Einblick in den Lebensalltag Blinder und Sehbehinderter in Studium und Beruf

Natürlich kostet mich das Studieren und Lernen mehr Zeit

Was ich anders mache, als andere, normal sehende Studenten? Das Erste sind die Kontaktlinsen, die setze ich schon ein, wenn ich noch im Bett liege, denn sonst sehe ich nix. Dann geht es „normal“ weiter: Anziehen, frühstücken, zur Bushaltestelle laufen und – hoffentlich! - den richtigen Bus zur Uni erwischen. Denn die Anzeige oder die Busnummer kann ich von der Haltestelle aus nicht erkennen. Meine Sehbehinderung ist vielfältig. Grob zusammengefasst könnte man sagen, mein linkes Auge ist blind, das rechte hatte einen Grauen Star, hat jetzt einen grünen Star (Glaukom) und meine Sehkraft schwankt durch immer wiederkehrende Entzündungen stark.
Mein Wunschstudium Biologie musste ich leider abbrechen, da gab es einfach zu viele Barrieren. Beim Mikroskopieren zum Beispiel fand sich überhaupt keine adäquate Lösung. Aber hier in der Pädagogik schaffe ich es und das sogar in der Regelzeit! Die meisten Prüfungen erfolgen mündlich oder auf Basis einer Semesterarbeit, bei den Vorlesungen und Seminaren höre ich hauptsächlich zu und die Präsentationen schaue ich mir dann am Computer zuhause an. Während der Vorlesungen kann ich zwar die Bilder und Grafiken in den Präsentationen meist erkennen, aber Text gar nicht. Auch wenn ich ganz vorn sitze. Da muss ich mich auf mein Gehör verlassen und auf das, was meine Nachbarn mir zu den Präsentationsfolien schnell zuflüstern können. Viele Professorinnen und Professoren stellen ihre Präsentationen nach der Vorlesung für alle ins Netz und mit anderen habe ich mich so abgesprochen, dass sie mir per E-Mail die wichtigsten Dinge zukommen lassen. Aber natürlich kostet das Studieren und Lernen so mehr Zeit.

Am Anfang musste ich mich ziemlich durchschlagen. Da war ich auf die Lupenbrille angewiesen und auf die Mitschriften meiner Kommilitonen. Obwohl bereits im Vorfeld beantragt, wurden mir technische Hilfsmittel wie Buchscanner, Laptop und großer Monitor zunächst verweigert. Um nur mal ein Beispiel zu nennen: Wenn ich einen Text lese, dann schaffe ich mit der Lupenbrille ungefähr drei Seiten pro Stunde. Mit einem Vorlesegerät komme ich auf sechs bis sieben. Mit einem geschlossenen Lesesystem mit Sprachausgabe schafft man in der gleichen Zeit 15 bis 20 Seiten. Aber auf die Ablehnung vom zuständigen Amt folgte die Ablehnung der Krankenkasse und auf meine Einsprüche nach Wochen Erwiderungen. Ein schier ewiges Hin und Her, trotz anwaltlicher Hilfe. Drei Jahre um genau zu sein. Erst jetzt, wo ich an der Bachelor-Arbeit sitze, bin ich mit Laptop und Vergrößerungssoftware wie „ZoomText“ hinreichend ausgestattet.
In der Uni-Bibliothek bin ich darauf angewiesen, Zeitschriften und Bücher auszuleihen, denn zum Arbeiten brauche ich sehr gute Lichtverhältnisse und im Lesesaal reicht das Licht nicht aus. Aber auch da habe ich keine Sonderrechte. Und so muss man sich vergleichsweise sehr, sehr gut organisieren. Finanziell bin ich definitiv eingeschränkter als meine Kommilitoninnen und Kommilitonen. Das reicht von der Wohnung, die ein bisschen teurer ist, weil sie in Uni-Nähe liegt und die Bushaltestelle gleich um die Ecke hat, über die vielen, vielen Kopien, die ich mir in der Uni-Bibliothek von Literaturquellen machen muss, die man eben nicht ausleihen kann, bis hin zu den Studentenjobs, die mir als Einnahmequelle leider verwehrt sind, weil ich zum Beispiel beim Servieren in einer Kneipe die Abrechnungsbelege nicht erkennen könnte. Es ist wirklich sehr schade, dass es keine speziellen Stipendien gibt, auf die man sich bewerben könnte…
Pädagogikstudentin im 6. Semester

Eigentlich kann ich mich nicht beschweren...

