12 Jahre Gemeinschaftsstiftung: Arbeitsschwerpunkte und Projekte

Fach- und Sachliteratur für Blinde und Sehbehinderte: Vom Tonband zur CD

Nicht einmal 3 % aller jährlich in Deutschland erscheinenden Literatur ist blinden und sehbehinderten Menschen zugänglich. Wer ohne Augenlicht lernen möchte, ein Leben lang, der ist auf Fach- und Sachbücher angewiesen, die er nutzen kann. Als Uwe Boysen 1966 sein Studium der Rechtswissenschaften aufnahm, stand er genau vor diesem Problem. Er besann sich auf die Selbsthilfe und suchte sich Gleichgesinnte. Gemeinsam ließen sie sich Standardwerke auf Tonband sprechen. „Eine Übertragung in Blindenschrift wäre zum wissenschaftlichen Arbeiten zwar praktischer, aber für uns viel zu teuer gewesen“, blickt Boysen zurück.

Zwölf Jahre später startete der DVBS seinen „Aufsprachedienst für wissenschaftliche Literatur (ADW)“. Nun konnten Betroffene Bücher einsenden und bekamen sie gegen Umkostenbeitrag nebst Aufsprache auf Audiokassette zurück. „Die gelesene Fassung hat einige Nachteile“, erläutert der in Bremen lebende Jurist: „Man erkennt nicht unbedingt die Schreibweise eines Namens, wenn man ihn hört, und bei umfangreicheren Werken war es mühsam, einen bestimmten Abschnitt zu finden.“
Deshalb entwickelte der ADW feste Aufspracheregeln die z.B. besagten, dass Eigennamen zu buchstabieren und Seitenzahlen anzusagen sind. Mit einem speziellen Gerät setzte er niederfrequente Signale bei Kapitel-, Absatz- und Seitenwechseln. Diese Signale werden hörbar, wenn man mit eingeschalteten Tonköpfen spult. Außerdem erhielten umfangreichere Werke wie das „Assessorexamen im Öffentlichen Recht“ (48 Kassetten, Buch Nr. 6) eine zusätzliche Registerkassette, der zu entnehmen ist, auf welcher Seite welcher Kassette sich welcher Teil des Inhaltsverzeichnisses befindet.
Das war ein riesiger Fortschritt für Blinde und Sehbehinderte. Einen weiteren versprach das Computerzeitalter. Doch hierzu waren umfangreiche Investitionen nötig: „Zunächst mussten wir digitale Aufnahmestudios einrichten“, erinnert sich Uwe Boysen, der inzwischen zum 1. Vorsitzenden des DVBS und zum vorsitzenden Richter am Landgericht avanciert war, „dann galt es einen Weg zu finden, diese Aufsprachen zu strukturieren.“ Man beteiligte sich an der Entwicklung eines weltweiten öffentlichen Standards, des „digital accessable information system“ kurz „DAISY“. 
„Auch dank der Unterstützung unserer Gemeinschaftsstiftung haben wir heute völlig neue Möglichkeiten“, schwärmt Boysen, „von Seite zu Seite blättern, vom Inhaltsverzeichnis zum entsprechenden Kapitel springen – alles kein Problem mehr und alles auf einer einzigen CD.“ Dereinst, so sagt er voraus, wird man die Aufsprache und eine Textversion am Computer parallel nutzen können und sich das Buch aus dem Internet herunterladen. „Schon heute experimentieren wir mit dem multimedialen Buch, in dem Grafiken verbal beschrieben werden, man zwischen mehreren Ausgabeformen wählen kann usw.“

Der ADW ist zum DVBS-Textservice geworden, der heute auch Audio-Zeitschriften produziert und Informationen aller Art für Firmen und Behörden blind nutzbar macht. Auch bei der Finanzierung der beiden CD-Vervielfältigungsroboter half unsere Gemeinschaftsstiftung.

Rechtsberatung und –vertretung Blinder und Sehbehinderter: Von der gelegentlichen Frage zur gemeinnützigen Firma

Telefonsprechstunde bei der „rbm gemeinnützige GmbH Rechte behinderter Menschen“. Konzentrierte Arbeitsatmosphäre. Im Büro rechts wird in ruhigem sachlichen Ton telefoniert. Links besprechen sich halblaut zwei Juristen. Vorn macht eine Dame stapelweise Post fertig. Ihre Kollegin tippt auf ihrem Computer. Zwei Telefone klingeln zeitgleich. Die beiden Damen halten inne, nehmen den Hörer ab und melden sich – „rbm, mein Name ist…“
60 bis 80 Anfragen schaffen die fünf Menschen, die hier arbeiten, binnen der vier Stunden Beratungszeit. Dreimal wöchentlich wiederholt sich das Schauspiel. Danach schweigen die Telefone und die Arbeit geht weiter. 16 laufende Verfahren übernahm Dr. Michael Richter, als ihn der DVBS als selbst blinden Anwalt 2002 mit der sozial- und verwaltungsrechtlichen Vertretung seiner Mitglieder beauftragte; wohl gemerkt, nur in Fällen, die in Zusammenhang mit ihrer Behinderung stehen. Heute sind es hunderte.
Bereits der erste hauptamtliche DVBS-Geschäftsführer war Jurist und so lag es nahe, rechtliche Beratung für blinde und sehbehinderte Menschen anzubieten. Für Mitglieder klagte man exemplarisch manch einen Hilfeanspruch durch. Später übernahm ein renommierter Sozialrechtsexperte als Anwalt diese Aufgaben von München aus. Von ihm übernahm Michael Richter besagte 16 Fälle. Fortan fanden in der DVBS-Geschäftsstelle regelmäßige Sprechzeiten statt. Das führte zu immer häufigeren Anfragen. 2004 explodierten sie regelrecht. 50, 100, 150 Verfahren kamen jährlich hinzu. Mit Verwaltungspersonal, Praktikanten, einer Rechtsreferendarin, kooperierenden Anwälten und Aufgabenumverteilungen innerhalb der Geschäftsleitung versuchten wir der steigenden Nachfrage Herr zu werden. 2008 zogen wir die Notbremse. Gemeinsam mit dem Verband der bundesweit 20 Landesblinden- und Sehbehindertenvereine, die zusammen 35.000 Mitglieder repräsentieren, entschlossen wir uns zur Gründung einer gemeinsamen Gesellschaft. 2009 ging die rbm gemeinnützige GmbH an den Start.

