oder Physik – den Raum. Die Klasse nutzte ausschließlich Räume mit grünen Tafeln, da Smart- oder White-Boards Mirko blenden.  Außerdem half der Direktor bei der Auswahl einer Tafelbildkamera, die von der Krankenkasse finanziert wurde. In den höheren Klassen durfte er dann einen Laptop für Mitschriften und Arbeiten nutzen. In einigen Fächern, insbesondere in Mathematik, gab es eine größere Exaktheitstoleranz für zeichnerische Aufgaben. Häufig – leider nicht bei allen Lehrern – wurden Arbeitsblätter vergrößert. Mirko hat stets die gleichen Aufgaben wie alle anderen bekommen. Er musste das gleiche Pensum erfüllen, obwohl er sicher mehr Kraft aufwenden musste. Gerade bei Bildern und Schemata war das sicher nicht immer einfach.

Es waren sicher kleine erste Schritte, die aber durch den Schulalltag halfen. Mirko war sicher einer der ersten Sehbehinderten, die in Brandenburg das Abitur an einer Regelschule ablegten. Daher gab es keine klaren Vorgaben. Die Zeitzugaben bei Klausuren und im Abitur waren schriftlich im Rahmen des Nachteilsausgleichs fixiert. Aber selbst solche Festlegungen stellen in der Praxis häufig ein Problem dar. Für das Deutschabitur waren 2014 für die Abiturienten eine Zeit von 300 min vorgesehen. Für diese Abitur-Klausur bekam Mirko einen Zeitzuschlag von 30 %. Das bedeutete eine Zeit von 6,5 Stunden Schreibzeit am Laptop. Ich denke, dass jeder Sehende unser Problem verstehen kann – sechseinhalb Stunden konzentrierte PC-Arbeit ohne Pause! In der Vorklausur kam er mit hochroten Augen nach Hause. Ein durchgängiges Schreiben oder gar Korrekturlesen war nicht möglich. Trotzdem er sicher in der deutschen Rechtschreibung ist, verlor er durch die fehlende Kontrollmöglichkeit zwei Notenpunkte. Das stellt eine Benachteiligung gegenüber den anderen dar. Und vom damaligen Behindertenbeauftragten des Landes erhielt ich auf meine Nachfrage nur den Hinweis, „dass man trotz Nachteilsausgleiche eine Behinderung nicht völlig kompensieren kann.“

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass eine gute Inklusion nur dort möglich ist, wo es auch gewollt ist. Es kommt auf die Personen im unmittelbaren Umfeld an. Mirko musste sicher mehr Zeit und Kraft aufbringen, wir Eltern waren mehr gefordert – als Helfer, Verbindung zur Schule, Fahrer, Besorgung digitaler Schulmaterialien usw. Und ich glaube, dass der Erfolg in der Schule auch durch seine hohe Intelligenz geprägt war. Aber ich denke, dass die Regelschule Mirko geholfen hat, in der „Welt der Sehenden“ zurechtzukommen und bei Problemen beim Studium und im weiteren Leben nicht aufzugeben. Er studiert jetzt Mathematik und ist an seiner Uni der erste Sehbehinderte in diesem Fach.

Der AK Inklusion stellt sich vor

Mitglieder des AK Inklusion

Foto: Werner Wörder

Mein Name ist Werner Wörder. Durch meine Arbeit an einem Regelgymnasium bin ich als inkludierter Lehrer und als Ansprechpartner für die Inklusion von schwerbehinderten Schülerinnen und Schülern gleich doppelt mit dem Thema aufs engste verbunden. Mein Einsatz für Integration schon als Schüler hat mich letztlich in die inklusive Schulwirklichkeit des Jahres 2018 geworfen - mit allem, was dazugehört.

Foto: Christine Beutelhoff

Christine Beutelhoff, Oberstudienrätin i.R. Sie hat trotz ihres geringen Sehvermögens am Gymnasium in Homberg (Hessen) 32 Jahre bis 2007 die Fächer Deutsch, Englisch und evangelische Religion unterrichtet. Abitur Gymnasium Eberbach am Neckar.