Ich lebe im Ruhrgebiet, arbeite seit 2005 selbstständig als technischer Berater für barrierefreies Webdesign, schreibe Fachbücher, bin verheiratet und im letzten Jahr wurde meine Tochter geboren. Morgens weckt mich mein sprechender Wecker: Aufstehen! Frühstück machen! In der Küche sind die modernen, intelligenten Küchengeräte leider tabu. Denn elektronische Anzeigen lassen sich taktil nicht unterscheiden. Dabei müsste es so leicht sein, solche Displays mit einer Sprachausgabe zu kombinieren…
Danach geht es mit dem Bus ins Büro, die Haltestelle ist gleich vor der Haustür. Die neuen Elektrobusse kann man schlecht hören, dafür ist die Haltestellenansage mit einem GPS verknüpft und erfolgt automatisch und immer an der gleichen Stelle. Dann raus aus dem Bus und über zwei Straßen, eigentlich ist es nicht schwer, die Ampeln piepen und vibrieren. Jedoch sind sie schlecht eingestellt; um die Signale klar zu hören, müsste man in die Knie gehen. Aber wirklich dumm ist, dass sie ab 22 Uhr ausgeschaltet sind. Wenn ich also ab und an länger arbeiten muss, wird es kompliziert und gefährlich.
Im Büro angekommen, höre ich den Anrufbeantworter ab. Die Telefonanlage der Bürogemeinschaft stellt ähnliche Hürden dar wie die Küchengeräte zuhause: Das Display nutzt mir nichts, ich sehe nicht, wer anruft, kann selbst auch kaum Einstellungen vornehmen. Meine Arbeit sieht so aus, dass ich per Computer und Internet Datenbanken betreue und verwalte, riesige Tabellen also, die Informationen in Zeilen und Spalten aufführen. Die Sprachausgabe liest mir das aus. Ob männlich tief, weiblich charmant oder synthetisch prägnant, die Stimme kann ich wählen. Aber er denkt ja nicht mit. Wenn ich die Sprachausgabe wirklich Spalte für Spalte auslesen ließe, um die Information zu finden, die sich dann zum Beispiel irgendwo zwischen Zeile 151 und 456 befindet, dann kostet mich das so viel Zeit, dass ich am Markt nicht mehr wettbewerbsfähig wäre. Punktschrift habe ich als Späterblindeter zwar gelernt und nutze diese auch zur Markierung, mein Lesetempo ist für den Arbeitsalltag aber zu gering, so dass hauptsächlich die Sprachausgabe zum Einsatz kommt.

Ja, ich habe Anspruch auf Arbeitsassistenz. Also kommt an zwei oder drei Vormittagen jemand, der mich bei meiner Tätigkeit unterstützt. Doch da gibt es am Anfang meist ein Riesenmissverständnis, denn was ich brauche ist keine Hilfe, sondern schlichtweg Information. Jemand, der auf den ersten Blick sieht, dass die gesuchte Sache in Zeile 400 steht, der mir die fehlenden Augen ersetzt. Der auch erkennt, was mir durchgeht. Wenn also die Arbeitsassistenz wechselt – so wie jetzt -, dann muss ich mein Geschäft für etwa drei Monate zurückfahren, muss einweisen, schulen, erklären. Das kostet so viel Zeit, dass dann leider auch die Umsätze runter sacken. Um an das normale Arbeitspensum heranzukommen, muss ich drauflegen. Warum gibt es kein Standard-Training für Assistentenanwärter…?

In der Freizeit ist meine kleine Tochter natürlich der Mittelpunkt. Aber ich höre auch ausgiebig Bücher, koche gerne für Freunde und mache regelmäßig Sport. Die Leute in dem Fitness-Studio sind nett, kennen mich. Da gehe ich aufs Laufband oder setze mich aufs Fahrrad. Trete so richtig in die Pedalen, um mich körperlich fit zu halten: Und da ist es wieder! Das Problem mit dem Display. Wo es für Sehende Informationen über die Geschwindigkeit, Energie­verbrauch, Zeit, Schwierigkeitsgrad etc. gibt, da fühle ich nur Glas. Lautsprecher, ein bisschen Software – eigentlich müsste das ganz einfach zu lösen sein…
Jan Eric Hellbusch, IT-Berater und Autor