„Nein, die Blinden und Sehbehinderten dieses Landes sind kein Volk von Klagewütigen“, sagt der Geschäftsführer Michael Richter. Er erklärt: „Meist geht es bei uns um staatliche Hilfen für unsere Klienten. An den Gesetzen hat sich hier nicht viel geändert, an der Rechtsauslegung der neun sozialrechtlichen Kostenträger leider aber durchaus.“ Bei vielen Gesetzeswerken der letzten Jahre sind die sozialen Belange Behinderter nicht berücksichtigt worden, was zum Beispiel bei der Hochschulreform zu einigen Problemen führte. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber in der Behindertenpolitik Bahnbrechendes geleistet. Richtschnur staatlichen Handelns ist heute nicht mehr die Fürsorge, sondern die gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen am Leben in der Gesellschaft. Die hierzu erlassenen Gesetze bedürfen der Konkretisierung durch die Gerichte.
…und wieder klingelt das Telefon. Jemand fragt, bei welcher Stelle er seinen Antrag auf Finanzierung eines Farberkennungsgerätes stellen kann. Die Arbeit dürfte Richter und seinem Team aus selbst behinderten Juristen und sehenden Helferinnen sobald nicht ausgehen. Dass er sie heute professionell und als Integrationsbetrieb, der Menschen für den ersten Arbeitsmarkt vorbereitet, leisten kann, verdanken wir nicht zuletzt der Hilfe durch unsere Gemeinschaftsstiftung.

Die politische Arbeit im DVBS: Von der bloßen Fürsorge zur selbstbestimmten Teilhabe

Die Aufklärungsarbeit des DVBS für die Belange blinder und sehbehinderter Menschen bei Personen in politischer Verantwortung und in der Öffentlichkeit nahm in den letzten Jahren einen außerordentlich breiten Raum in der Verbandstätigkeit ein. Die vielfältigen Aufgaben auf zumeist Länder- und/oder Bundesebene konnten nur in enger Verbindung eines sehr intensiven ehrenamtlichen Engagements mit hauptamtlicher Unterstützung bewältigt werden. Unsere Gemeinschaftsstiftung hat diese Arbeit stets begleitet und unterstützt.

Im „Arbeitskreis Nachteilsausgleiche (AKN)“ versammelte der DVBS in den 90er Jahren Rechts- und PR-Fachleute aus seinen Reihen. Das Gremium blickt in diesem Bericht auf die erfolgreiche Arbeit seit seinem Bestehen zurück: Ende der neunziger Jahre standen die Bemühungen um die Einführung eines Rechtsanspruches auf Arbeitsassistenz für schwerbehinderte Menschen im Vordergrund, die im Jahre 2000 mit der Aufnahme eines solchen Anspruches in das Schwerbehindertengesetz ihren Abschluss fanden. Bis Mitte 2001 wurde dann von Vereinsseite die Einführung eines Sozialgesetzbuches (SGB) IX - und damit die Vollziehung des Paradigmenwechsels von einem Fürsorgeverständnis zum Anspruch auf eine selbstständige Teilhabe behinderter Menschen am Leben in der Gesellschaft - intensiv fachlich begleitet. Der Kampf um notwendige Verbesserungen dieses Gesetzes sowie die Einforderung von Nachbesserungen im Rahmen der Einführung des SGB II (sog. Hartz-Reformen) bildeten die Arbeitsschwerpunkte in den Folgejahren bis mindestens 2008. Gleichzeitig wurde sehr intensiv an der Einführung eines Bundesbehindertengleichstellungsgesetzes sowie gleichartiger Landesgesetze mitgearbeitet. 
Sehr arbeitsaufwendig war die Mitarbeit an der äußerst schwierigen und umstrittenen Umsetzung eines Bundesgesetzes für den zivilen Diskriminierungsschutz und die adäquate Berücksichtigung der Belange behinderter Menschen in einem solchen Gesetz, das endlich in Gestalt des „Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG)“ 2006 in Kraft trat.

An der Schwelle zum zweiten Jahrzehnt dieses Jahrtausends bindet die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention mit ihren weitreichenden Forderungen wiederum erhebliche Ressourcen.

Neben der Behandlung dieser „großen Themen“ wurde immer auch an Grundsatzfragen der Behindertenpolitik gearbeitet. So entstanden beispielsweise ein Vorschlag für ein Bundesbehindertenteilhabegesetz sowie eine „Marburger Erklärung“ mit grundsätzlichen Forderungen inkl. umfassender Erläuterungen in einem sog. "Wegweiser Sozialpolitik". All diese Aktivitäten führten zu einer, im Verhältnis zu seiner vergleichsweise geringen Mitgliederzahl, weit überdurchschnittlichen Wahrnehmung des DVBS in der Politik, die nicht zuletzt dadurch Bestätigung gefunden hat, dass inzwischen fünf der 16 Landesbehindertenbeauftragten DVBS-Mitglieder sind.

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