Foto: Claudia Gerike

Claudia Gerike arbeitet seit mehreren Jahren in der Organisation und Koordination von Schulbegleitung für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen.

Foto: Sabrina Schmitz

Mein Name ist Sabrina Schmitz. Im Laufe meines Lebens habe ich viele praktische Erfahrungen und theoretische Erkenntnisse rund um die beiden Phänomene Integration und Inklusion gesammelt. Während meiner Schulzeit war ich von der 1. bis zur 13. Klasse eine sog. Integrationsschülerin. Anschließend habe ich Lehramt für Sonderpädagogik studiert und mich ausgiebig aus wissenschaftlicher Perspektive und im persönlichen Austausch mit Integration und Inklusion beschäftigt. Bei meiner Tätigkeit als Lehrerin verfolge ich die aktuelle Entwicklung im Schulsystem nun weiterhin aufmerksam. Auch in meinem privaten Alltag denke ich immer wieder über verschiedene Erlebnisse nach. Insgesamt bin ich nämlich der Meinung, dass die Schule nur ein Bereich der Gesellschaft ist, in dem sich Inklusion und gleichberechtigte Teilhabe weiter entwickeln dürfen.

Foto: Dörte Severin

Ich bin Dörte Severin und habe bis vor 4 Jahren an der Deutschen Blindenstudienanstalt Deutsch und Französisch unterrichtet und die Arbeit des Überregionalen Beratungs- und Förderzentrums der Blista koordiniert, wo blinde und sehbehinderte Schülerinnen und Schüler an Regelschulen unterstützt werden.
Da ich selbst 10 Jahre eine Regelschule besucht habe, lag und liegt mir diese Arbeit besonders am Herzen. Es war und ist immer wieder spannend, die gesellschaftspolitischen Veränderungen im Laufe meiner Berufstätigkeit und deren Auswirkungen auf den konkreten Schulalltag zu verfolgen.


Berichte / Erfahrungen

  • In der Zeitschrift der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft E&W stieß ich im Heft 09/2019, S.20, auf einen bemerkenswerten Artikel zur schulischen Inklusion blinder und sehbehinderter Menschen als Grenzerfahrung. Das „Magazin SCHULE“ gibt uns freundlicherweise die Genehmigung, den Originalbeitrag auf magazin-schule.de zu verlinken
  • Am 18. Mai 2019 fand das dritte Treffen des "AK Inklusion" in Essen statt. Dort wurde damit begonnen, Eure eingegangenen Antworten auf die Fragen unseres Interviewleitfadens / Fragebogens auszuwerten. Auch durch die Zuarbeit mehrerer Telefonkonferenzen stellten Sabrina und Werner eine Sammlung von Gelingensbedingungen für "Inklusion - aber wie?" zusammen. Vom AK Inklusion wird dies ausdrücklich als ein Zwischenergebnis gesehen. In diesem Sinne freuen wir uns umso mehr über weitere Antworten und Anregungen. Vielen Dank dafür!
  • Am 03. November 2018 fand das zweite Treffen des „AK Inklusion“ in Marburg statt, hier finden Sie einen ausführlichen Bericht. Dabei wurden unter anderem Ideen für einen Interviewleitfaden gesammelt, der jetzt fertig gestellt wurde und der ebenfalls in kürze hier erscheint.
  • Jana Eichstaedt berichtet über ihre Erfahrungen mit einer inklusiven Beschulung. Ihr sehbehinderter Sohn Mirko ist 21 Jahre alt und hat das Abitur an einer Regelschule gemacht. Zur Zeit studiert er Mathematik. Sein Hobby ist Turnierschach. Er spielt für seinen Heimatverein, beteiligt sich erfolgreich an Schachwettkämpfen der Sehenden und nimmt an internationalen Meisterschaften für Blinde und Sehbehinderte teil. Zuletzt errang er zum 2. Mal die Bronzemedaille bei der internationalen Jugendweltmeisterschaft.