Manchmal habe ich das Gefühl, ich sei allein auf weiter Flur

Für jemanden wie mich, der es geliebt hat autark zu leben, ist es schwer zu akzeptieren, dass man nun hier und da Hilfe braucht. Bis auf die Nachtblindheit ging es ja lange Zeit gut. Heute weiß ich zwar nicht mehr, woher ich in meinen jungen Jahren den Optimismus genommen habe, den Lehrerberuf zu ergreifen. Aber ich habe es geschafft und ein Jahr sogar im Ausland studiert. Später kam mir die Technik zu Hilfe: Als eine der ersten Lehrerinnen nutzte ich den PC für die Arbeit, und für den Russischunterricht hatte ich mir ein spezielles Programm beschafft, mit dem ich sogar in der kyrillischen Schrift schreiben konnte. Heute bleibt der Bildschirm am PC aus. Denn dann wurden die Augen immer schlechter und die Filzstifte für die Markierung der Hefte und Akten von Mal zu Mal dicker. Die Blindenschrift habe ich mir selbst beigebracht. Wenn in nächtlichen Stunden der Schlaf ausblieb, die Zeit sich zog und Zukunftsängste aus den Laken krochen, dann lernte ich Braille: Erst die Vollschrift, später auch die Kurzschrift. Wenn man das nicht schon als Kind gelernt hat, dann erfordert sie nämlich enorm viel Konzentration, diese Kommunikation von den Fingerspitzen bis zum Kopf. Nach einer halben Stunde bin ich dann wieder herrlich eingeschlafen. 
Seit ich die Suche nach der Wundertherapie für mich abgeschlossen habe, sind die Dinge wieder im Fluss: Ich stehe morgens auf, mache Frühstück, lese die Zeitung am PC, schreibe E-Mails, engagiere mich in mehreren Vereinen, im Behindertenarbeitskreis der Stadt und in der Arbeitsgruppe für Mobilitätshilfen. Für die Erledigung bürokratischer Dinge habe ich inzwischen einen vertrauenswürdigen Dienstleister gefunden, meine regelmäßigen Waldspaziergänge unternehme ich meist mit einem netten Ehepaar aus der Nachbarschaft. Und als die Stadträte bei der Neugestaltung des Stadtzentrums einer Ästhetik den Vorzug gegenüber der Barrierefreiheit gaben, da habe ich ein neues Orientierungstraining gemacht und finde mich jetzt wieder besser zurecht. 
Doch den Möglichkeiten sind Grenzen gesetzt, denn all das kostet nicht nur Geld, sondern auch Nerven. Wenn der Screenreader einen deutschen Text  plötzlich in Englisch, Französisch oder Italienisch vorliest, weil Programmversionen nicht kompatibel sind, wenn die Stadträte kein Ohr für Barrierefreiheit erübrigen, wenn für die Kinos, Museen und Theater vor Ort Audiodeskription und Audioguides Fremdworte bleiben, fühle ich mich blockiert. Manchmal habe ich dann das Gefühl, ich sei allein auf weiter Flur, und das Mithalten wird mir unmöglich gemacht. Genau deshalb sind zum Beispiel die DVBS-Seniorenseminare so wichtig. Denn gemeinsam Neues zu lernen macht Spaß und tut einfach gut, dazu kommt der Austausch mit anderen. Nach dem Gespräch mit einem DVBS-Mitglied habe ich zum Beispiel angefangen Klavier zu spielen, was mich herrlich entspannt. Mit dem Erlernen der Blindennotenschrift bin ich noch am Anfang. Es dauert wohl noch, bis ich den Durchblick habe. Vorerst muss ich vor allem mein Gehör einsetzen. Und da eignet sich der DAISY-Player ganz hervorragend, um sich selbst zu kontrollieren und abzuhören. 
Für 70 % aller Blinden und Sehbehinderten hat sich - statistisch gesehen - der Sehsinn erst im Alter von 65 Jahren reduziert. Ihnen droht im Rentenalter ein zweifaches Handicap. Zum einen müssen sie gegen gesellschaftliche Tendenzen, als Ergraute ins Abseits geschoben zu werden, angehen. Zum anderen zwingt der Sehverlust dazu, sich neue Techniken anzueignen, um sich informieren und orientieren zu können.
Gertrud Herold, Lehrerin i. R., spät erblindet durch Retinopathia Pigmentosa (RP)

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